Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte Olaf Kistenmacher: Arbeit und «jüdisches Kapital», Bremen 2016.

Kistenmacher möchte um jeden Preis nachweisen, dass sich die KPD antisemitischer Argumentationsmuster bediente. «Arbeit und <jüdisches Kapital>» basiert auf der akribischen und verdienstvollen Durchsicht von fünfzehn Jahrgängen der «Roten Fahne».

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Marcel Bois,

Keine andere politische Gruppierung wurde so gnadenlos von den Nationalsozialisten verfolgt wie die Kommunistische Partei Deutschlands. Bereits im März 1933, noch vor allen anderen Parteien, verboten die neuen Machthaber die KPD. Etwa 150.000 Kommunistinnen und Kommunisten sollten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verhaftet, 20.000 ermordet werden.

Dies kam nicht von ungefähr, entsprach die KPD doch vermeintlich dem nationalsozialistischen Feindbild vom «jüdischen Bolschewismus». Hervorgegangen war sie aus der Vorkriegssozialdemokratie und damit aus einer Partei, die sich als entschiedene Gegnerin des Antisemitismus hervorgetan hatte. Zudem standen im Verlauf der Weimarer Republik zahlreiche Personen jüdischer Herkunft an der Spitze der KPD. Zu nennen sind hier beispielsweise Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Paul Levi, August Thalheimer, Arkadi Maslow, Ruth Fischer und Werner Scholem.[1] Prominente Juden wie Ernst Bloch, Hanns Eisler und Egon Erwin Kisch bewegten sich in ihrem Umfeld.

Angesichts dessen erscheinen die Thesen, die der Hamburger Historiker Olaf Kistenmacher vertritt, durchaus provokant. Seine im Jahr 2010 an der Universität Bremen eingereichte Dissertationsschrift ist nun als Buch erschienen. Darin postuliert er, die KPD-Presse habe Ansichten verbreitet, die man als antisemitisch bezeichnen müsse. Dies sei keineswegs nur gelegentlich passiert, sondern kontinuierlich: Für «alle Perioden der Weimarer Republik» (S. 313) ließen sich entsprechende Aussagen in der Tageszeitung «Rote Fahne» nachweisen. Da es sich bei dem Blatt um das Zentralorgan der Partei handelte, seien solche Positionen zweifellos «Teil der offiziellen Politik» der Kommunisten geworden (S. 13).

Kistenmacher ist sich bewusst, dass er mit seinem Buch gegen die gesamte bisherige KPD-Forschung anschreibt. So räumt er ein, diese sei zu dem «einhelligen Ergebnis» gelangt, «dass die KPD keine antisemitische Partei war», der Antisemitismus «kein expliziter Bestandteil des Parteiprogramms» gewesen sei (S. 20). Dem versucht er jedoch den Befund entgegenzuhalten, in der Berichterstattung der «Roten Fahne» würden sich «strukturelle Affinitäten» zum antisemitischen Weltbild nachweisen lassen. Dabei handele es sich um «einzelne Bestandteile des modernen Antisemitismus» sowie um «Versatzstücke der antisemitischen Weltanschauung» (S. 18). Daher habe am Anfang seiner Untersuchung die Frage gestanden, «inwieweit die Rote Fahne judenfeindliche Vorstellungen (re-)produzierte und so, ob von der Redaktion oder der Parteiführung gewollt oder nicht, dazu beitrug, antisemitische Vorstellungen zu bestätigen» (S. 29). Zudem wollte Kistenmacher untersuchen, ob die «Rote Fahne» diese Denkweisen in die eigene Gesellschaftskritik integrierte. Ziel seiner Analyse sei es gewesen, «den <produktiven> Moment, den Umschlagspunkt darzustellen, an dem sich aus der unreflektierten Übernahme antisemitischer Ausdrücke etwas eigenes entwickelte, das man als Ansätze eines Antisemitismus von links bezeichnen könnte» (S. 37).

