Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Brasilien / Paraguay Paraguay: Verrauchte Wut

Kaum Chance auf Wandel bei den Kommunalwahlen.

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Wahlplakat für «Nenecho» Oscar Rodríguez von der rechten «Colorado»-Partei in Asunción Foto: Belén Rojas

Während in der Hauptstadt Asunción in den letzten Septembertagen erneut große Proteste ausbrechen, steht Paraguay kurz vor den Kommunalwahlen. Am 10. Oktober soll im ganzen Land über neue Stadträt*innen und Bürgermeister*innen entschieden werden – pandemiebedingt ein Jahr später als eigentlich geplant. Daran, dass sie jene Veränderungen einleiten könnten, für die soziale Bewegungen und Linke in Paraguay konstant kämpfen, scheinen nicht einmal die pragmatischeren und reformistischen Strömungen zu glauben. Jedoch werden die Wahlen oft als Kräftemessen eingeschätzt und es besteht die Hoffnung, dass die Hegemonie der rechtskonservativen Asociación Nacional Republicana (ANR), auch bekannt als Colorado-Partei, zumindest angegriffen wird.

Jahrzehnte der rechtskonservativen Hegemonie

Neun Jahre ist es mittlerweile her, dass Ex-Präsident Fernando Lugo von dem Links-Bündnis Frente Guasu (FG) durch einen parlamentarischen Putsch abgesetzt wurde. Die Mitte-Links-Koalition aus der Liberalen Partei Partido Liberal Radical Auténtico (PLRA) und der Frente Guasu kann als kurze Phase politischen Umbruchs gesehen werden, die fast 61 Jahre des ununterbrochenen Regierens der Colorado-Partei vorerst beendete. Zu dieser Zeit zählt auch die Diktatur Alfredo Stroessners von 1954 bis 1989. Nach dem Putsch blieb die Linke gespalten zurück. Kein neues politisches Projekt hat sich herausgebildet, das so wie die geplanten Landreformen und das zaghafte Umverteilungs- und Sozialprogramm die verschiedenen Lager gemeinsam mobilisieren konnte.

Mit einem Blick auf die extrem schwierigen Bedingungen von Lugos Reformvorhaben, die von außen betrachtet eher moderat waren, schätzen viele Linke in Paraguay die Möglichkeit von radikaleren Veränderungen als gering ein. Die Verstrickungen der Colorados mit dem Staat, die Eigentumsordnung und Landverteilung aus Kolonial- und Diktaturzeiten, die mafiösen Verbindungen vom Handel mit Waffen und Drogen insbesondere zu den Colorados, hartnäckige patriarchale und rassistische Strukturen - all diese Faktoren helfen, eine zutiefst ungerechte Ordnung festzuschreiben. «Wir befinden uns in einem Stadium, das noch vor den Grundsatzdebatten liegt», erläutert der Soziologe Diego Segovia.

Trotz allem scheinen die Corona-Pandemie und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit, die nicht durch ernsthafte ökonomische Hilfen für die Bevölkerung aufgefangen wurde, zu einer wachsenden Unzufriedenheit mit der Regierung zu führen. Die Wut und Verzweiflung angesichts immer größerer Ungleichheit und extremer Armut für große Teile der Bevölkerung drückten sich im März dieses Jahres auch in starken Protesten und Rücktrittsforderungen aus.

Gespaltene Linke

In diesem Moment sich zuspitzender Krisen sehen jedoch auch viele Menschen eine Chance. Luis Sandoval vom Insituto de Sciencias Sociales Paraguay (ICSO) beobachtet, dass selbst in Gemeinden, wo traditionell die Colorados gewinnen, Veränderungen im Wahlverhalten festgestellt werden können. Diese seien zwar nicht immer zugunsten der «progressiven» Akteur*innen, wie sie selbst sich in Paraguay nennen. Jedoch sei bereits das Bröckeln der rechtskonservativen Hegemonie bedeutungsvoll.

