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Auswirkungen auf Zentralasien

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Kabul, Afghanistan im Oktober, 2021 Foto: picture alliance / REUTERS | Zohra Bensemra

Durch den Abzug der US- und NATO-Truppen aus Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban ergeben sich für alle externen Akteure mit Interessen im geopolitischen Umfeld Afghanistans in Zentral- und Südasien neue Chancen, Bedrohungen und Herausforderungen. Besonders einflussreich ist China. Seit die USA aus Afghanistan abgezogen sind, heißt es, dass China sich dort fest etablieren und von dem entstandenen Machtvakuum profitieren kann.

Natürliche Ressourcen befeuern Chinas Interesse an Afghanistan

Vor allem das wirtschaftliche Potenzial der unerschlossenen Rohstoffvorkommen in Afghanistan und die bedeutenden Investitionsmöglichkeiten der Volksrepublik China sind entscheidend.

Afghanistan verfügt über gewaltige nachgefragte Bodenschätze im Wert von mehreren Billionen Dollar. Dazu gehören insbesondere die größten unerschlossenen Kupfervorkommen Eurasiens «Aynak», die sich auf rund 11 Millionen Tonnen belaufen, sowie die Eisenerzvorkommen «Hajigak» mit Reserven von rund zwei Milliarden Tonnen. Äußerst attraktiv ist Afghanistan auch in Bezug auf Metalle, die für die aktuelle grüne und vierte Industrielle Revolution zentral sind. In erster Linie geht es um Lithium, das für die Herstellung von Lithium-Ionen-Batterien für Elektrofahrzeuge unerlässlich ist. Die kommerzielle Erschließung von Lagerstätten Seltener Erden ist aussichtsreich. Nach der US Geological Survey sind die Vorkommen drei Billionen Dollar wert. Dazu gehören Zinn, Gold, Zink, Marmor, Granit, Travertin usw.

Rustam Makhmudov ist Senior Research Fellow an der Universität für Weltwirtschaft und Diplomatie (Usbekistan). 

Übersetzung von Anja Dagmar Schloßberger für Gegensatz Translation Collective.

Bereits vor 14 Jahren bekundete China Interesse am afghanischen Montansektor. 2007 erhielt das chinesische Unternehmen Jiangxi Copper and Metallurgical Corporation of China den Zuschlag für die Erschließung «Aynaks», konnte allerdings aufgrund der schwierigen Sicherheitslage in der Provinz Lugar nicht mit der Umsetzung des Projekts beginnen. Vorgesehen war der Aufbau einer komplexen Infrastruktur, einschließlich eines Elektrowerks und einer Eisenbahnlinie.

Da Beijing auf dem Gebiet der Innovationen und grünen Technologien weltweit führend werden will, ist davon auszugehen, dass chinesische Unternehmen an Lithium und Seltenen Erden interessiert sind. China plant, die jährliche Produktion von Elektrofahrzeugen bis 2028 auf acht Millionen hochzufahren. Das würde die Produktion von Elektrofahrzeugen in Europa und den USA zusammen übertreffen. Dafür benötigt es mehr Lithium. Insofern ist nachvollziehbar, dass große chinesische Unternehmen wie Sichuan Tianqi Lithium und Jiangxi Ganfeng Lithium ihre Präsenz auf dem globalen Abbau-, Import- und Produktionssektor dieses Metalls ausbauen.

Auch an den afghanischen Vorkommen Seltener Erden hat China potenziell Interesse. Derzeit kontrolliert China den Weltmarkt für Lanthanoide. Beim Abbau und Export von Seltene-Erde-Metallen (REM) ist es ähnlich dominant wie Saudi-Arabien im Erdölsektor. Bereits 1992 konstatierte Deng Xiaoping, der Vater der chinesischen Reformen: «Der Nahe Osten hat Öl; China hat Seltene Erden.» Chinesische Unternehmen kontrollieren über 80 Prozent des weltweiten Abbaus dieses Rohstoffes. In einigen Marktsegmenten, beispielsweise der Herstellung von REM-Oxiden, erreicht China einen Marktanteil von 97 Prozent.

