Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - Nordafrika Zerstört Kaïs Saïed die Idee der Demokratie an sich?

Interview mit dem tunesischen Juraprofessor Wahid Ferchichi

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Wahid Ferchichi
Wahid Ferchichi Foto: privat

Am 25. Juli 2021 entließ Tunesiens Staatspräsident Kaïs Saïed Premierminister Hichem Mechichi, legte die Arbeit des Parlaments auf Eis und hob die Immunität der Parlamentsabgeordneten auf. Ende September ernannte Saïed die Professorin Najla Bouden Romdhane zur Premierministerin, ihr Kabinett wurde inzwischen offiziell vereidigt. Saïeds Machtübernahme wird von Vielen als umstritten, gefährlich und verfassungswidrig betrachtet, weckte aber auch Hoffnungen im Land, dass seine Intervention Tunesiens langjährige politische Blockade beenden und den Behörden den Weg ebnen könnte, um endlich die erheblichen sozioökonomischen Probleme weiter Teile der Gesellschaft anzupacken. Aus diesem Anlass lanciert das Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Interviewreihe, in deren Rahmen wir mit tunesischen Aktivist*innen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft sowie Wissenschaftler*innen über die jüngsten Ereignisse und noch bevorstehende Entwicklungen im Land diskutieren. 

Sofian Philip Naceur aus dem Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach Anfang Oktober mit Wahid Ferchichi, Professor für öffentliches Recht an der Universität von Karthago und Mitbegründer der Association Tunisienne pour la Défense des Libertés Individuelles (ADLI), darüber, warum Saïeds faktisches Aussetzen der Verfassung von 2014 als Bedrohung für die tunesische Demokratie und für kollektive und individuelle Rechte betrachtet werden sollte, über die Rolle des tunesischen Militärs und darüber, wie Tunesiens Zivilgesellschaft jetzt handeln könnte, um einen autoritären Rollback zu verhindern.

Am 22. September verabschiedete Kaïs Saïed ein neues Dekret, mit dem er die am 25. Juli verhängten Ausnahmemaßnahmen verlängerte und Bestimmungen darüber erließ, wie die Exekutive von nun an arbeiten soll. Die Verfassung von 2014 ist mit Ausnahme einiger Artikel de facto nicht mehr in Kraft. Das jüngste Dekret Saïeds scheint jedoch detaillierter zu sein als die vorangegangenen. Haben wir es heute mit einer provisorischen Interimsverfassung zu tun?

Ich denke, dass die Verfassung von 2014 seit dem 25. Juli nicht mehr gültig ist. Der Präsident hat zunächst alle Befugnisse an sich gezogen bevor er Parlament und Regierung ausschaltete. In einem meiner ersten Artikel zu diesem Thema spreche ich bereits von einer provisorischen Organisation der Gewalten. Seit dem 25. Juli deutet die Lage bereits in Richtung einer provisorischen Organisation der Gewalten, allerdings gab es keinen Rechtstext. Etwas ironisch würde ich dies als Übergang vom Zivilrecht zum Kriegsrecht im militärischen Sinne bezeichnen.

Am 22. September hat der Präsident nun einen klaren Text zur Organisation der Gewalten veröffentlicht. Dies will er aber nicht als «provisorische Organisation der Gewalten» bezeichnen, sondern nennt es wie schon zuvor nur «außerordentliche Maßnahmen». Wir müssen aber aufpassen, da Kaïs Saïed gerne den Eindruck erweckt, dass die Verfassung von 2014 immer noch gilt, insbesondere Artikel 80 [rechtlich rechtfertigt Saïed seine Machtübernahme mit diesem Artikel, Anmk.]. Auch wenn ich diese Position nicht teile, versucht er offenbar, eine gewisse verfassungsgemäße und rechtliche Legitimität zu wahren – auch wenn er diese immer wieder als «Legitimität durch das Volk» bezeichnet.

Das ergibt Sinn, da er sich selbst immer als Verfassungsrechtler bezeichnet hat, der das Gesetz respektiert.