In Asunción hingegen scheint sich bei den Wahlen für die Bürgermeister*in ein Wahlsieg des Colorado-Kandidaten «Nenecho», Oscar Rodríguez, abzuzeichnen. Sein aussichtsreichster Konkurrent ist der liberale Eduardo Fukuyama, der für Alianza Juntos por Asunción antritt, ein Bündnis aus PLRA und weiteren Mitte-Rechts-Parteien. Inhaltlich stehen sie sich sehr nahe, der Wahlsieg Fukuyamas wäre höchstens symbolisch wichtig, wie Osvaldo Zayas verdeutlicht, der in Ñemby, einer Vorstadt von Asunción, Stadtrat werden möchte.

Die Spaltung der progressiven Kräfte seit Lugos Amtsenthebungsverfahren zeigt sich deutlich an der Aufstellung unterschiedlicher Kandidierender in Asunción. Segovia zufolge gibt es vier bis fünf progressive Listen, und er vermutet, dass durch diese Fragmentierung keine wirklich erfolgreich sein wird. Im Juli rief Lugo, der gerade in ländlichen Regionen immer noch viel Zuspruch erfährt und somit eine Schlüsselfigur in der progressiven Parteienlandschaft ist, deswegen auf Twitter dazu auf, eine Allianz aller Kräfte außerhalb der Colorado-Fraktion gegen diese zu bilden. Eine solche kam jedoch nicht zustande.

Johanna Ortega, die für das progressive Bündnis Alianza Asunción para Todos zur Bürgermeisterin kandidiert, widmet sich in den letzten Tagen vor der Wahl dem Aufdecken und Problematisieren mutmaßlicher Korruption durch Rodríguez. Darüber hinaus steht sie auch für klare Inhalte: In ihrer Wahlkampagne verspricht sie u.a. Inklusivität und eine Gestaltung der Stadt für alle Menschen, bezahlbaren und würdevollen Wohnraum und ein Ende der Verdrängung aus der Stadt. Ebenso umfasst ihr Programm Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise sowie zur Anpassung an ihre Folgen oder auch die Förderung von Kultur und Sicherheit in der Stadt, die sie jedoch entgegen konservativer Law-and-Order-Fantasien neu interpretiert.

Forderungen kommen nicht an

Mit diesen Forderungen unterscheidet sie sich deutlich von den vagen Vorschlägen der etablierten Parteien und bezieht explizit die Mehrheit ihrer potenziellen Wähler*innen mit ein. Trotzdem liegt Ortega Prognosen zufolge deutlich hinter den Kandidaten der beiden traditionellen Volksparteien ANR und PLRA. Dabei hat Asunción bei den letzten Kommunalwahlen 2015 mit Mario Ferreiro von der Partei Partido Revolucionario Febrerista erst wieder bewiesen, dass auch progressive Politiker*innen eine Chance haben können. Dieser hatte jedoch den Vorteil als Fernsehjournalist schon recht bekannt zu sein. Bereits 2019 trat er jedoch wegen Korruptionsvorwürfen zurück. Was die Wahl der Stadträt*innen betrifft, schätzt Segovia, dass in Asunción vielleicht zwei von zwölf an das progressive Lager gehen könnten - «Mit nur zwei kann man aber leider nicht viel bewirken».

Auch in den ländlichen Gebieten Paraguays, wo Kleinbäuer*innen besonders präsent sind, wie beispielsweise in den östlich gelegenen Bundesländern San Pedro oder Canindeyú, feierten die zwei traditionellen Volksparteien ANR und PLRA bei der letzten Wahl weiterhin große Erfolge. Und das obwohl diese vor allem die Interessen der Elite repräsentieren. Laut Sandoval fehlt eine Alternative: Die Linke müsste sich gerade hier mit fundamentalen Themen wie dem Recht auf Leben, Gesundheit oder Gerechtigkeit aufstellen, mit denen sich die paraguayische Gesellschaft identifizieren könne, um sichtbare Erfolge zu verzeichnen.

