Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Theorie des Antisemitismus Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020.

Kurze oder zu lange Geschichte des Antisemitismus? Ein Überblick über 2500 Jahre Judenfeindschaft mit Bezügen zur gegenwärtigen Debatte um «neuen Antisemitismus», Israel und BDS.

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Autor

Peter Ullrich,

Peter Schäfer, emeritierter Judaist und langjähriger Leiter des Jüdischen Museums Berlin, legt mit der «Kurzen Geschichte des Antisemitismus» einen populärwissenschaftlichen Überblick zur Geschichte der Judenfeindschaft vor, der mit 340 Seiten so kurz gar nicht ist, auch weil er einen Zeitraum von etwa 2500 Jahren umfasst. Der Zielgruppe und gemäß dem Zweck des Sachbuchs, das kein eigener Forschungsbeitrag sein soll (S. 15), kommt der Text mit wenig Literaturverweisen und Fußnoten aus. Allerdings positioniert sich Schäfer, teils eher en passant, in einigen Streitfragen der Antisemitismusforschung, was eine genauere Beschäftigung mit dem Buch lohnenswert erscheinen lässt.

Die stärkste Setzung erfolgt gleich zu Beginn. Peter Schäfer vertritt einen zeitlich sehr umfassenden Antisemitismusbegriff «für alle ausgeprägten Formen von Judenhass und Judenfeindschaft von den Anfängen bis zur Gegenwart und im vollen Bewusstsein, dass er anachronistisch ist» (S. 9). Diese Anfänge macht er im antiken (hellenistischen) Ägypten aus und explizit nicht erst im aufkeimenden Antijudaismus des Christentums. Damit stellt er sich gegen Auffassungen, die Antisemitismus als genuin modernes Phänomen betrachten, das im 19. Jahrhundert entsteht und das an den Antijudaismus nur anschließt, diesen also als christliche Keimzelle des Antisemitismus begreift.

Damit ist Antisemitismus bei Schäfer ein sehr weiter «Container-Begriff», der Phänomene zusammenfasst, die starken Wandlungen unterliegen, oder, so Schäfer, «ein variables, vielschichtiges und offenes System, das sich im Laufe seiner Geschichte ständig mit neuen Facetten anreichert und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen immer wieder neu erfindet». Eine feste Definition des Begriffs hält er nicht für zielführend. Ganz in geschichtswissenschaftlicher Perspektive wendet er sich gegen die seiner Ansicht nach dominierenden theoretischen Modelle essenzialistischer beziehungsweise funktionalistischer Antisemitismusverständnisse. Das ist wenig überzeugend, weil es insbesondere die sozialwissenschaftlichen Antisemitismusbegriffe viel zu schematisch und binär sortiert, noch dazu in Terminologie, die sich eher auf Theorien zur Erklärung des Holocaust als auf Antisemitismus generell beziehen.[1] Zugleich macht Schäfer selbst ein essenzialisierendes Argument, indem er einen Kern der Judenfeindschaft ausmacht: die argwöhnische, von Konkurrenzdenken angetriebene und gelegentlich in Feindschaft umschlagende Betrachtung des jüdischen Beharrens auf Besonderheiten als Gemeinschaft und Minderheit (S. 23).

Die Darstellung ist im Wesentlichen chronologisch und konzentriert sich im Zeitverlauf zunehmend auf Europa und für die Zeitgeschichte und die Gegenwart auf Deutschland. Behandelt werden nach der Antike das Neue Testament, die christliche Spätantike, der Islam, das christliche Mittelalter, die frühe Neuzeit mit dem aufkommenden protestantischen Antisemitismus aber auch Formen des Philosemitismus, die Zeit von Aufklärung, Emanzipation und Nationalismus und schließlich die Zeit von den Weltkriegen bis zur Gegenwart.