Man könnte diese Haltung als sehr heuchlerisch bezeichnen, rechtlich betrachtet. Persönlich bin ich völlig gegen das, was Kaïs Saïed seit dem 25. Juli getan hat und nenne es einen «Staatsstreich». Es gibt einen Satz, den ich gerne wiederhole: «Die unmittelbare Gefahr geht weder von der Kasbah (Regierungssitz) noch von Bardo (Sitz des Parlaments) aus, sondern von Karthago (Präsidentenpalast) ».

Und ich bleibe dabei: Rechtlich ist das Heuchelei.

Er hätte von Anfang an sagen können: «Ich muss die Macht ergreifen, weil die Situation unhaltbar geworden ist. Das ist eine von mir geführte und vom Volk gestützte Revolution». Das hätte er sagen können, aber er hat es vorgezogen, die Verfassung nicht völlig über Bord zu werfen, vielleicht in Anbetracht des wahrscheinlichen Widerstandes aus dem In- und Ausland, der seine Legitimität in Frage gestellt hätte, wenn er Parlament und Verfassung komplett ausrangiert hätte. Ich glaube, er hat dies in Betracht gezogen.

Das Dekret vom 22. September ist aber in Wirklichkeit nicht sehr detailliert, denn es enthält nur 23 Artikel. Es ist ein kurzer, aber sehr dichter Text, der etwas Grundlegendes und sehr Gefährliches enthält. Er besagt, dass, wenn die verfassungsmäßige und rechtliche Legitimität gegen den Willen des Volkes verstößt, und da das Volk die wahre Souveränität besitzt, alle Verfahren aufgegeben werden müssen, um nur den Willen des Volkes zu wahren. Philosophisch betrachtet finde ich das sehr wichtig, aber praktisch gesehen ist es sehr gefährlich. Denn es eröffnet Möglichkeiten, die Existenz von Verfahren, Mechanismen und Institutionen in Frage zu stellen. Diese beruhen jedoch auf dem Grundgedanken des Rechts, der die Vorrangigkeit und Unveräußerlichkeit des individuellen Rechts vorsieht. Wenn wir aber alle Schutzmechanismen und Kontrollmechanismen, die die Demokratie garantieren, unter dem Vorwand verwerfen, dass sie dem Willen des Volkes widersprechen würden, werden wir nicht verhindern können, dass in ein oder zwei Jahren jemand anderes das Gleiche tut.

Das zweite Element, das an diesem Dekret stören könnte, ist die Tatsache, dass es die Beibehaltung der Präambel und der ersten beiden Kapitel der Verfassung vorsieht, aber auch alle Bestimmungen, die nicht im Widerspruch zum Dekret vom 22. September stehen. Damit will er vorsichtshalber jene «beruhigen», die sich um die Wahrung der [in Kapitel 2 der Verfassung garantierten] Freiheiten sorgen. Aber das ist falsch! Kapitel 2 der Verfassung ist eine Erklärung von Rechten, aber sie garantiert nicht den Rahmen, in dem Bürger*innen diese Rechte genießen können. Dies ist im Rest der Verfassung detailliert geregelt. Die rechtlichen Mechanismen zur Gewährleistung der Freiheiten sind nicht in Kapitel 2 niedergeschrieben.

Darüber hinaus wurde alles, was sich in der Verfassung auf die kommunale Macht bezieht, außer Kraft gesetzt und unterliegt nun einer Auswahl, was beibehalten und was gestrichen werden soll. Alles, was in den Zuständigkeitsbereich des Parlaments fiel, ist nun das Vorrecht Saïeds. Er hat den gesamten Artikel 65 der Verfassung an sich gezogen, der sich mit der Gesetzgebung befasst. Er behauptet, ein «Ingenieur» des Rechts zu sein, aber das stimmt aus zwei Gründen nicht: Zunächst sagt er, dass alles, was Teil des Gesetzes war, in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Aber er wird von nun an der einzige sein, der Gesetze erlässt, also muss er das nicht sagen. Er ist jetzt sowohl Gesetzgeber als auch Vollstrecker. Er rühmt sich dafür, das sich auf die Menschenrechte beziehende Kapitel 2 der Verfassung nicht angetastet zu haben, während er sich [grundsätzlich] das Recht gegeben hat, alle Menschenrechte anzutasten!

