Nachricht | Krieg / Frieden - Westasien - Türkei - Westasien im Fokus Türkische Angriffe auf Shengal

Politische und ökonomische Hintergründe der türkischen Politik in Irak und Kurdistan

Stadtzentrum von Shingal (Sinjar) im Sommer 2019, nach dem Krieg mit dem Islamischen Staat. Levi Clancy / Public Domain

Seit 2017 gibt es immer wieder Angriffe der Türkei auf die Region Shengal/Sinjar[1], eine Region mit mehrheitlich jesidischer Bevölkerung, die 2014 einen Genozid durch den IS erlitten hat. Bei einer der letzten Bombardierungen im August 2021, zu einem Zeitpunkt als auch der irakische Premierminister Mustafa al-Kathimi die Region besuchte, um des Massenmords an den Jesid*innen zu gedenken, wurde ein provisorisches Krankenhaus zerstört und mindestens 5 Personen kamen ums Leben. Die regelmäßigen Bombardierungen der Türkei sind hauptsächlich gegen die YBS (Jesidische Selbstverteidigungseinheiten) gerichtet und scheinen dabei keinen größeren Widerstand der internationalen Gemeinschaft hervorzurufen. Während die kurdischen Regierungsparteien in der Kurdischen Region-Irak (KR-I) mehrheitlich zu den Angriffen schweigen, sind es besonders die Kräfte der halb-staatlichen, pro-iranischen Streitkräfte der PMU (Popular Mobilization Forces, arabisch: Hashd-al-Shabi), die die Bombardierungen der Türkei öffentlich verurteilen und erklären, Shengal gegen eine türkische Invasion verteidigen zu wollen.

Die Autorin Vian ist eine kurdisch-irakische Politikwissenschaftlerin, sie lebt derzeit in Bagdad.

Wie ist diese scheinbare paradoxe Situation in Shengal zu verstehen? Welche Politik verfolgt die Türkei im Irak und in der KR-I? Ist Shengal das neue Feld eines regionalen Imperialismus zwischen der Türkei und dem Iran?

Wer kontrolliert Shengal?

Seit 2015 haben die YBS ihre Basis in der Region Shengal aufgebaut. Sie sind entstanden, als der IS die Region Shengal angriff und die irakisch-kurdischen Streitkräfte der KDP (Kurdische Demokratische Partei) die Region kampflos zurückließen und damit das Leben der Zivilist*innen aufs Spiel setzten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Guerilla der PKK, die das angrenzende Gebiet von Rojava (Nordsyrien) kontrollierte, einen Korridor geschaffen und konnte somit 10.000 Jesid*innen dort das Leben retten.

Im Verlaufe dieser Operation unterstützte die PKK die Gründung der YBS, in der Jesid*innen ihre eigenen Sicherheitskräfte aufbauen. Die ideologische Nähe der YBS zur PKK bringt diese in Konflikt mit der KDP, der Regierungspartei in der KR-I, die eng mit der Türkei kooperiert. Im Zuge des Kampfes gegen den IS ist mit den PMU ein weiterer Akteur in Shengal aufgetreten. Legal unterstehen die PMU dem irakischen Premierminister, de facto sind sie jedoch eine Iran-loyale Miliz.

Heute beanspruchen verschiedene Akteure die Region für sich. Nach der US-Invasion hat die KDP zunächst die Kontrolle über die Region gewonnen. Nachdem die KDP beim IS-Einmarsch geflüchtet war, haben die PKK und die YBS sich in Shengal organisiert. Trotz der sogenannten Sinjar-Vereinbarung vom 10. Oktober 2020 zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung, die erklärt, dass die PKK aus der Sinjar-Region entfernt werden soll, kontrollieren heute die PMU, die mit der PKK affiliierte YBS und die KDP verschiedene Teile von Shengal.

Die Politik der Türkei in Kurdistan und Irak

Die Angriffe der Türkei auf Shengal müssen auf historischer, politischer und ökonomischer Ebene verstanden werden. Zum einen führt die Türkei auf irakischem Staatsgebiet schon seit Jahrzenten einen Krieg gegen die PKK. Sie verfügt über Dutzende Militärposten in der KR-I, also auch auf irakischem Staatsgebiet. Allein die Bombardierungen seit April 2021, mit denen der türkische Staat die «Operation Claw-Lightning» in der KR-I begann, führten dazu, dass erneut 1500 Zivilist*innen aus ihren Dörfern evakuiert wurden. Meist können sie nicht mehr zurück in ihre Dörfer, in denen nun türkische Militärposten errichtet werden, und ihnen damit ihre Lebensgrundlage genommen wird. Seit 2011 wurden durch den Krieg des türkischen Staates 5561 Menschen getötet, davon 549 Zivilist*innen.