Um es vorwegzunehmen: Kistenmachers Argumentation weiß nicht zu überzeugen. Dabei ist die Frage durchaus gerechtfertigt, ob sich antisemitische Aussagen in der kommunistischen Presse fanden. Denn tatsächlich gab es Phasen in der Geschichte der KPD, in denen die Partei zumindest ein sehr fragwürdiges Verhältnis zu Nationalismus, Antisemitismus und den entsprechenden politischen Bewegungen hatte. Ein Beispiel hierfür ist etwa der sogenannte Schlageter-Kurs im Sommer 1923. Benannt ist dieser nach dem rechtsextremen Freikorpssoldaten Albert Leo Schlageter, der während der französisch-belgischen Ruhrbesetzung mehrere Sprengstoffanschläge gegen die Besatzer durchgeführt hatte und deswegen von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde. Es war die Zeit von Krise, Hyperinflation und enormer gesellschaftlicher Polarisierung. Die KPD witterte ihre Chance, doch noch eine erfolgreiche Revolution durchzuführen, den «deutschen Oktober». In diesem Kontext startete sie den Versuch, die völkische Bewegung zu spalten, indem sie Diskussionsveranstaltungen mit einzelnen Vertretern durchführte, sich teilweise deren Sprache bediente und den hingerichteten Schlageter als «mutigen Soldaten der Konterrevolution» portraitierte. Nach nur wenigen Wochen gab sie diesen Kurs wieder auf. Ein weiteres Beispiel bieten die frühen 1930er Jahre. Hier entwickelte die KPD ein mehr als fragwürdiges Verhältnis zum Nationalismus, wie es im «Programm zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volks» zum Ausdruck kam.[2] Zudem unterstützte sie zu dieser Zeit einen von Deutschnationalen und Nationalsozialisten initiierten Volksentscheid gegen die sozialdemokratisch geführte preußische Landesregierung. Außerdem nahmen in der Sowjetunion als dem Land, an dem sich die KPD orientierte, in der Periode des Stalinismus antisemitische Stimmungen stark zu.

Die Geschichtswissenschaft hat diese Prozesse bereits untersucht, sie zumeist in die Historie der kommunistischen Bewegung eingeordnet und gerade die Entwicklungen in den 1930er Jahren als Ausdruck der Stalinisierung der KPD gewertet.[3] Nichtsdestotrotz wären hier durchaus noch Differenzierungen möglich, ebenso wie genauere quellengesättigte Analysen einzelner Ereignisse.[4] Doch das leistet Kistenmachers Buch nicht. Es ist auch gar nicht sein Anspruch. Vielmehr möchte er – so zumindest der Lektüreeindruck – um jeden Preis nachweisen, dass sich die KPD antisemitischer Argumentationsmuster bediente.

Um seiner Beweisführung nachzugehen, hat Kistenmacher sein Buch in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten, umfangreichsten unternimmt er eine an Michel Foucault angelehnte Diskursanalyse. Dabei untersucht er die Berichterstattung in der «Rote Fahne» während der Jahre der Weimarer Republik auf mögliche antisemitische Formulierungen und Darstellungen. Der Forschung folgend unterscheidet er die nachrevolutionäre Epoche (1918-1923), die Phase der Stabilisierung (1924-1928) und die letzten Jahre der Weimarer Republik (1929-1933), die für Kistenmacher vor allem von der Auseinandersetzung mit der NSDAP geprägt waren. Einen wesentlichen Bruch markiert für ihn der Schlageter-Kurs vom Sommer 1923. Doch anders als die bisherige Forschung meint er, die Positionen, welche die KPD hier vertreten habe, seien keineswegs neu gewesen. Vielmehr habe die Partei an «Motive anknüpfen [können], die bereits zuvor vorhanden waren», zum einen eine positive Bezugnahme auf die Nation, zum anderen ein «personifizierter Antikapitalismus». Die Partei habe sich vorgestellt, «die kapitalistischen Machtverhältnisse dadurch überwinden zu können […], dass die Gesellschaft von den Kapitalisten, Nutznießern und <Parasiten> befreit würde» (S. 95). Dieser «strukturelle Antisemitismus» fände sich bis zum Ende der Weimarer Republik. Und mehr noch: Die «Rote Fahne» sei bei «der Übernahme einiger antisemitischer Vorstellungen […] selber nicht unproduktiv» geblieben. «Sie integrierte diese Stereotype in die eigene Gesellschaftskritik und bildete dabei eine spezifische Form der Judenfeindschaft heraus» (S. 322).

