Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Shoah und linkes Selbstverständnis - Antisemitismus und Nahost global Jackie Feldman: Above the Death Pits, Beneath the Flag, New York 2008.

Der israelische Sozialanthropologe hat eine Untersuchung zu Reisen israelischer Schülergruppen nach Polen – hauptsächlich zu ehemaligen nationalsozialistischen Vernichtungslagern - vorgelegt.

Information

Autorin

Cornelia Siebeck,

Trotz des anhaltenden Forschungsbooms zu gedächtniskulturellen Themen gibt es wenige Studien, die sich Gedächtnispraktiken aus einer ethnographischen Perspektive widmen.[1] Das wiederum heißt, solche Praktiken radikal zu <entselbstverständlichen> und sie zunächst einmal im Sinne einer <fremden Welt> zu erkunden, deren inhärente Strukturen und Sinngehalte es zu erfassen gilt.[2] Will man öffentliches Gedächtnis als gelebte soziale Praxis erforschen, bedarf es also weniger der Analyse von Elitediskursen als vielmehr einer induktiv angelegten Feldforschung, und dabei vor allem der teilnehmenden Beobachtung.

Der israelische Sozialanthropologe Jackie Feldman hat nun eine solche Untersuchung vorgelegt. Sein Forschungsgegenstand sind Reisen israelischer Schülergruppen nach Polen – hauptsächlich zu ehemaligen nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Dabei handelt sich um ein in Israel durchaus gesellschaftlich relevantes Phänomen: Von 1988 bis 2005 haben 350.000 Jugendliche an solchen Reisen teilgenommen, das sind etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung.[3]

Feldman hat sich intensiv mit seinem Forschungsgegenstand vertraut gemacht. 1992 ließ er sich in einem Kurs des israelischen Bildungsministeriums zum Reiseleiter ausbilden, um anschließend selbst einige Polenfahrten zu betreuen. Als Forscher begleitete er dann 1995 eine achttägige Schülerreise, die das Material für seine Untersuchung geliefert hat. Mit der vorliegenden Studie wurde er bereits im Jahr 2000 promoviert. Für die Publikation hat er sie nur noch leicht überarbeitet, so dass sie in mancher Hinsicht nicht mehr ganz aktuell ist.[4]

Das mindert aber nicht ihre Bedeutung. Denn diese liegt – auch jenseits eines spezifisch israelischen Kontexts – in der dichten Beschreibung einer Praxis, mit der ein Geschichtsbild im staatsbürgerlichen (oder auf sonstige Weise <kollektivierten>) Subjekt verankert werden soll. Solche Praktiken sind keineswegs eine israelische Besonderheit; besonders ist vielmehr, mit welcher Vehemenz sie von israelischen Intellektuellen immer wieder kritisiert werden. Feldman gehört in diesem Zusammenhang nicht zu den radikalsten Kritikern. Von einem unterkomplexen Verständnis israelischer Gedenkkultur als bloßem Produkt staatlicher Manipulation grenzt er sich wiederholt ab (S. 10, S. 15f., S. 30). Allerdings darf bezweifelt werden, dass zum Beispiel Moshe Zuckermann, auf den Feldman hier wiederholt verweist, diese Sicht tatsächlich so vertritt.

Die israelische Gedenkkultur jedenfalls reflektiert nach Feldman nicht nur gesellschaftliche Machtverhältnisse, sondern auch reale Traumata sowie ein legitimes Bedürfnis nach Vergemeinschaftung (S. 15f., S. 30). Die Motivation der Teilnehmer an den Polenreisen möchte er auch in diesem Sinne als «sincere, deep and creative search for personal identity» ernstgenommen wissen: «For many participants, the murmur of collective memory becomes audible only at a distance from the dense traffic of their life world, in Poland.» (S. xviii) Methodisch wendet sich Feldman gegen bisherige Untersuchungen, die die Polenreisen auf der Grundlage von Texten oder retrospektiven Aussagen der Teilnehmer analysierten: Die hegemoniale Struktur der Reisen sei zwar von maßgeblicher Bedeutung, die während des Reisens gemeinsam produzierte Gedächtnislandschaft aber könne nur auf den Reisen selbst erforscht werden – ebenso wie kognitive Lernprozesse und nichtkognitive Erfahrungen der Reiseteilnehmer (S. 15f.).

Warum sich Feldman jedoch pauschal gegen Theorien ausspricht, die «deeply felt experience solely in terms of relations of knowledge and power» erklären (S. xviii), bleibt ebenso offen wie die Frage, auf welche Theorien er dabei anspielt. Nicht zuletzt ein kulturgeographischer Diskurs böte durchaus Ansatzpunkte, um das Verhältnis zwischen (Macht-)Strukturen und Subjekten adäquat zu erfassen: «We all do read the landscape, but we are not all equal in the process of <authoring> it – nor in controlling its meanings», heißt es etwa bei Don Mitchel.[5] Die Abgrenzung Feldmans von besagten Theorien erstaunt umso mehr, als er zugleich selbst betont, dass auf den Reisen ein «total environment» geschaffen werde (S. 20). Auf geradezu deprimierende Weise legt er dar, wie kollektive und individuelle Emotionen, Verhaltensweisen, Gespräche bis hin zu Tagebucheinträgen durch die engmaschig strukturierte Dramaturgie der Reise geprägt werden. Obwohl Feldman völlig zu Recht auf der Möglichkeit subjektiver Kreativität im Umgang mit vorgegebenen Strukturen insistiert, präsentiert er in seinem empirischen Material fast ausschließlich konformes oder affirmatives Verhalten. Kritische Äußerungen der Teilnehmer nennt er nur äußerst vereinzelt (S. 122, S. 150, S. 152, S. 175).