Da Saïed aus gesetzlicher und rechtlicher Sicht nun alle Kompetenzen auf sich vereint hat, warum beteuert er dann immer wieder, dass das keine Auswirkungen auf Rechte und Freiheiten haben werde? Er mag die Rechte nicht direkt beeinträchtigen, aber er kann die Mechanismen beeinträchtigen, die die Achtung dieser Rechte garantieren – zum Beispiel als er die Arbeit der Nationalen Antikorruptionsbehörde (INLUCC) unterbrach. Anfang Oktober begann er, in einer Art Drohgebärde den Ton gegenüber der Unabhängigen Obersten Wahlbehörde (ISIE) zu verschärfen. Wenn die ISIE sich weiter kritisch gegenüber dem Präsidenten äußert, könnte mit ihr das Gleiche passieren wie mit der INLUCC und ISIEs Büros könnten geschlossen werden. Das ist sehr gefährlich, denn genau hier können Rechte und Freiheiten beeinträchtigt werden. Gerade eine Einrichtung wie ISIE soll über politische und bürgerliche Rechte wachen, genau wie die INLUCC.

Ist Saïed die wahre Gefahr? Oder sind es jene, die nach ihm kommen werden?

Saïed ist selber bereits gefährlich! Alles, was wir nach ihm erleben werden, ist bereits von ihm gemacht worden.

Was Kaïs Saïed seit dem 25. Juli gemacht und weiterhin tun wird, ist es, die tunesische Gesellschaft darauf vorzubereiten, jedwede Diktatur zu akzeptieren.

Das ist die eigentliche Gefahr und nicht nur, was nach ihm kommen wird. Er ist dabei, die Idee der Demokratie an sich zu zerstören. Denn Menschen fragen sich jetzt: «Was hat uns die Demokratie gebracht? Was haben wir durch Meinungsfreiheit gewonnen?» Die primäre Gefahr ist Saïed. Er ist in der Lage, den Boden für jede Art von Diktatur zu bereiten. Schlimmer noch: Wer sagt, dass er nicht nach einer Weile von der Armee gestürzt werden kann? Es gibt nichts, was Akteure, die stärker sind als er, daran hindern könnte. Die Armee ist seit Tunesiens Unabhängigkeit immer im Hintergrund geblieben, aber das ist seit dem 25. Juli nicht mehr der Fall. Schon vorher hat Kaïs Saïed die Armee zunehmend stärker eingesetzt – und das ist sehr gefährlich. Normalerweise ist die Armee objektiv und hält sich von politischen Spielchen fern. Es ist eher das Innenministerium, das immer gefährlich war, weil es sich in politische Spiele eingemischt hat.

Aber Saïed bringt eine neue Akteurin ins Spiel, die bisher nicht politisiert war und wie er keine Ahnung von Politik hat. Tunesiens Armee war noch nie in Politik involviert. Doch damit wird sie genauso gefährlich wie er, denn auch wenn die Armee in gewisser Weise an der Macht ist, hat sie keine politische Erfahrung. Ich habe Angst vor seinem Handeln und vor dem, was als nächstes kommt. Interessanterweise reagiert er immer auf jene, die sagen, dass dies kein Putsch war. Man muss sich also fragen, warum ein Staatschef so defensiv ist? Als ich öffentlich gesagt habe, dass Saïed eine unmittelbare Gefahr darstellt, gab das Präsidialbüro am nächsten Tag eine Erklärung ab, in der es hieß, dass «einige sagen, die unmittelbare Gefahr gehe von Karthago aus». Das finde ich besonders gefährlich, weil es so aussieht, als ob er es persönlich genommen hat. Und Diktatoren nehmen alles persönlich. Es handelt sich um ein schönes diktatorisches Projekt mit einer Bevölkerung, die nach zehn Jahren politischer Blockade und wirtschaftlicher Probleme erschöpft ist. Die Menschen sind jetzt sogar bereit, Abir Moussi [Vorsitzende der Parti Destourien Libre und ehemaliges Mitglied der Partei des 2011 gestürzten Ex-Diktators Zine El Abidine Ben Ali] zu akzeptieren. Moussi führt weiterhin die Umfragen für die Parlamentswahlen an.