An diesen Befund anschließend analysiert Kistenmacher im zweiten Teil seines Buches die Intellektuellenfeindschaft, die Mitte der 1920er Jahre innerhalb der KPD einsetzte. Völlig zu Recht verweist er hier auf die Widersprüchlichkeit in der Haltung der Parteiführung. Denn diese habe ignoriert, «dass die kommunistische Bewegung maßgeblich von Theorien, von Akademikerinnen und Akademikern geprägt war» (S. 218). Zudem habe die marxistische Linke selbst stets die gesellschaftliche Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit kritisiert. Dementsprechend stellt Kistenmacher fest, dass die Angriffe auf Intellektuelle vorrangig ein Mittel der Parteiführung gewesen seien, innerparteiliche Kontrahenten vom linken Flügel wie Ruth Fischer oder Karl Korsch zu stigmatisieren. Keineswegs könne man dies von dem «umfassenden Prozess der Stalinisierung» trennen. Doch zugleich weise «das Feindbild <Intellektuelle> zahlreiche Übereinstimmungen mit geläufigen antisemitischen Vorstellungen» auf: «<Intellektuelle> galten als unproduktiv, kleinbürgerlich und mit einer negativen Macht ausgestattet, andere Menschen gegen ihren Willen zu beeinflussen» (S. 246).

Im dritten Teil seiner Arbeit untersucht Kistenmacher die Haltung der Kommunistischen Partei zum Zionismus. Die KPD lehnte die jüdische Nationalbewegung ab, handelte es sich doch aus ihrer Sicht um einen Verbündeten des englischen Imperialismus. Doch hätten sich, so Kistenmacher weiter, in ihre Kritik zunehmend auch antisemitische Argumentationsweisen eingeschlichen. So habe die „Rote Fahne“ beispielsweise ab Ende der 1920er Jahre nicht mehr zwischen «zionistisch» und «jüdisch» unterschieden. Nicht zuletzt weise die antizionistische Haltung der KPD viele Parallelen zu dem auf, was heute als «antizionistischer Antisemitismus» bezeichnet werde (S. 281). Hier zeige sich am deutlichsten, wie sehr die Analyse der «Roten Fahne» eine «Geschichte der Gegenwart» (Focault) sei: «Denn die Position, die die KPD in den 1920er und Anfang der 1930er entwickelte, nahm zentrale Elemente des antizionistischen Antisemitismus vorweg, der nach 1945 zu einem festen ideologischen Element des Marxismus-Leninismus wurde» (S. 319).

«Arbeit und <jüdisches Kapital>» basiert auf der akribischen und verdienstvollen Durchsicht von fünfzehn Jahrgängen der «Roten Fahne». Wer die Prosa kommunistischer Zeitungen kennt, kann ungefähr einschätzen, was Kistenmacher hier auf sich genommen hat. Nicht von ungefähr merkte der Kominternfunktionär Ossip Pjatnizki einmal an, die KPD-Presse sei «sehr langweilig», niemand außerhalb der Partei wolle sie kaufen.[5] Tatsächlich erreichte die «Rote Fahne» in den Jahren der Weimarer Republik zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd so viele Leserinnen und Leser, wie die Partei Mitglieder hatte.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum Kistenmacher seine Auswertung auf das Parteiorgan beschränkte. Schließlich räumt er selbst ein, dass dessen Auflagenzahlen vergleichsweise niedrig blieben. Eine Antwort findet sich möglicherweise in der Methodik, die er verwendet. Es geht ihm gar nicht darum, herauszufinden, welche Außenwirkung der reale oder vermeintliche Antisemitismus der «Roten Fahne» hatte. Die eingangs zitierte Behauptung, er sei zur «offiziellen Politik» der KPD geworden, scheint Kistenmacher gar nicht überprüfen zu wollen. Vielmehr konzentriert er seine Untersuchung auf die «Ebene des geschriebenen Worts» (S. 12). Und selbst hier umfasst seine Analyse nicht den gesamten innerparteilichen Diskurs, sondern beschränkt sich eben größtenteils auf die Spalten der «Roten Fahne». Im Berliner Bundesarchiv befinden sich seit knapp zwei Jahrzehnten die umfangreichen Bestände des ehemaligen Zentralen Parteiarchivs der KPD. Ihre Auswertung hätte möglicherweise eine Reihe von Fragen beantworten können: Wurden die entsprechenden Berichte der Zeitung in den Parteigliederungen diskutiert? Gab es Zustimmung oder Kritik? Wie reagierte das Zentralkomitee darauf? Doch diese Quellen hat Kistenmacher für seine Diskursanalyse nicht eingesehen.

