Nachricht | Migration / Flucht - Osteuropa Zwischen praktischer Hilfe und politischer Kritik

Die humanitäre Krise an der polnisch-belarussischen Grenze und die Haltung der Linken in Polen

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Rettungsdecken als Zeichen der Unterstützung für die Flüchtenden an der polnisch-belarussischen Grenze bei der antifaschistischen Demonstration am polnischen Unabhängigkeitstag in Warschau. Foto: Rafał Milach, Archiwum Protestów Publicznych

Unabhängigkeitstag – wie die Welt Polen sieht

Jedes Jahr am 11. November, dem polnischen Unabhängigkeitstag, füllen sich die internationalen Medien mit Fotos von Tausenden von Menschen im Zentrum Warschaus, die weiß-rote Fahnen tragen und rote Raketen abfeuern. Viele der Teilnehmer tragen Neonazi-Symbole und Transparente mit homophoben, frauenfeindlichen und rassistischen Aussagen. Dieses Jahr konzentrierten sich ihr Hass auf die EU und die Flüchtenden an der polnisch-belarussischen Grenze. 

So wie die Medien in Polen und im Ausland jedes Jahr über diesen Tag berichten, könnte man meinen, es gäbe keine Alternative dazu. Doch in diesem Jahr waren am Unabhängigkeitstag 27 öffentliche Versammlungen in Warschau angemeldet. Darunter befand sich auch eine von der Koalicja Antyfaszystowska (Antifaschistische Koalition) organisierte Straßendemonstration mit mehreren Tausend Teilnehmer*innen unter dem Motto «Za Wolność Naszą i Waszą» (Für eure und unsere Freiheit). Pride-Fahnen und Thermodecken, das Symbol der neuen und wachsenden polnischen Bewegung für die Aufnahme von Geflüchteten, waren sehr präsent, ebenso wie Fahnen der polnischen linken Parteien. Über die antifaschistische Demonstration wurde in den Medien kaum berichtet und damit auch nicht über deren Hauptforderungen – die Aufnahme der Flüchtenden, die an der polnisch-belarussischen Grenze festsitzen.

Die polnischen Linksparteien in sozialen Medien und sozialen Bewegungen

Seit 2019 sitzt Lewica, die parlamentarische Koalition aus vier linken Parteien, der sozialdemokratischen SLD, der linksliberalen Wiosna, der jungen linken Partei Razem und der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), mit 49 Abgeordneten im polnischen Sejm, nachdem sie 12 Prozent der Stimmen erhalten hat. Dies bedeutete die Rückkehr der linken Parteien ins Parlament. Seitdem haben sich die Lewica-Abgeordneten zunehmend mit den sozialen Bewegungen in Polen solidarisiert, die sich auf drei Themen konzentrieren: Legalisierung der Schwangerschaftsabbrüche, Unterstützung für die LGBTQIA+-Community und jetzt neu, eine Bewegung für offene Grenzen.

Im Winter 2020/21 demonstrierten viele der Abgeordneten fast täglich gegen das Abtreibungsverbot und berichteten in den sozialen Medien aus verschiedenen Städten des Landes über die Proteste dort. Im August 2020 kleideten sich einige Abgeordnete der Linken zur Amtseinführung von Präsident Duda in den Farben der Pride-Fahne. Ende August diesen Jahres wurde ein Foto von Franek Sterczewski, einem unabhängigen Abgeordneten der Koalicja Obywatelska (Bürgerlichen Koalition) im Sejm, zu einem weitverbreiteten Meme im Internet. Er rannte vor dem polnischen Grenzschutz weg, während er eine IKEA-Tüte mit Lebensmitteln und Medikamenten für die 32 Afghanen trug, die an der polnisch-belarussischen Grenze festsaßen. 

Alicja Flisak ist Aktivistin, Sozialistin und lebt in Berlin. Sie ist Soziologin und arbeitet in der Internationalen Abteilung der Partei DIE LINKE.