Für Beijing ist die Kontrolle über den Markt der Seltenen-Erden-Metalle nicht nur von ökonomischer, sondern auch von geopolitischer Bedeutung. Als sich der amerikanisch-chinesische Handelskrieg 2019 zuspitzte, verbreitete man in den Massenmedien die Meldung, dass Beijing ein Exportverbot für REM plane. Da US-amerikanische High-Tech-Unternehmen zu fast 80 Prozent vom Import dieses Rohstoffs aus der Volksrepublik China abhängig sind, hatte bereits das Streuen dieses Gerüchts psychologische Auswirkungen, was sich in einem Preisanstieg um 30 Prozent niederschlug.

Chinas Autonomie in Bezug auf REM-Importe stärkt seine Position im voraussichtlichen Wettlauf um die Führungsrolle auf dem neuen Technologiesektor erheblich. Die führenden chinesischen Technologieunternehmen, die mit ihren eigenen Rohstoffreserven arbeiten, machen so bereits den transnationalen Giganten im Westen und im Fernen Osten Konkurrenz. Unternehmen wie Huawei, Lenovo, Xiaomi, ZTE und viele andere sind Global Player. Sie werden China bis Mitte des 21. Jahrhunderts technologisch an die Weltspitze führen.

Das Interesse an den afghanischen Rohstoffvorkommen ist insoweit strategisch motiviert. Durch den Zugang zu den Vorkommen baut China seine Marktmacht weiter aus und erschließt zugleich neue Rohstoffquellen für die eigenen Unternehmen. China sendet bereits entsprechende Signale nach Afghanistan. Beispielsweise habe der Botschafter der Volksrepublik nach Angaben der Taliban Afghanistan zur Bildung seiner neuen Regierung gratuliert. Auch seitens des Unternehmens Jianxi Copper hieß es, man verfolge, wie sich die Situation in Afghanistan entwickle und werde so früh wie möglich mit der Erschließung des Kupfervorkommens «Aynak» beginnen. Ob Beijing allerdings seine Investitionen in Afghanistan ausweitet, hängt nicht nur von den Gewinnaussichten ab, sondern auch von der Frage, ob es seine nationale Sicherheit gewährleistet sieht.

Taliban geben Beijing Sicherheitsgarantien

Es ist kein Geheimnis, dass die Gewährleistung der nationalen Sicherheit und der territorialen Integrität für China Priorität hat. Einer von vielen Gründen ist die Erinnerung an die länger als ein Jahrhundert dauernde Periode innerer Instabilität. Diese begann bereits zur Zeit der Opiumkriege im 19. Jahrhundert und währte bis Mitte des letzten Jahrhunderts. Für China war das ein verlorenes Jahrhundert. Deshalb beobachtet man in Beijing aufmerksam, ob sich in Afghanistan Stützpunkte terroristischer Gruppierungen bilden, was nicht unwahrscheinlich ist. Denn solche Gruppierungen könnten auf die Destabilisierung der westlichen Regionen Chinas abzielen. Dort sind muslimische Minderheiten ansässig, vor allem die Uigur*innen.

In erster Linie gibt die sogenannte Islamische Bewegung Ostturkestans (East Turkestan Islamic Movement, ETIM) Anlass zur Beunruhigung. ETIM wurde 1993 mit dem Ziel gegründet, einen islamischen Staat in Ostturkestan zu schaffen. Die Gruppierung ist für zahlreiche Terroranschläge verantwortlich, bei denen viele friedliche chinesische Zivilist*innen getötet und verwundet wurden.