Feldman interpretiert die Polenreisen als «civil religious pilgrimages» (S. 3) oder analog als «national pilgrimages» (S. 255). Denn es geht dabei – wie bei Besuchen von <Gedächtnisorten> üblich – nicht primär (und hier so gut wie gar nicht) um kognitive Lernprozesse. Vielmehr sollen <unmittelbare> physische und emotionale Eindrücke <vor Ort> gewonnen werden. Feldman arbeitet überzeugend heraus, dass die in den Reisen dramaturgisch angelegten Erfahrungen auf einen Transformationsprozess der Teilnehmer im Sinne eines «ritual reenactment of survival» hinauslaufen: «The students leave the life world, the Land of Israel, for Poland, the land of the Shoah, where they <witness> the destruction of the Jews of the exile. But there, they survive to return with the witness on his triumphant ascent to Israel.» (ebd.)

Die mitreisenden Zeitzeugen dienen dabei nicht nur der Authentifizierung besuchter Stätten. Sie haben Israel tatsächlich als Ort des Weiterlebens nach dem Überleben erfahren und verkörpern somit in den Augen ihrer jugendlichen Weggefährten die beabsichtigte Botschaft. Diese wiederum verbürgen gegenüber den Zeitzeugen eine jüdisch-israelische Zukunft. So verwandelt sich die Reisegruppe an den Stätten ehemaligen Massenmordens und -sterbens in eine erfolgreiche Überlebensgemeinschaft. Die polnische Umgebung dient in diesem Setting als bedrohliche Negativfolie, vor deren Hintergrund das heimatliche Israel einmal mehr als <sicherer Hafen> erscheint.

In einem weiteren Abstraktionsschritt wertet Feldman die Reisen als Krisenphänomen: Nachdem in der israelischen Gesellschaft traditionelle Bindungskräfte nachgelassen hätten, werde das Nation Building in Form eines tiefgreifenden Gemeinschaftserlebnisses nach Polen ausgelagert (S. 260ff.). Die jugendlichen Teilnehmer sollen sich dabei nicht nur in loyale Staatsbürger verwandeln, sondern auch auf ihren Dienst in der israelischen Armee vorbereitet werden (S. 245ff.).

Immer wieder finden sich in Feldmans detailreicher Reisebeschreibung faszinierende Beobachtungen, die jede für sich eine eigene Forschungsarbeit wert wären: zu Authentifizierungsstrategien, zur Funktion von Zeitzeugen, zum Fotografieren oder zur Wirkung musealer Inszenierungen. Vor allem in der Darstellung hat Feldmans Studie aber auch Schwächen. So beginnt die eigentliche Reisebeschreibung erst nach knapp 100 Seiten. Sinnvoller und leserfreundlicher wäre es gewesen, sie an den Beginn zu stellen und sie anschließend mit Blick auf zentrale Topoi zu kontextualisieren und zu interpretieren. Redundanzen und manchmal wörtliche Wiederholungen hätten so vermieden werden können. Ein weiteres Manko ist, dass hebräische Begriffe nicht immer übersetzt bzw. ausreichend erklärt werden.

Trotz dieser kleinen Mängel ist Feldmans Buch uneingeschränkt zu empfehlen: als Anregung zur empirisch fundierten Erforschung von Gedächtnispraktiken, aber auch mit Blick auf die viel beschworene <Zukunft der Erinnerung> an die NS-Verbrechen. Denn wenn es wirklich darum gehen soll, wie und zu welchem Zweck der NS-Zeit in Zukunft gedacht wird, bedarf es der empirisch gestützten Auseinandersetzung mit gegenwärtiger Gedenkpraxis – auch und gerade in einem Land, das sich seit einigen Jahren auf seine (wieder) wehenden Fahnen schreibt, es habe die beste aller möglichen Gedenkkulturen.
 


[1] Vgl. vor allem Tamar Katriel, Performing the Past. A Study of Israeli Settlement Museums, Mahwa 1997; Richard Handler / Eric Gabler, The New History in an Old Museum. Creating the Past in Colonial Williamsburg, Durham 1997.

[2] Für eine Erläuterung dieses Forschungsstils vgl. etwa Michael H. Agar, Speaking of Ethnography, Newbury Park 1986.

[3] Vgl. Amiram Barkat, Government mulls revising youth trips to camps in Poland, in: Haaretz, 4.5.2005.

[4] Zum Beispiel werden die Polenfahrten mittlerweile auch innerhalb des israelischen Mainstreams kontrovers diskutiert – nicht zuletzt aufgrund der Studien Feldmans und einiger anderer Autoren.

[5] Don Mitchel, Cultural Geography. A Critical Introduction, Malden 2000, S. 139f.
 


Jackie Feldman: Above the Death Pits, Beneath the Flag. Youth Voyages to Poland and the Performance of Israeli National Identity, New York 2008: Berghahn Books (307 S., 55,99 €).
 


Die Besprechung erschien erstmals am 15.05.2009 auf der Informations- und Kommunikationsplattform H-Soz-Kult.