Saïed hat auch bis zu einem gewissen Grade die Justiz übernommen. Ich verstehe aber nicht genau, wie er rechtlich und verfassungsmäßig gesehen die Justiz kontrollieren kann? Gibt es Nachweise dafür, dass er sie bereits kontrolliert?

In seiner Rede vom 25. Juli hat sich Kaïs Saïed zum Leiter der Staatsanwaltschaft ernannt. Er sagte das mündlich. Aber einen Generalstaatsanwalt gibt es in Tunesien seit 2014 nicht mehr. Damals gab es die Debatte, ob der Justizminister auch Chef der Staatsanwaltschaft sei. Es wurde aber immer argumentiert, dass es besser wäre, eine unabhängige Justiz zu haben und damals hatte nicht einmal der Justizminister diese Kompetenzen. Saïed hat sich am 25. Juli zwar mündlich zum Generalstaatsanwalt ernannt, dies jedoch nie schriftlich festgehalten. Das ist sehr wichtig. Am 26. Juli empfing er den Präsidenten des Obersten Richterrates (CSM). Ich glaube, dass diese Institution Kaïs Saïed bei diesem Treffen mündlich klar gemacht hat, dass es einfach nicht möglich ist, Leiter der Staatsanwaltschaft zu werden.

Ich glaube also, Saïed wollte sich richterliche Befugnisse anmaßen, wurde aber schließlich in gewisser Weise zur Ordnung gerufen. Dies wurde nicht schriftlich erwähnt, weder im Dekret vom 26. Juli noch in jenem vom 22. September. Aber man muss sehr vorsichtig sein: Am 23. Juli hat er den Generalstaatsanwalt der Militärjustiz entlassen. Und nur wenig später, Anfang August, ernannte er einen neuen Generalstaatsanwalt der Militärjustiz. Er wusste sehr genau, dass die zivile Strafjustiz großen Widerstand leisten würde. Dies geschah in der Tat als ihn der CSM in dieser Frage unter Druck setzte. Aber er hat dennoch die Kontrolle über die Militärjustiz. Deshalb wird seit dem 25. Juli das Gros laufender Verfahren vor Militärgerichten verhandelt. Und deshalb hören wir nicht auf, ein Ende der Prozesse gegen Zivilisten vor der Militärjustiz zu fordern.

Selbst wenn Saïed den Eindruck erweckt, dass er nicht der Leiter der zivilen Staatsanwaltschaft ist, so ist der doch der Leiter der militärischen Staatsanwaltschaft. Das ist wichtig, denn rechtlich gesehen ist der Staatschef auch der oberste Befehlshaber der Streitkräfte und damit aller militärischer Strukturen, einschließlich der Militärjustiz. Im Gegensatz zu zivilen Gerichten sind Militärgerichte nicht autonom und unabhängig. Ich glaube, dass Saïed die Justiz durch bestimmte Nischen, die er kontrolliert, entschlossen manipuliert. Einige der jüngsten Verhaftungen haben nur eine politische, aber keine juristische Bedeutung. Wenn Menschen eines Verbrechens verdächtigt werden, sollten sie vor Gericht gestellt werden. Warum werden Menschen, die derzeit mit Reiseverboten belegt sind oder unter Hausarrest stehen, nicht vor Gericht gestellt? Saïed mischt sich mittels Militärjustiz entschlossen in Justizangelegenheiten ein.

Sprechen wir über bürgerliche Freiheiten: Seit dem 25. Juli gab es zahlreiche Vorfälle, die die Zivilgesellschaft sehr beunruhigen. Dennoch sehen wir immer noch kein systematisches Vorgehen gegen Gegner*innen der Maßnahmen vom 25. Juli, oder?