Ein Beispiel soll die Problematik seines Vorgehens verdeutlichen. Der Autor berichtet über die «Ostjudendebatte», die im November 1922 im Preußischen Landtag stattfand. Initiiert wurde diese von den Deutschnationalen, die über die vermeintliche «Ostjuden-Gefahr» diskutieren wollten. Es ging um die neue deutsch-polnische Grenze, die gesichert werden sollte, um die Einwanderung vor allem von jüdischen Migranten aus Osteuropa zu verhindern. Diese Debatte ist insofern sehr aufschlussreich, als sie zeigt, wie sich die frühe KPD mit dem Antisemitismus völkischer Kreise auseinandergesetzt hat – in diesem Fall der Abgeordnete Werner Scholem, der für die Partei ans Rednerpult trat. Folgt man Kistenmacher, der sich auf einen kurzen Bericht aus der «Roten Fahne» bezieht, dann war Scholems Argumentation «verwirrend». Mit seinem Redebeitrag habe er versucht, «die Stimmung gegen die <Ostjuden>, die mit diffusen Vorstellungen über den globalen Kapitalismus, verborgene Wirtschaftsströme und die ökonomische Macht der Bewohnerinnen und Bewohner des Scheunenviertels verbunden war, gegen die herrschende Klasse zu richten» (S. 58 f.). Wirft man anders als Kistenmacher jedoch einen Blick in die gedruckt vorliegenden Protokolle des Preußischen Landtags, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Werner Scholem war der einzige Redner, der den Antisemitismus der Deutschnationalen entschieden ablehnte und sich nicht auf entsprechende Argumentationsmuster einließ. Die Migranten bezeichnete er nicht als «Ostjuden», sondern als Proletarier. Zudem benannte er als einziger Redner den Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise und Fremdenfeindlichkeit. Vor allem zeigt sich in dieser Debatte noch ein weiterer Aspekt, den Kistenmacher nur am Rande benennt: Jüdische Kommunistinnen und Kommunisten selbst waren immer wieder, ebenso wie die KPD als Ganzes, Ziel der antisemitischen Polemiken von völkischer Seite.[6]

Ein weiteres Problem in Kistenmachers Argumentation ist die Art und Weise, wie er den Antisemitismus-Begriff verwendet. Trotz der Tatsache, dass die Diskussion darüber emotional sehr aufgeladenen ist und von Wissenschaftler*innen große Genauigkeit abverlangt, liefert er in seiner Einleitung leider keine genaue Definition. Allerdings wird bei der Lektüre deutlich, dass er den Begriff sehr weit fasst – nämlich so weit, wie es nötig ist, um seine Hauptthese zu belegen. So verdeutlicht er immer wieder, dass es ihm keinesfalls nur um rassistische Aussagen und Stereotype geht, die sich gegen das Judentum oder einzelne Repräsentanten richten, sondern auch um Argumentationsweisen, die sich zwar nicht ausdrücklich auf Juden beziehen, aber dem Antisemitismus von ihrer Begrifflichkeit und Argumentationsstruktur her vermeintlich ähneln – gewissermaßen «latente Formen antisemitischer Aussagen, die die Kritische Theorie als <Krypto-Antisemitismus> bezeichnet» (S. 99). Zudem schreibt er, dass er bei der Analyse «strukturelle Affinitäten» zwischen marxistischem Antikapitalismus und einem antisemitischen Weltbild aufzeigen wolle (S. 21). Seine Ausgangsbasis bilden «die kleinsten Einheiten des Diskurses, der Gebrauch von Ausdrücken wie <Judas>, <jüdisch>, <Zionismus> usw.» (S. 12).