Hanna Grześkiewicz ist Aktivistin und lebt in Berlin. Sie schreibt und forscht zu den Themen soziale Bewegungen, Osteuropa, Feminismus und Musik/Kultur. Sie ist auch Sprecherin der LINKE Berlin Internationals. 

Bis zur Verhängung des Ausnahmezustands an der Grenze zu Belarus am 2. September versuchten viele Abgeordnete, ihren Immunitätsstatus zu nutzen, um die vom Grenzschutz festgesetzten Flüchtenden zu erreichen. Sie hielten frühzeitig Pressekonferenzen ab, um auf die Geschehnisse hinzuweisen, so auch die Razem-Abgeordnete Daria Gosek-Popiołek. Sie nutzte ihr Abgeordnetenmandat und ihre Medienpräsenz, um die lokalen Behörden dazu zu bewegen, Asylanträge von zwei Gruppen Flüchtender an der Grenze anzunehmen. Selbst Abgeordnete können die Ausnahmezustandszone nun aber nicht mehr betreten. 

Humanitäre Hilfe wird von Aktivist*innen geleistet, die sich über die Bündnisse Grupa Granica (die Gruppe Grenze) oder Medycy na Granicy (Mediziner an der Grenze) koordnieren. Die Arbeit von Medycy na Granicy hat nun das Polnische Zentrum für internationale Hilfe übernommen, eine der größten polnischen NGOs, die normalerweise im Ausland humanitäre Hilfe leistet. Seit Wochen versuchten die Aktivist*innen professionelle Hilfe für die Menschen an der Grenze zu organisieren. Das Polnische Rote Kreuz öffnete schließlich Ende Oktober seine Standorte für die Sortierung von Spenden, Polens größte Wohltätigkeitsorganisation, WOŚP (Großes Orchester der Weihnachtshilfe), bot ihren Einsatz Anfang November an – die Krise dauert aber bereits seit Mitte August an.

Zivilgesellschaftliche Organisationen haben das Grenzgebiet unter sich in vier Abschnitte aufgeteilt, um die Lage vor Ort zu beobachten. Beteiligt daran sind erstens der Klub Inteligencji Katolickiej (Katholischer Intelligenzverein), ein Verein für die katholische Intelligenz, mit Ortsgruppen im ganzen Land. Es ist ein sehr buntes Bündnis mit unterschiedlichen politischen und sozialen Hintergründen. Zweitens Fundacja Ocalenie, eine polnische NRO, die Geflüchtete in Polen unterstützt, sich ein Leben in Polen aufzubauen. Drittens Dom na Wschodzie (Das Haus im Osten) ist eine vegetarische Agrotourismusorganisation im Białowieża-Urwald. Viertens Grupa Granica, ein Bündnis von mittlerweile 14 Organisationen, Verbände und individuelle Aktivist*innen, die ehrenamtlich Geflüchtete vor Ort unterstützen. Sie suchen nach Menschen in den Wäldern, versorgen sie mit dem Nötigsten, organisieren juristischen Beistand und vermitteln Informationen.

Doch die bedeutendste Hilfe wird von den Bewohner*innen der Ausnahmezone geleistet. Sie sind die einzigen, die offiziell die Zone betreten können. Das grüne Licht an den Häusern der Dorfbewohner*innen steht für ein Haus, das Geflüchtete willkommen heißt. Viele bringen in den frühen Morgenstunden Suppe, Snacks und süßen, heißen Tee zu den Menschen im Wald - und verschwinden, bevor die Militärpatrouillen kommen. Denn die lokale Bevölkerung war von den Grenzschützern und der Armee darauf hingewiesen worden, dass sie für ihre Hilfe verhaftet werden könnten. Dies ist nicht wahr, und die Grupa Granica führt deshalb eine Informationskampagne durch, um über die Rechtslage aufzuklären.