Die Schilderungen sind gut verständlich und materialreich mit Beispielen veranschaulicht. Auffällig ist die – auch programmatisch von Schäfer betonte – dezidierte Fokussierung auf die religiöse Dimension des Antisemitismus; andere Perspektiven kommen da immer wieder zu kurz. Und immer wieder bezieht Schäfer dezidiert Position in wissenschaftlichen Kontroversen, so wenn er Luthers Judenhass analysiert. Er führt diesen nicht, wie es häufig geschieht, auf dessen Enttäuschung darüber zurück, dass seine Reformation die Juden nicht zum Christentum treibt, sondern analysiert ihn überzeugend als zwingenden Ausdruck der Luther‘schen Theologie.

Am wenigsten überzeugen in Schäfers Darstellung die Abschnitte, die kaum seine eigentlichen Interessensgebiete tangieren also jene Zeitabschnitte, in denen die Bedeutung von Religion für das Verständnis von Antisemitismus geringer ist, mithin die Gegenwartsphänomene, zu denen sozialwissenschaftliche Expertise einiges mehr noch hätte beisteuern können. Zu vielen aktuellen Streitfragen äußerst sich Schäfer dabei salomonisch, aber am Ende auch etwas ungreifbar: Der Antisemitismus ist, insbesondere im Nationalsozialismus, rassistisch – aber doch ist Antisemitismus nicht mit Rassismus gleichzusetzen. Man solle die Shoah nicht als «das Böse» oder Zivilisationsbruch hypostasieren, aber auch nicht nur als «Banalität des Bösen» deuten oder die Zivilisationsbruchthematik einfach wegwischen. Auch solle man Genozide unbedingt vergleichen, aber die Shoah sei doch singulär.

Interessant ist, wie wenig man bei allem erfolgreichen Bemühen um Ausgewogenheit und Metakritik der aktuellen Antisemitismusdebatten in den Abschnitten zu «Israelkritik» und zur BDS-Bewegung lernt. Es ist interessant, weil Schäfer selbst nicht zuletzt wegen eines Tweets der Presseabteilung des Jüdischen Museums Berlin unter seiner Leitung zum Thema BDS nach großem politischem Druck seinen Hut nehmen musste. Die ihm unterstellte Nähe zu radikaler Kritik an Israel oder gar der Bewegung «Boycott, Divestment, Sanctions» (BDS) lässt sich allerdings kaum aufrechterhalten. Schäfer distanziert sich einerseits klar von weltbildhaftem Antizionismus, der Teil des Antisemitismus sei. Andererseits ist ihm diese Debatte und ihr politischer Gehalt schlicht kein wesentliches Anliegen; entsprechend grober ist die Argumentation, was auch zu Obskuritäten wie der immer wiederkehrenden Formulierung «der BDS» führt. Deutlich verwahrt sich Schäfer aber gegen eine homogenisierende Darstellung von BDS als antisemitisch aufgrund vager Assoziationen mit dem Judenboykott der Nazis.

In diesen Abschnitten zeigt sich auch der Preis des Verzichts auf einen spezifischeren Begriff von Antisemitismus, der es erlauben würde, ihn von anderen, mehr oder weniger verwandten oder verflochtenen Phänomenen zu unterscheiden. Das Verhältnis von Antisemitismus und «Israelkritik» wird dabei tendenziell als eindimensionales Kontinuum dargestellt, auf dem das Überschreiten bestimmter Linien das eine in das andere umschlagen lasse. Letztes und entscheidendes Kriterium sei die Anerkennung (oder auch nicht) des israelischen Existenzrechts. In einem solchen Kontinuum verschwindet aber die Komplexität, d. h. insbesondere Mehrdimensionalität der behandelten Gegenstände, also des Realkonflikts und seiner Deutungen und ideologischen Aufladungen, die neben Antisemitismus auch Rassismus, Ethnozentrismus, Nationalismus und vieles mehr beinhalten.

Trotz dieser Monita in Bezug auf die – ohnehin rasend schnell fortgeführten gegenwärtigen Debatten – ist das Buch zum Einstieg, aber auch an vielen Stellen zur Vertiefung empfehlenswert.
 


[1] Zu zentralen Antisemitismuskonzeptionen vgl. beispielsweise Holz, Klaus. 2001. Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Edition, S. 49 ff.
 


Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020: C.H.Beck (335 S., 26,95 €).