Kistenmacher interessiert sich in diesem Zusammenhang nur am Rande dafür, welche ideologische Bedeutung bestimmten Begriffen innerhalb des KPD-Diskurses zukam. Trotzdem meint er, dass das, was die KPD unter «Jude» und «jüdisch» verstanden habe, «nicht eindeutig von rassistischen Zuschreibungen zu trennen» gewesen sei (S. 96). Doch selbst unbeschadet dessen: Die «Rote Fahne» müsse gar «keine eindeutig antisemitischen Aussagen bringen und keine voll entwickelte antisemitische Weltanschauung formulieren […], um auf den Diskurs des modernen Antisemitismus anzuspielen» (S. 50). Kistenmacher übernimmt also gewissermaßen selbst die Interpretationshoheit darüber, was antisemitisch sei. Gleichwohl muss er einräumen, dass es sich «nicht immer eindeutig» sagen lasse, «welche Aussagen zur Zeit der Weimarer Republik als judenfeindlich auffielen» (S. 322). Problematisch wird seine Herangehensweise vor allem, wenn es um den «strukturellen Antisemitismus» geht. Denn schon der positive Bezug der KPD auf den Begriff «Arbeit», die Verwendung der Bezeichnung «Finanzkapitalismus» oder auch eine personifizierte Kapitalismuskritik sind für Kistenmacher antisemitisch. Hier besteht nur noch ein schmaler Grat zwischen Analyse, Fehlinterpretation und bewusster Unterstellung.

Folgt man dem Autor weiter in seiner Argumentation, kann man letztendlich jeder Partei und Organisation der Weimarer Republik bescheinigen, Anschauungen vertreten zu haben, die strukturell antisemitisch waren – allen voran der Sozialdemokratie, die beispielsweise 1926 gemeinsam mit den Kommunisten einen Volksentscheid zur entschädigungslosen Enteignung des deutschen Adels durchführte. Der Slogan «Keinen Pfennig den Fürsten» war ja geradezu ein Paradebeispiel für personalisierte Kapitalismuskritik. Tatsächlich räumt auch Kistenmacher ein, dass es schwer zu beurteilen sei, «inwieweit die KPD sich in ihren Aussagen über das <jüdische Kapital> oder ihrer Position zum Zionismus von anderen Parteien der Linken oder der Mitte unterschied» (S. 322). Angesichts dessen stellt sich aber die Frage, welche Aussagekraft die Analysekategorie «struktureller Antisemitismus» überhaupt besitzt.

Zahlreiche Probleme von Kistenmachers Vorgehensweise werden in dem Kapitel über die Intellektuellenfeindschaft in der KPD deutlich. Gleich zu Beginn weist er darauf hin, dass er hier von seiner bisherigen Herangehensweise abgewichen sei, lediglich die «Rote Fahne» zu untersuchen. Denn im KPD-Organ hätten sich schlichtweg «kein Beitrag über <jüdische Intellektuelle>» gefunden (S. 213). Stattdessen geht er einer Bemerkung Hermann Webers nach, wonach in den innerparteilichen Auseinandersetzungen der Jahre nach 1924 eine «antisemitische Grundstimmung» nicht zu übersehen gewesen sei. Auf zahlreiche zeitgenössische Quellen gestützt kommt Kistenmacher dann zu dem überraschenden Schluss, Webers Aussage müsse «relativiert werden». Eine gegen jüdische KPD-Mitglieder gerichtete Stimmung lasse sich nicht nachweisen: «Nach den Aussagen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen war sie entweder gar nicht vorhanden, oder die antisemitische Grundstimmung war selbst für Betroffene nicht leicht zu erkennen» (S. 223). Angesichts dessen bemüht er sich dann um eine andere Art der Beweisführung. Ziel des restlichen Kapitels ist also die Untersuchung dessen, wie das Feindbild «Intellektuelle» «antisemitische Vorstellungen, beabsichtigt oder nicht, übernimmt, integriert und reproduziert und wie gleichzeitig antisemitische Vorstellungen das Feindbild <Intellektuelle> bestärken, scheinbar begründen und plausibel erscheinen lassen» (S. 225). Leider weiß seine Argumentation keineswegs zu überzeugen. Er benennt Wesensmerkmale des Antisemitismus wie «jüdische Schläue» und versucht eine Wesensgleichheit zur Intellektuellenfeindlichkeit der KPD-Führung zu konstruieren. Wenn er gelegentlich überzeugende Beispiele bringt, stehen sie auf einer sehr dünnen Quellenbasis. Beispielsweise berichtet er davon, dass die Oppositionellen Fischer, Rosenberg und Scholem parteiintern «häufiger» als «Judenbengel» diffamiert worden seien (S. 243). Zeitgenössische Belege hierfür liefert er jedoch nicht, sondern lediglich zwei Briefe von KPD-Mitgliedern, die Jahre bzw. Jahrzehnte später nach den entsprechenden Ereignissen verfasst wurden. Auch wenn beide Quellen seriös sind, sagen sie doch recht wenig über die Quantität solcher Aussagen in der Gesamtpartei aus. Nicht von ungefähr fühlt sich Kistenmacher selbst am Ende des Kapitels genötigt, seine Thesen einzuschränken. Der Zusammenhang zwischen Antiintellektualismus und Antisemitismus sei lediglich «als Tendenz beschrieben (worden), nicht als eine vollständige Übereinstimmung» (S. 246). Er räumt daher ein: «Das Ergebnis dieses Kapitels fällt deutlich spekulativer aus als das der ersten drei Kapitel» (S. 245).

