Bericht | Parteien / Wahlanalysen - Mexiko / Mittelamerika / Kuba Keine legitime Wahl

Die Wahlen in Nicaragua sind ohne Opposition und aufgrund politischer Repressionen eine Farce.

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Autorin

Barbara Lucas,

Proteste für die Freilassung politisch Gefangener in Managua 2018 CC BY 2.0, Jorge Mejía peralta

Die Wahlen in Nicaragua am 7.11 sind ohne Opposition und aufgrund politischer Repressionen im Vorfeld eine Farce. Zivilgesellschaftliche Organisationen rufen zur Wahlenthaltung auf.

Am kommenden Sonntag, den 7. November, können in Nicaragua alle Bürger*innen ihre Stimme für die Präsidentschafts- und Parlamentswahl abgeben. Zur Wahl steht im Grunde jedoch nur eine relevante Partei: die ehemals aus der sandinistischen Revolution hervorgegangene Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) unter der Parteiführung von Daniel Ortega und seiner Ehefrau, der aktuellen Vizepräsidentin, Rosario Murillo. Aktivist*innen, soziale Bewegungen und Organisationen kritisieren seit über einem Jahr, dass diese Wahlen keine rechtmäßige Basis haben. Hinzu kommen Studien, die das Offensichtliche belegen und zunehmend internationalen Druck auf Ortega und Murillo fordern: «Angesichts der schweren Regelverletzungen im Wahlprozess sowie aufgrund der Verfolgung und des faktischen Verbots und Ausschlusses der Opposition und ihrer Kandidaten vom Wahlprozess», so ein umfangreicher Bericht parteipolitisch unabhängiger Organisationen, sei es unerlässlich, «dass demokratische Regierungen, internationale Organisationen und weitere internationale Akteure ihre Möglichkeiten nutzen, um auf die fehlende Legitimität der Exekutive und Legislative Nicaraguas hinzuweisen.»

Barbara Lucas ist Mitarbeiterin im «Informationsbüro Nicaragua» in Wuppertal.

Aufrufe und Berichte solcher Art häufen sich. Die kürzlich veröffentlichte Studie des in Stockholm angesiedelten Instituts IDEA International («Institute for Democracy and Electoral Assistance»), des venezolanischen Zentrums für Politik- und Regierungsforschung (CEPyG) und der nicaraguanischen Bürger*inneninitiative «Urnas Abiertas» (Offene Urnen) belegt, wie Ortega und Murillo systematisch vorgehen, um staatliche Institutionen in ihrem Interesse zu manipulieren. Konkret geht es um die Besetzung des Obersten Wahlrates mit persönlichen Vertrauten des Präsidenten, die Manipulation des Wähler*innenregisters oder den Ausschluss sowohl linker wie auch rechter oppositioneller Parteien und Wahlbündnisse. Hinzu kommen die willkürlichen Verhaftungen von sieben Oppositionskandidat*innen, die eine Aussicht auf einen Wahlerfolg hatten, sowie polizeiliche Kontrollen und alltägliche Gewalt gegen jegliche regierungskritische Meinungsäußerung und nicht zuletzt die illegale Nutzung staatlicher Gelder für die Wahlkampagne der FSLN und für Wahlgeschenke an regierungstreue Anhänger*innen. Solche Berichte über die Vorbedingungen dieser Wahlen verdeutlichen, dass der Urnengang am 7. November nicht zur Bildung einer neuen legitimen Regierung in Nicaragua führen kann und damit die seit spätestens 2018 bestehende politische Krise so nicht zu lösen ist.