Anlass zur Sorge bietet außerdem ein Ableger des Islamischen Staates «Wilayat Khorasan» (ISIS-K), der in Afghanistan und Teilen Pakistans aktiv ist. Bekanntermaßen verfolgt ISIS das Ziel, ein globales Kalifat zu errichten. 2017 adressierte die Organisation erstmals Drohungen an China. Es ist belegt, dass einige hundert Uigur*innen für diesen ISIS-Ableger kämpften. Beim Abzug der US-Truppen machte sich Wilayat Khorasan mit Terroranschlägen auf dem Kabuler Flughafen bemerkbar und demonstrierte, dass er weiterhin in Afghanistan aktiv sein würde.

Eine potenzielle Bedrohung für die nationale Sicherheit Chinas könnte auch von al-Qaida ausgehen, deren oberster Vertreter Amin al-Haq, ehemaliger Sicherheitschef von Osama bin Laden, nach 20 Jahren im Untergrund Ende August 2021 nach Afghanistan zurückgekehrt ist. Laut Einschätzungen US-amerikanischer Geheimdienste könnte al-Qaida innerhalb von ein bis zwei Jahren wieder handlungsfähig sein.

Die Taliban versuchen Beijing indes davon zu überzeugen, dass sie auf afghanischem Territorium keine gegen China gerichteten subversiven Aktionen zulassen werden. Seitens hochrangiger Vertreter hieß es, allen Kämpfer*innen der «Islamischen Bewegung Ostturkestans» sei befohlen worden, Afghanistan zu verlassen.

Zugleich versicherten die Taliban der Weltgemeinschaft, man werde nicht zulassen, dass ISIS in den von den Taliban kontrollierten Gebieten Aktivitäten aufnehme. Auch lasse man keine ausländischen Kämpfer*innen nach Afghanistan einreisen, auch nicht aus China.

Was die Taliban zu solchen Erklärungen bewegt, ist offensichtlich. Die neuen afghanischen Machthaber erwarten chinesische Investitionen im großen Stil. Zugleich können sie in nächster Zeit kaum damit rechnen, dass sich große westliche Unternehmen ansiedeln. Ohne chinesisches Geld und die von China geschaffenen Arbeitsplätze wird es den Taliban nur schwer gelingen, die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation im Land zu stabilisieren. Das könnte für die Taliban weitreichende negative Konsequenzen haben. Ihr Pressesprecher Zabiullah Mudschahid sprach ausdrücklich von den großen Hoffnungen, die man auf Beijing setze. Wörtlich hieß es: «China stellt für uns eine grundlegende und einmalige Chance dar. Es ist bereit, in unser Land zu investieren und es wieder aufzubauen. China ist unsere Eintrittskarte zum Weltmarkt».

Zentralasien könnte profitieren

Gelangt China tatsächlich zu der Überzeugung, dass die Taliban Wort halten und ausländische terroristische Gruppierungen auf afghanischem Boden ausschalten, dass sie die vollständige Kontrolle über die innenpolitische Situation erlangen, dann steigen die Chancen erheblich, dass China in die afghanische Wirtschaft investiert. Das hätte unmittelbare Auswirkungen auf Zentralasien.

Erstens wären die Investitionen ein Zeichen für die fortschreitende Stabilisierung Afghanistans. Das würde sich positiv auf die gesamte Sicherheitslage in Zentralasien und auf das regionale Investitionsklima auswirken, weil sich politische Risiken verringerten. Chinesische Investitionen hätten auch eine psychologische Wirkung, weil sich die in Zentralasien etablierte Wahrnehmung von Afghanistan verändern würde: Statt mit permanenter Bedrohungen und Schwierigkeiten könnte es mit einem Wirtschaftsraum voller Potenzial assoziiert werden.

Zweitens würden chinesische Investitionen den Staaten in der Region und internationalen Unternehmen signalisieren, dass die Taliban einen positiven Wandel vollzogen hätten: Man würde nicht mehr mutmaßen, dass sie den kriegerischen Aufstand verfolgen, sondern dass sie einen Staat etablieren wollen, um das Land wiederaufzubauen, zu entwickeln und stabile Institutionen zu errichten.