Hier wird ein Muster deutlich, dass sich durch das ganze Buch zieht. Immer wieder relativiert der Autor seine eigenen Aussagen. Wirklich eindeutig formulierte, zitierfähige Thesen muss man – entgegen den anfänglichen Vermutungen – lange suchen. Dies ist jedoch keineswegs Ausdruck einer besonderen Ausgewogenheit des Buches. Vielmehr liefert Kistenmacher eine sehr spezielle Sichtweise auf die KPD, die mit einer differenzierten Analyse der Parteirealität nur wenig zu tun hat. Er erkennt zwar durchaus die Notwendigkeit, «die Aussagen als Ereignisse in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu analysieren» (S. 50). Doch zugleich tut er sich schwer damit: «Es fällt nicht leicht, die Ergebnisse im Kontext der Gesellschaft der Weimarer Republik einzuordnen» (S. 322). Dies ist sehr bedauernswert. Denn zweifelsfrei bringt Kistenmacher in seinem Buch einige interessante Details zutage. Doch für über 300 Seiten Text bleibt der Erkenntnisgewinn eher gering. Die Geschichte der KPD muss jedenfalls nicht neu geschrieben werden.
 


[1] Den Posten des Parteivorsitzenden gab es lange Zeit nicht. Die Genannten waren wahlweise Org.-Leiter oder Pol.-Leiter in der Zentrale, später im Zentralkomitee.

[2] Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes (1930), in: Hermann Weber (Hg.): Der deutsche Kommunismus. Dokumente, Köln u. Berlin, Kiepenheuer & Witsch, 1963, S. 58-65. Noch näher an der NS-Rhetorik ist: „Reichen wir einander brüderlich die Hände zur Versöhnung des deutschen Volkes“ – Aufruf des Zentralkomitees der KPD, 15.10.1936. In: Hermann Weber, Jakov Drabkin, Bernhard H. Bayerlein (Hg.): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2: Nach der Archivrevolution. Neuerschlossene Quellen zur Geschichte der KPD und den deutsch-russischen Beziehungen. Dokumente (1918-1943), Teilband 2, Berlin, München u. Boston, De Gruyter, 2015, S. 1281-1289.

[3] Werner T. Angress: Die Kampfzeit der KPD 1921–1923, Düsseldorf, Droste, 1973, S. 364-384; Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, Hamburg, Junius 1986, v. a. S. 140-142 u. 217-220; Otto Wenzel: 1923. Die gescheiterte Deutsche Oktoberrevolution, Münster, Lit, 2003, S.114-124; Mario Keßler: Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Utopie kreativ (2005), 173, S. 223-232; Joachim Schröder: Internationalismus nach dem Krieg. Die Beziehungen zwischen deutschen und französischen Kommunisten 1918-1923, Essen, Klartext, 2008, S. 375-381; Marcel Bois: Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Eine Gesamtdarstellung, Essen, Klartext, 2014, S. 359-365.

[4] Zuletzt zum Schlageter-Kurs: Ralf Hoffrogge: Der Sommer des Nationalbolschewismus? Die Stellung der KPD-Linken zu Ruhrkampf und ihre Kritik am „Schlageter-Kurs“ von 1923, in: Sozial.Geschichte Online 20 (2017), S. 99-146.

[5] Kasper Braskén: Willi Münzenberg und die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) 1921 bis 1933: eine neue Geschichte. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 11 (2012), 3, S. 57-84, hier S. 79.

[6] Siehe hierzu Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biografie (1895-1940), Konstanz u. München, UVK, 2014, S. 206-217.
 


Olaf Kistenmacher: Arbeit und «jüdisches Kapital». Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung Die Rote Fahne während der Weimarer Republik, Bremen 2016: Edition Lumière (356 S., 44,80 €).