Ich würde das Gegenteil behaupten. Sie sprechen von «Vorfällen», ein Begriff, der gewiss keine systematischen Repressalien impliziert, aber die Summe und Kontinuität dieser Vorfälle bleiben ein Indikator. Außerdem sind es die Worte Saïeds, die meiner Meinung nach die größte Gefahr darstellen. Seine Reden sind hasserfüllt und gewaltsam. Wenn er von Verschwörungen spricht, von Menschen, die mit ausländischen Mächten konspirieren, immer ohne sie beim Namen zu nennen, dann stachelt er die Menschen dazu auf, auf Jagd nach «Volksverrätern» zu gehen. Ein gutes Beispiel dafür sind die ihn unterstützenden Proteste vom 3. Oktober, wo Listen mit Namen öffentlich zur Schau gestellt wurden. Ich glaube also, dass die Hauptgefahr, die Kaïs Saïed darstellt, seine Reden und die Verharmlosung von Gewalt ist. Und genau hier kann man die Repression als systematisch bezeichnen.

Am Tag nach dem 25. Juli war der Rechtsanwalt Yadh Ben Achour der erste, der in einer Radiosendung das Ereignis vom Vortag als «Staatsstreich» bezeichnete und dies mit rechtlichen und juristischen Argumenten untermauerte. Der Präsident der Republik nannte Ben Achour daraufhin einen «Scharlatan», «Hexendoktor» und alten Mann, der psychologische Behandlung bräuchte. Wenn man so etwas über einen Menschen sagt, noch dazu über seinen ehemaligen Juraprofessor, was sollen die Menschen dann denken? Dass Ben Achour zum Feind der Revolution geworden ist. Damit stacheln sie Menschen an, alle Unterschiede abzulehnen und genau darin liegt die «systematische» Gefahr. Die Drohungen gegen Journalist*innen zeigen dasselbe, nämlich, dass der Präsident Unterschiede und Vielfalt ablehnt.

Inwieweit kann die Zivilgesellschaft mögliche Versuche des Präsidenten, in Tunesien erneut eine Autokratie einzuführen, zurückdrängen?

Ich glaube, dass Kaïs Saïed seit dem 25. Juli etwas Folgenschweres gelungen ist, nämlich die Zivilgesellschaft ein wenig zu spalten. Meine Association Tunisienne pour la Défense des Libertés Individuelles (ADLI) ist Teil des Kollektivs für die Verteidigung individueller Freiheiten, in der 44 Organisationen zusammengeschlossen sind, unter anderem die Tunisian Association of Democratic Women (ATFD), die Tunesische Menschenrechtsliga (LTDH) und Avocats sans Frontieres. Am 26. Juli schlug das Kollektiv vor, eine Stellungnahme abzugeben, um vor der Gefahr eines autoritären Kurses durch den Putsch des Präsidenten zu warnen. Von den 44 Mitgliedern des Kollektivs unterstützten nur sieben diese Erklärung. Das ist sehr aufschlussreich. Bei einer Online abgehaltenen Sitzung am 30. Juli haben wir festgestellt, dass die Zivilgesellschaft zumindest zu Beginn zweigeteilt war. Man könnte sie sogar in drei Gruppen aufteilen: eine Minderheitengruppe, bestehend aus den sieben Organisationen, die die Ereignisse des 25. Juli deutlich als Staatsstreich bezeichneten und vor einer Bedrohung für die Demokratie warnten. Die zweite Gruppe wollte die Ereignisse nicht als Staatsstreich bezeichnen, sondern plädierte für Zurückhaltung und ein sorgfältiges Monitoring der weiteren Entwicklungen. Die dritte Gruppe unterstützte Kaïs Saïed voll und ganz.