Andererseits betreibt die Türkei historisch eine anti-kurdische und anti-jesidische Politik. Aktuelles Beispiel dieser autoritären, undemokratischen Politik ist die Inhaftierung der demokratisch gewählten Mitglieder der HDP, einer progressiven Partei in der Türkei, die sich für eine inklusive Politik einsetzt.

Neben dieser politischen Ausrichtung des türkischen Staates gibt es aber auch eine spezielle ökonomische Politik der KR-I und dem Irak gegenüber. Meral Cicek, Vorsitzende der kurdischen Frauenrechtsorganisation REPAK erklärte mir in einem Interview am 14. September: «Bashur (KR-I) wird als Markt gesehen für türkisches und auch iranisches Kapital. Damit wird eine auf eigener Produktion aufbauende Wirtschaft in Bashur verhindert, und Bäuer*innen in der KR-I müssen ihre Produkte oftmals wegschmeißen, weil sie sie nicht verkaufen können.»

Türkische Firmen sind ebenfalls im Bausektor des Irak und der KR-I dominant. Cicek bezeichnet die Versuche der Türkei, den Flughafen des zerstörten Mosul, der in der Nähe von Shengal liegt, wiederaufzubauen, als Teil neo-osmanischer Ambitionen. Tatsächlich wäre der Bau des Flughafens durch die Türkei auch mit erweiterter politischer und ökonomischer Kontrolle der Region verbunden. Letztendlich hat die Türkei den Auftrag an Frankreich, bzw. an die französische Firma «Aéroports de Paris Ingénierie» verloren. Trotzdem, so Cicek, versucht Ankara politischen und ökonomischen Einfluss in der Region Mosul zu gewinnen, indem die Türkei vorschlägt, einen zweiten Grenzübergang zu eröffnen. Damit wäre sie in der Lage, einen direkten Zugang zum Irak zu erhalten und nicht nur über den bisherigen Grenzübergang von Ibrahim Khalil in Zaxo, der in der KR-I liegt, zu operieren.

Die ökonomischen Ambitionen der Türkei wurden auch auf der regionalen Konferenz «Baghdad Conference for Cooperation and Partnership» am 28. August 2021 klar, an der außer dem französischen Präsidenten Macron die Regierenden der arabischen Staaten, der Türkei und des Iran teilnahmen. Der türkische Außenminister erklärte dabei deutlich seine Prioritäten und seine Interessen: der Bau einer Bahnstrecke von Fish Khabur, dem Grenzübergang zwischen Nordostsyrien und der KR-I, nach Bagdad, außerdem der Bau einer industriellen Zone in Mosul. Gleichzeitig bezeichnete er den IS, die PKK und die Selbstverteidigungseinheiten in Nordostsyrien als terroristische Organisationen, deren Präsenz im Irak die Türkei niemals akzeptieren werde. Hierbei vermischen sich ökonomische und politische Ziele der Türkei.

Die Türkei zeigt mit ihren Angriffen auf Shengal, dass sie im Irak jederzeit handeln kann, wie es ihr passt, ohne dies mit irakischen Sicherheitskräften absprechen zu müssen oder besondere Konsequenzen zu fürchten. Neben der Türkei ist es der Iran, der im Irak seine politische, ökonomische und militärische Macht geltend macht. Auf der Konferenz in Bagdad ging es Premierminister al-Kathimi auch darum, diese Machtansprüche durch neue Bündnisse mit Ägypten und Jordanien zu schwächen. Ob diese neue Bündnispolitik dem Einfluss der Türkei und des Irans im Irak tatsächlich Grenzen setzten kann, bleibt unklar. Klar ist, dass es für die Menschen in Shengal sieben Jahre nach dem Genozid mit dieser Sicherheitslage keine Zukunftsaussichten gibt.


[1] Shengal ist die kurdische und Sinjar die arabische Bezeichnung der Region. Im Folgenden verwende ich die kurdische Bezeichnung Shengal.