Politische Repression

Seit es im April 2018 zu landesweiten Protesten zunächst gegen eine Rentenreform gekommen war, sind inzwischen mehr als 50 zivilgesellschaftliche Organisationen verboten worden. Im Zuge heftiger Repressionen und Inhaftierungen insbesondere von Studierenden hielten die Proteste zunächst mehrere Monate an. Das gewaltvolle Vorgehen Ortegas mit über 300 Toten, Hausdurchsuchungen, willkürlichen Festnahmen und dem Einsatz von Paramilitärs, löste eine Flucht ins Exil insbesondere nach Costa Rica, die USA und Europa aus, die bis heute anhält. So hat die systematische Repression seit 2018 und eine neue Welle von Verhaftungen in den letzten Monaten fast alle Aktivist*innen ins Exil gezwungen. Ein Beispiel hierfür ist Ivania Álvarez. Sie gehört zum Bündnis sozialer Bewegungen AMS («Articulación de Movimientos Sociales») und ist außerdem im Koordinierungsgremium des Oppositionsbündnisses UNAB («Unidad Azul y Blanco»), einem Zusammenschluss oppositioneller Akteur*innen und sozialer Organisationen, zu der auch die antikapitalistisch orientierte AMS gehört. Außerdem wurde Álvarez im Jahr 2019 für zwei Monate als Teil der Gruppe der «Aguadores» – den Wasserträger*innen – verhaftet, als sie sich mit den hungerstreikenden Müttern der politischen Gefangenen solidarisierten und ihnen Trinkwasser bringen wollten. Im Juli 2021 erklärte Álvarez in einem Interview, «Nicaragua wegen der ständigen Überwachung und der Schikanen durch die Nationalpolizei und die Paramilitärs zu verlassen.» Davor musste sie mehrmals umziehen, da ihre Unterkünfte wurden ständig überwacht wurden: «Überall, wo ich hinging, wurde ich von Paramilitärs verfolgt. (…) Mehr als zwei Jahre lang mit der Überwachung zu leben und im Gefängnis gewesen zu sein, war nicht so hart wie Nicaragua verlassen zu müssen. Es ist wirklich ein Gefühl des Verlustes auf allen Ebenen.» Sie sei jedoch mit der Hoffnung gegangen, «von einem sichereren Ort aus weiter meinen Beitrag leisten zu können.» Mit der Entscheidung Nicaragua zu verlassen ist Álvarez bei weitem nicht allein. Mehr als 40 Journalist*innen verließen in den letzten zwei Monaten das Land und arbeiten nun bei digitalen Medien wie etwa Hora Cero, 100% Noticias oder Confidencial. Die bekanntesten Schriftsteller*innen des Landes, Sergio Ramírez und Gioconda Belli, beides ehemalige Weggefährten von Ortega, wurden wie weitere über 100.000 Nicaraguaner*innen ebenfalls ins Exil gezwungen.

Dabei bedient sich die Regierung des Narrativs vom angeblich US-finanzierten Staatsstreich und schafft es damit, die Gesellschaft extrem zu polarisieren. Alle regierungskritischen Stimmen werden nach diesem Muster als «Vaterlandsverräter» verfolgt, oder wegen angeblicher Geldwäsche aus Mitteln US-amerikanischer Stiftungen angeklagt. Die Verhafteten aus allen gesellschaftlichen Gruppen, seien es linke Aktivist*innen oder wie zuletzt die Vorsitzenden des Unternehmer*innenverbandes Consejo Superior de la Empresa Privada (COSEP), werden nicht nur 90 Tage in Isolationshaft gehalten, sondern mit ständigen Verhören, Essen- und Schlafentzug und fehlender medizinischer Behandlung in ihren elementarsten Rechten bedroht und körperlich an den Rand ihrer Existenz gebracht. Die aktuell 150 politischen Gefangenen sind Verhandlungsmasse des Regimes für einen möglichen zukünftigen Dialog vor allem mit traditionellen Unternehmer*innen, die fest eingesessene strategische Positionen besetzen und auf deren Kooperation Ortega angewiesen ist.