Indigene Kandidat*innen im Chaco

Andere Teile des Landes scheinen für linke Kommunalpolitiker*innen etwas bessere Aussichten zu bieten. Zayas beobachtet interessante Entwicklungen in der nordwestlich gelegenen Chaco-Region: Zum einen stehen dort auch Indigene zur Wahl, die in Paraguay extremen Rassismus erfahren, zum anderen wird die Kandidatur von Claude Duarte als vielversprechend angesehen. Als erste Transperson bewirbt sie sich in Paraguay auf ein politisches Amt. Sie will sich in der Kleinstadt Villa Hayes zur Stadträtin wählen lassen. «Ich verstehe mich als Repräsentantin (des) vergessenen Sektors», meint sie in einem Zeitungsinterview, und bezieht sich damit nicht nur auf die LGBTIQ+ Community, sondern auch auf Menschen ohne Lohnarbeit oder Ausbildung sowie ältere Menschen.

Es ist zu erwarten, dass die Ergebnisse der Kommunalwahlen wie gewöhnlich durch Stimmenkauf verzerrt werden. Dennoch stellt sie ein Novum dar: Gewählt wird zum ersten Mal elektronisch und mit dem sogenannten voto preferencial. Das im Jahr 2019 verabschiedete und von einzelnen Bürger*innenbewegungen lange geforderte Gesetz erlaubt die direkte Wahl einer bevorzugten Kandidat*in innerhalb der Liste einer Partei. Die zuvor geschlossenen Listen vereinfachten Kandidat*innen, die die oberen Ränge der Parteiliste einnahmen, einen Einzug in den Stadtrat, da dieser nach Reihenfolge verlief. Welche Auswirkungen diese Gesetzesänderung gerade auf vulnerable Gruppen und Kandidierende mit weniger Ressourcen haben wird, ist umstritten.

Neben der parteilich organisierten Linken werden auch die sozialen Bewegungen kurz vor der Wahl wieder als Akteur*innen sichtbar. Die jüngsten Proteste in Asunción, gegen eine weitere Kriminalisierung und harte Haftstrafen bei Landbesetzungen, mobilisierten Kleinbäuer*innen und Indigene aus dem ganzen Land. Unter anderem hatte der Bäuer*innenverband, die Federación Nacional Campesina (FNC), zu den Protesten aufgerufen. Die Themen der sozialen Bewegungen sind allerdings schwer vermittelbar in einer Gesellschaft, die von Antikommunismus und der Angst vor einer angeblichen «Genderideologie» geprägt sind. Während vom Nachbarland Argentinien aus die feministische grüne Welle für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen auch in andere Länder überschwappt, sind solche Themen in Paraguay weiterhin marginal. Die feministische Bewegung ist dennoch präsent und konnte immerhin Feminizide auf die Agenda setzen. Außerdem gab es dieses Jahr bereits große Studierendenproteste, auf die harte Repressionen folgten.

Erfahrung von Solidarität

Welche Ergebnisse können linke Akteur*innen also von den paraguayischen Kommunalwahlen erwarten? «Die Progressiven sind stärker als die Rechten es sich wünschen würden, aber nicht so stark, wie wir gerne wären», fasst Zayas die Situation vor den Kommunalwahlen zusammen. Rechtskonservative Strukturen und Vorstellungen von Gesellschaft werden voraussichtlich auch in den nächsten Jahren die paraguayische Kommunalpolitik dominieren - obwohl es auch wichtige Ausnahmen gibt, die Signalwirkung haben können. Geteilte Visionen von Alternativen zum status quo, hinter denen sich breite Bündnisse versammeln könnten, scheinen aber, wie Sandoval bemerkt, noch immer in Abwehrkämpfen unterzugehen. Allerdings kann sich ein großer Teil der Menschen in Paraguay auch auf Erfahrungen jenseits der dominanten Herrschaftslogiken beziehen: «Die Solidarität ist in unsere sozialen Strukturen eingeschrieben, das kommt auch von den (indigenen) Guaraní», sagt Segovia. Konkret zeigte sich dies zum Beispiel in der Pandemie, als Kleinbäuer*innen, die selbst oftmals in prekären Verhältnissen leben, Lebensmittel an besonders betroffene Stadtteile gespendet haben. Die Bauernmärkte in den Städten seien außerdem wichtige Begegnungsorte, wo solidarische Beziehungen entstehen können. Vielleicht können diese aktuellen Erfahrungen ja helfen, linke Ideen für mehr Menschen denkbar zu machen.