Daher wollten wir uns zusammenschließen, um ein gemeinsames Vorgehen zu vereinbaren. Erst kürzlich hat eine große Anzahl tunesischer Organisationen begonnen, die von Kaïs Saïed ausgehende Gefahr zu erkennen. Es dauerte fast zwei Monate, bis Verbände wie Tunesiens Journalistengewerkschaft (SNJT), die ATFD und die LTDH die Gefahr erkannten. Sie haben verstanden, dass Kaïs Saïed Partizipation und Dialog nicht unterstützt nachdem sie zunächst gedacht hatten, der Präsident würde sie in die Debatte einbeziehen. Erst dann wurde ihnen klar, dass Saïed allein entscheidet und keine anderen Instanzen einbezieht.

Um ihre Arbeit fortzusetzen muss die Zivilgesellschaft eine starke Strategie entwickeln. Viele ihrer Mitglieder haben seit dem 25. Juli an Glaubwürdigkeit verloren, sowohl bei anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen als auch auf politischer Ebene. Die Wahrheit ist, dass der Präsident die Menschen nicht respektiert, die ihn für eine Gottheit halten und nur Gutes über ihn sagen. Und er macht keinen Hehl daraus. Er ist der Ansicht, dass jene, die behaupten ihn zu unterstützen, nur darauf abzielen, sich seinem Team anzuschließen und an die Macht zu kommen. Um voranzukommen braucht die Zivilgesellschaft eine radikal andere Arbeitsstrategie. Saïed hat der Zivilgesellschaft einen Schlag versetzt, indem er sie mit dem bürgerlichen Milieu, den Korrupten und jenen, die mit internationalen Institutionen zusammenarbeiten, in Verbindung brachte. Es ist ihm gelungen, der Bevölkerung dieses Bild der Zivilgesellschaft zu «verkaufen» und es wird für die Zivilgesellschaft sehr schwierig werden, die Bevölkerung «zurückzugewinnen». Ja, die Zivilgesellschaft wird ihre Rolle spielen, aber sie ist auch geschwächt worden. Kaïs Saïed ist nicht nur gegen politische Parteien, sondern auch gegen Vereine und Organisationen. Ob sie nun politisch oder assoziativ sind; für ihn sind alle vermittelnden Organisationen gleich. Und ich versichere Ihnen, dass sein nächstes Ziel die Zivilgesellschaft sein wird, wenn wir ihn sein Projekt fortsetzen lassen.

Aber wie kann die Zivilgesellschaft jetzt reagieren, um einen autoritären Rollback zu verhindern?

Ich glaube, das erste, was wir tun müssen, ist die Bildung einer Front, um unsere Erwartungen an den Präsidenten klar zu formulieren. Den Anfang haben bereits sechs Organisationen geleistet – jene sechs, die den Präsidenten am 26. Juli getroffen haben (SNJT, LTDH, ATFD, Association des Femmes Tunisiennes pour la Recherche sur le Développement, Forum Tunisien pour les Driots Economiques et Sociaux, CSM). Diese sechs Organisationen sind mit Ausnahme des CSM alle Mitglieder des Kollektivs für die Verteidigung individueller Freiheiten. Im Idealfall sollten sich diese Vereinigungen gegenüber anderen Organisationen öffnen, um ihre Anzahl zu erhöhen und eine Front zu bilden, die die Forderungen vorantreiben kann.

Darüber hinaus muss die Zivilgesellschaft aufhören, politische Parteien zu kritisieren, denn wenn sie das nicht tut, wer soll dann die politische Führung übernehmen? Ich glaube, dieser Aspekt ist von grundlegender Bedeutung, um die Arbeit zwischen Zivilgesellschaft und politischen Parteien wiederaufzunehmen. Ich würde zunächst das Entwerfen eines Fahrplans empfehlen, in dem die Zivilgesellschaft ihre eigenen Meinungen wiedergibt und ihre Erwartungen formuliert, die über Kritik hinausgeht. Wir hoffen insbesondere, dass in sechs Monaten Parlamentswahlen abgehalten werden können, um den Weg für das Ende dieser Übergangsperiode zu ebnen. Wir fordern auch, dass die Ausarbeitung der neuen Verfassung nicht im Präsidentenpalast hinter verschlossenen Türen stattfinden darf.