Rechte Allianzen und internationale Isolierung

Lange Zeit hatten viele oppositionelle Kräfte trotz der gescheiterten Dialogversuche in den Jahren 2018 und 2019 gehofft, dass die Wahlen ein politischer Weg aus der Legitimitätskrise der Regierung sein könnten und auf diese Weise zivile Formen der Konfliktlösung eine Chance erhalten könnten. Die Repressionen im Vorfeld der Wahlen lassen nichts dergleichen erwarten. Laut einer Umfrage des renommierten lateinamerikanischen Umfrageinstituts CID-Gallup («Consultoría Interdisciplinaria en Desarrollo») geben zwar mit 65 Prozent fast ein Drittel der Wahlberechtigten an, dass sie für eine der Oppositionskandidat*innen gestimmt hätten. Da diese aber ohne Ausnahme nach wie vor in Haft sind, können die Wahlen in keiner Weise den Willen der Bevölkerung widerspiegeln. Das wird inzwischen auch von der US-Regierung, der Europäischen Union, sowie von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und den meisten lateinamerikanischen Regierungen so anerkannt. Ortega und Murillo sind damit international weitgehend isoliert.

Da der ehemalige Führungskader der sandinistischen Revolution bereits in den 1980er Jahren zwei Amtszeiten das Land regierte, wird er perspektivisch der Präsident mit der längsten Regierungszeit in Lateinamerika werden. Dafür musste er allerdings schon 1996 in einem Pakt mit dem rechten Politiker und ehemaligen Präsidenten Arnoldo Alemán (1997-2002) die Verfassung ändern, um erneut kandidieren zu dürfen – einer der bis dahin eindeutigsten Brüche mit den Idealen der sandinistischen Revolution. Seine Herrschaftsform wurde seit seiner so eingespielten Wiederwahl im Jahr 2007 zunehmend autoritärer und wird von vielen Kritiker*innen heute als Familiendiktatur bezeichnet, da fast die gesamte Macht im Staat, von politischen Ämtern bis Medienhäusern, in den Händen des Ehepaars Ortega-Murillo und ihrer Kinder liegt. Wirtschaftlich stützt sich das Regime auf ein extraktivistisches Wirtschaftsmodell mit dem Export von Agrarprodukten wie Kaffee und Kakao und der Ausbeutung der Rohstoffe vor allem aus der von Indigenen und Afro-Nicaraguaner*innen bewohnten Atlantikküste des Landes. Damit steht die Wirtschaftspolitik der Regierung in Widerspruch zu ihrem eigenen anti-imperialistischen Diskurs.

Opposition ruft zur Wahlenthaltung auf

Die FSLN braucht also zum Wahltag medial verwertbare Bilder von langen Schlangen vor den Wahlbüros und einer hohen Wahlbeteiligung, um das Ergebnis hinterher rechtfertigen zu können. Dabei setzt die FSLN auf die Mobilisierung durch die ihr treu ergebenen kommunalen Parteistrukturen. Hier sei gesagt, dass man sich die FSLN nicht als demokratisch organisierte Partei vorstellen darf, sondern eher als eine hierarchische Struktur, die den Anweisungen der Vizepräsidentin Rosario Murillo folgt. Die Anweisungen in den lokalen Strukturen der FSLN lautet, in den Vierteln Leute zu besuchen und zum Wahllokal zu begleiten, was schon den Akt des Nichtwählens zum Widerstand macht. Denn Wähler*innen am Wahltag selbst zu besuchen und zur Urne zu begleiten, wie es scheinbar unverfänglich heißt, schafft eine enorme Hürde für Menschen auch von ihrem Recht, nicht wählen zu gehen, Gebrauch zu machen. Ein Teil der Bevölkerung will sich umgekehrt auch das Recht, wählen zu gehen, nicht nehmen lassen und plädiert eher dafür «ungültig» zu wählen, was jedoch unter den gegebenen Bedingungen dem Wahlbetrug Vorschub leistet.

Die Mehrheit der demokratischen und progressiven Kräfte ruft dazu auf, nicht wählen zu gehen. Schon vor einigen Wochen haben bei einer Pressekonferenz aus dem Exil das Oppositionsbündnisses Unidad Nacional Azul y Blanco, der FDN (Frente Democrático Nicaragüense), die Bewegung der Bäuer*innen, Unamos (früher MRS), die AMS das feministische Bündnis Articulación Feminista sowie große Teile der US-amerikanischen und europäischen Diaspora dazu aufgerufen, den Wahlen fernzubleiben. Die Menschenrechtsverteidigerin Ana Quirós von der Articulación Feminista bezeichnete dies als einen wichtigen Schritt «zur Einheit [der Opposition] in der Praxis.» Das ist insofern bedeutend, da es in der sehr breiten Opposition völlig verschiedene, sich auch widersprechende, Interessen gibt und der Minimalkonsens lediglich darin besteht, dass Nicaragua ein politisches System mit Garantien braucht, das die Artikulation dieser Unterschiede ermöglicht.

