Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte Holger Böning: Volksarzt und Prophet des Schreckens, Bremen 2016.

Böning rekonstruiert chronologisch das Leben und Werk von Julius Moses; eine Biographie, der eine große Leserschaft zu wünschen ist.

Information

Julius Moses, 1868 in Posen als Jacob Moses geboren, war in vielerlei Hinsicht ein Vorkämpfer. Als praktizierender Arzt formulierte er eine Medizinkritik von links, die den Patienten als Person und die sozialen Ursachen von Leid und Krankheit in den Blick nahm. Als Politiker stieß er Debatten zur Verbesserung der Volksgesundheit, zum als Abtreibungsparagraphen bekannten §218 und zur Selbstmordrate unter Soldaten an. Als Publizist war er an der «jüdischen Renaissance» um 1900 beteiligt und im Kampf gegen den Antisemitismus aktiv. Werk und Wirken umfassend zu rekonstruieren und damit an den bedeutenden Politiker, Mediziner und Publizisten zu erinnern, ist der vorliegenden Arbeit bestens gelungen.

Böning rekonstruiert Leben und Werk chronologisch. Einzelne Kapitel thematisieren Kindheit und frühe Jugend in einer ostjüdischen Familie in Posen und Arnswald; das Medizinstudium in Greifswald; das zunehmende Interesse für die Beschäftigung mit dem Judentum und die Herausgabe des General-Anzeigers für die gesamten Interessen des Judentums; ferner den Wechsel der politischen Einstellungen in den Jahren zwischen 1908 und 1910, der zur Sozialdemokratie führte; die zwölf Jahre als Reichstagsabgeordneter und die «Jahre des Terrors und der zunehmenden Einsamkeit» nach 1933 (219 ff.). Die letzten neun Jahre im Leben von Moses, der im September 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet wurde, sind besonders eindringlich geschildert. Bönings Vorgehen ist dabei in weiten Teilen ein pressegeschichtliches.

«Nur für Utopien lohnt es sich zu kämpfen» (13), heißt es in einem dem Buch vorangestellten Zitat. Böning beschreibt Moses als integre Persönlichkeit mit starkem Gerechtigkeitsgefühl und großem sozialen Engagement. Weder spart er die Nachkriegskarrieren führender NS-Ärzte aus noch die politischen Überzeugungen seines Protagonisten. Über das Verhältnis von Moses gegenüber den deutschen Burschenschaften heißt es, dass «ihn der rückständige und verblödende Geist in diesen Vereinigungen anwiderte» (43).

Dass die Parteinahme für Moses zuweilen zu unglücklichen Formulierungen führt, kann an zwei Beispielen verdeutlicht werden. So ist nicht nachvollziehbar, warum im Kapitel über die Gebärstreikdebatte, in der Clara Zetkin und Rosa Luxemburg Gegenpositionen zu Moses bezogen, auf die Kinderlosigkeit Luxemburgs hingewiesen werden muss (138). An anderer Stelle spricht Böning von der von Moses und anderen abgegebenen Minderheitenentschließung und resümiert: «Moses, Quessel und Dittmann ließen es sich nicht nehmen, auch zu diesem Zeitpunkt noch die Sichtweisen und Ansichten zu vertreten, für die sie in der USPD gestanden hatten» (168). Das mag für Moses und Wilhelm stimmen, nicht jedoch für Ludwig Quessel, der zur Mehrheitssozialdemokratie gehörte und zum revisionistischen Flügel der Sozialdemokratie gezählt werden muss. Das Gesamtbild der Biographie, der eine große Leserschaft zu wünschen ist, trübt dies jedoch kaum.
 


Holger Böning: Volksarzt und Prophet des Schreckens. Julius Moses. Ein jüdisches Leben in Deutschland, Bremen 2016: edition lumière (410 S., 29,80 €).