Die Mobilisierung der Menschen, die sowohl direkte Hilfe an der Grenze leisten, als auch auf den Straßen in Polen ist hoch. So wurde die Initiative «Suppen für die Grenze» ins Leben gerufen. Es wurden 2 500 Gläsern Suppe im gesamten Land, in Poznań, Łodz, Łomża, Gdańsk, Toruń und Lublin für die Menschen an der Grenze gesammelt. Die Gruppe «Mütter an der Grenze» aus Wrocław rief zu einer Demonstration an der Grenze der Notstandszone in Hajnówka auf, einer Grenzstadt, durch die viele Flüchtlinge gekommen sind. An ihrer zweiten Demonstration nahmen Menschen aus dem ganzen Land teil. Die Solidarität mit den Menschen auf der Flucht wächst vor allem in den Städten, aber auch langsam in der Grenzregion. Das grüne Licht ist im ganzen Land zu einem Symbol der Bewegung geworden. Erst vor wenigen Tagen wurde der ikonische Warschauer Kultur- und Wissenschaftspalast als Zeichen der Solidarität mit den Flüchtlingen und als Akt des Widerstands gegen die tödliche Grenzpolitik grün beleuchtet.

Die Situation an der Grenze und die Position der Linken

Das No Borders Team, das auch an der Grenze aktiv ist, ist eine soziale Bewegung aus verschiedenen polnischen Städten. Sie vertreten, dass kein Mensch illegal ist, und sprechen in ihrem Manifest davon, dass «sichere Grenzen solche sind, die nicht existieren». Neben der konkreten Hilfe, zum Beispiel durch Spendenkampagnen, wenden sie sich direkt an die Politik und fordern eine grundsätzliche Debatte zum Thema Flucht und Migration: «Anstatt darüber nachzudenken, wie wir uns am besten isolieren können, sollten wir uns darauf konzentrieren, das globale System zu ändern und anzupassen, um uns auf die kommenden Herausforderungen  vorzubereiten». Auch den polnischen Politiker*innen ist klar, dass das Thema «Migration» mit dem Bau einer Mauer nicht einfach erledigt wäre. «Wenn wir uns jetzt für Fremdenfeindlichkeit entscheiden, werden wir in einigen Jahren nicht nur ein Land sein, in dem die autoritäre Regierung die Menschen verachtet. Wir werden auch eine schwache, zunehmend alternde Gesellschaft mit einem ineffizienten Rentensystem und einer rückläufigen Wirtschaft sein» - sagt der fraktionslose Abgeordnete Franek Sterczewski in einem Interview mit Krytyka Polityczna. Er fordert eine europäische Lösung, die sich an der Strategie von Angela Merkel in 2015 orientiert und bezeichnet das bisherige Vorgehen der Europäischen Union in Hinblick auf die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze als reaktionär.

Auch die parlamentarische Linke äußert sich zur Lage an der Grenze, so Adrian Zandberg, einer der Gründer von Razem, während einer Pressekonferenz im Sejm. Er sagte, dass die «Hauptursache» des Problems die Anzahl der Flüge nach Minsk sei, von denen viele von Fluggesellschaften mit Sitz in EU-Ländern durchgeführt werden. Das Problem bestehe darin, meinte er, dass die derzeitige Taktik der PiS weder die Sicherheit noch die Geschlossenheit der Grenze gewährleistet habe. Aus diesem Grund müsse Polen mit seinen europäischen Partnern zusammenarbeiten - und sprach sich für Sanktionen gegen Fluggesellschaften und Flugverbote aus. Dies wurde inzwischen von der EU durch Sanktionsdrohungen durchgesetzt. Die Debatte in den Reihen der parlamentarischen Linken konzentriert sich entweder auf die Bereitstellung humanitärer Hilfe oder folgt einer ähnlichen Argumentationslinie wie Zandberg.