Langfristig können die Investitionen aus China, sollten sie von der neuen Regierung richtig verwaltet werden, wenn nicht gänzlich, so doch zum Teil die Nachfrage der Verbraucher*innen auf dem afghanischen Markt wieder ankurbeln, die nach dem Abzug westlicher Gelder zurückgegangen war. Unter diesem Einfluss kann die Wirtschaft wieder wachsen und es können neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Davon würde Zentralasien sicherlich profitieren, denn bereits in den vergangenen 20 Jahren war Afghanistan ein lukratives Exportziel.

Auf lange Sicht könnte überdies ein Modernisierungsprozess der gesamten afghanischen Gesellschaft in Gang kommen. Dadurch würden sich die kulturellen und weltanschaulichen Unterschiede zwischen den modernisierten Ländern Zentralasiens und dem traditionell geprägten Afghanistan verringern. Die Landbevölkerung würde in die Industrialisierung, die Urbanisierung und die Integration Afghanistans in die regionalen und globalen Wertschöpfungsketten massiv einbezogen werden. Dadurch würden archaische soziale Strukturen aufgeweicht, neue soziale Rahmenbedingungen und Institutionen entstehen.

Beijings Einstieg in die afghanische Wirtschaft könnte die Strukturen von Transportlogistik und Handel in der Region grundlegend verändern. Dabei geht es darum, dass eine Verbindung der beiden Teilstrecken der chinesischen Seidenstraßeninitiative One Belt, One Road (OBOR) in Zentralasien und Pakistan durch die Instabilität Afghanistans verhindert wurde. Mit der Stabilisierung des Landes ließen sich die Routen verknüpfen, China würde also seine Wirtschafts-, Transport-, Investitions- und Handelspräsenz in weiten Teilen Zentral- und Südasiens massiv ausbauen.

Die Taliban signalisieren bereits Verständnis für Chinas langfristige Pläne im Zusammenhang mit OBOR. Davon zeugt die Erklärung von Abdul Salam Hanafi, dem stellvertretenden Leiter des politischen Büros der Taliban in Katar. Ihm zufolge unterstütze die neue afghanische Regierung China im Rahmen von OBOR und sei bereit, mit China zusammenzuarbeiten, um zur Entwicklung, zum Aufblühen Afghanistans und der Region beizutragen.

Dass die beiden OBOR-Abschnitte auf afghanischem Territorium zusammengeführt werden, entspricht zentralasiatischen Interessen, etwa den logistischen Plänen Usbekistans, sukzessive Kooperationsprojekte in Zentral- und Südasien in die Wege zu leiten. Der usbekische Präsident Shavkat Mirziyoyev erklärte auf der im Juli diesen Jahres in Taschkent veranstalteten internationalen Konferenz «Zentral- und Südasien: regionale Beziehungen. Herausforderungen und Chancen» hinsichtlich der Pläne, eine Eisenbahnlinie «Termiz-Masar-e-Scharif-Kabul-Peschawar» zu bauen, dass «diese sich voll und ganz mit den Zielen der Neuen Seidenstraße deckt».

Chinas Interesse an Afghanistan ist offensichtlich. Hinsichtlich Ressourcen, Handel, Transportlogistik und Strategie sind potenziell hohe Vorteile zu erzielen. In der Region können außerdem neue Realitäten geschaffen werden, die auf Kapital, Investitionen und Technologien aus China beruhen. Fraglich ist nur, ob die Taliban in der Lage sind, das Land vollständig zu stabilisieren und zu verhindern, dass terroristische Gruppierungen sein Territorium für subversive Aktivitäten gegen die Volksrepublik China nutzen. Als problematisch könnte sich wohl erweisen, dass der Westen in den kommenden Jahren die Taliban-Regierung nicht anerkennt. Dies birgt Risiken für Investitionen in afghanische Ressourcen und für den Handel von daraus gefertigten Produkten auf dem Weltmarkt. Chinas künftige Afghanistan-Politik auf regionaler und globaler Ebene wird daher mit Spannung beobachtet, und auch in Zentralasien verfolgt man sie aufmerksam.