Rolle der Kirche

Ein Großteil der Bevölkerung findet indessen Zuflucht im Alltäglichen, im Vergessen und Verdrängen, im Glauben, der Spiritualität und den seelsorgerischen Angeboten der Kirchen. Ortega und Murillo beanspruchen zwar die Unterstützung der protestantischen Kirchen für sich, aber auch das mag nur auf ihre Führungspositionen zutreffen. Die katholische Kirche ist dagegen regierungsfern. Sie hatte im Jahr 2018 eine erste Dialogrunde organisiert, die jedoch ergebnislos abgebrochen wurde. Eine zweite Dialogrunde zwischen dem unternehmerfreundlichen eher Oppositionsbündnis Alianza Cívica und dem Regime führte im März 2019 zur Unterzeichnung einer Vereinbarung, deren Umsetzung vom katholischen Nuntius und einem Vertreter der OAS bezeugt werden sollte. Der Papst und auch sein Nuntius hüllen sich seitdem allerdings in Schweigen, haben sich weitgehend zurückgezogen und die meisten Vereinbarungen wurden nie umgesetzt. Die katholische Kirche bietet heute vielen Menschen seelischen Beistand und ist einer der wenigen Orte, wo die erlittene Gewalt und die Traumata der Menschen anerkannt werden. Der Bischof von Matagalpa, Rolando Álvarez, wies vor wenigen Tagen und im Hinblick auf die Wahlen darauf hin, dass «Angst lähmt und krank macht» und dass niemand und keine Drohungen, Erpressungen, Aktionen oder Einschüchterungen in eine frei getroffene Entscheidung eingreifen können. Ein Zufluchtsort für alle kann die Kirche dann jedoch auch nicht sein. Denn wenn es um das Recht auf Abtreibung, gerade auch nach Vergewaltigung oder bei Minderjährigen oder den Schutz vor, sowie Anerkennung von sexualisierter Gewalt geht, schweigt die Kirche in unverantwortlicher Weise.

Auch wenn es Zufluchtsorte gibt und sich die Menschen in ihrem Alltag einrichten, die erlittene Gewalt ist in den Köpfen und Herzen der Menschen weiterhin präsent und wird durch die alltägliche Polizeipräsenz und den Horror in den Gefängnissen genährt. Regierungskritisches Handeln und jegliche Form des Widerstandes bleiben damit lebensgefährlich. Resilienz aufzubauen, widerständige Organisationsstrukturen zu schaffen und aus dem Exil heraus zu agieren scheint dem aktuellen Kräfteverhältnis eher zu entsprechen. Unter der Überschrift «Wir müssen neue Wege finden, um Ortega von der Macht zu vertreiben», sagte die ehemalige Kommandantin der sandinistischen Revolution und heute im Exil lebende Monica Baltodano der Tageszeitung La Prensa: «Die Opposition muss sich darüber im Klaren sein, dass ein ‹kalter› Dialog bedeutet, sich die Flügel stutzen zu lassen und erneut betrogen zu werden. (…) Die Opposition sollte nur dann verhandeln, wenn es zu einer Erhitzung der politischen Dynamik mit neuen Protesten und Kämpfen der Bürger*innen kommt. Solche Verhandlungen müssten als ersten Punkt den Abgang von Daniel Ortega von der Macht beinhalten».

Genauso wenig wie im April 2018 der Ausbruch der Proteste und ihre Dynamik vorhersehbar war, lässt sich die Dynamik nach den Wahlen prognostizieren. Mit Sicherheit kann nur gesagt werden, dass diese Wahlinszenierung keine legitime Regierung hervorbringen kann.