So sieht die parlamentarische Linke die Mitschuld des Westens an der Destabilisierung vieler Regionen in der Welt und die Mitverantwortung Polens bei der Suche nach angemessenen Lösungen, zugleich deuten sie in ihren jüngsten Erklärungen die Situation an der Grenze als «Konflikt» zwischen Polen und Belarus - und damit auch Russland. Sie sprechen von einem «hybriden Angriffen» zu sprechen, mit dem Ziel Polen und die EU zu destabilisieren. Von der parlamentarischen Opposition im Sejm sowie Teilen der polnischen Zivilgesellschaft wird eine «europäische Lösung» der humanitären Katastrophe an der polnisch-belarussischen Grenze gefordert: Und zwar mittels eines Einsatzes der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Es gibt die starken Hoffnungen innerhalb der polnischen parlamentarischen Opposition, dass die EU Polen von nationalistischen Tendenzen befreie würde. Deshalb wird davon ausgegangen, dass Frontex, als eine europäische Institution, die Lage an der Grenze humaner verwalten würde.

Die Debatte zur Migration und Flucht schwelt seit langem in Polen. Im Wahlkampf 2015 setze die PiS auf das Thema und widersetzte sich der Quotenreglung zur Aufnahme von Geflüchteten innerhalb der EU, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Doch 2015 waren die flüchtenden Menschen nicht an die polnischen Grenzen angekommen - sie standen nicht direkt von der Tür. Jetzt ist es anders. Eine breite Debatte um Flucht und Migration fängt in Polen gerade erst an. Erstaunlich spät angesichts dessen, dass Polen seit einigen Jahren der europäische Spitzenreiter in der Statistik zur Aufnahme von Migrant*innen ist. Diese kommen vor allem aus der Ukraine und Belarus gefolgt von Deutschland, Russland, Vietnam, Georgien und Indien und kommen, weil in Polen Arbeitskräfte fehlen.

Die Debatte unter Linken fängt erst an

Zwei der führenden Vertreter der außenparlamentarischen Linken Remigiusz Okraska und Lukas Moll tauschten sich kürzlich zum Thema Migration aus. Es ging um die Auswirkungen der Zuwanderung auf die Situation der Arbeitnehmer*innen insbesondere im Niedriglohnsektor. Laut Okraska muss ein Anstieg der Migration das Phänomen des Sozialdumpings auslösen, unter dem die Arbeiterklasse leiden werde, da sie mit Migrant*innen um Arbeitsplätze konkurrieren müssten. Dem widersprach Lukas Moll. Nicht die Zahl der Migrant*innen bestime die Lage der Arbeiterklasse, sondern der Grad der Organisierung zum Beispiel in den Gewerkschaften.

Piotr Szumlewicz, der Vorsitzender einer dem linken parlamentarischen Lager nahstehenden Gewerkschaft Zwiazkowa Alternatywa, kommentiert die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze viel über seine Social-Media-Kanäle. «Die Regierung kommt mit der Gesundheitskrise nicht zurecht und sie wisse nicht wie sie auf den Anstieg der Preise reagieren sollten. Die Regierung verwaltet den Staat schlecht, versucht also, von seiner Ineffizienz abzulenken und den sozialen Frust auf Flüchtlinge umzuleiten» kommentiert Szumlewicz und sprach sich für die Aufnahme der Menschen aus der polnisch-belarussischen Grenze aus.

In Polen ist also einiges in Bewegung: Auf den Straßen Polens finden regelmäßig Demonstrationen statt, die humanitäre Korridore und die Aufnahme von Geflüchteten fordern. Die Demonstrierenden halten Transparente mit Slogans wie «Grenze der Schande”, «Öffnet die Grenzen», «Schluss mit Folter», «Kein Mensch ist illegal» oder «Geflüchtete aufnehmen, Nazis rausschmeißen» hoch. Eine solidarische Bewegung formiert sich in Polen - und sie wird dringend gebraucht, weil eine Lösung der katastrophalen Situation an der Grenze nicht in Sicht ist.