Nachricht | Andenregion - Reproduktive Gerechtigkeit Der lange Weg zu einem Bürger*innenrecht

Die Rolle der Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung in Argentinien

Information

CC BY-NC 2.0, Emergentes

Hintergrund

Die Merkmale für eine selbstbestimmte Abtreibung, deren Legalisierung die «Landesweite Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung» (CNDALSG) forderte, wurden auf dem ersten Treffen am 14. Mai 2005 in Córdoba kollektiv diskutiert und entschieden. Legal, sicher und kostenlos waren die drei Bedingungen, die wir als unerlässlich für ein wirksames Recht auf freie Entscheidung definierten. Keine dieser drei Bedingungen ist ausreichend, aber alle drei sind notwendig.

  • Legal, weil das Recht auf Abtreibung Teil des geltenden Gesellschaftsvertrags sein muss.  Es bedeutet, die Entscheidungsfreiheit von Frauen und schwangeren Personen anzuerkennen und die Umsetzung ihrer Entscheidung zu ermöglichen. Dies beinhaltet den Respekt vor ihrem Körper sowie der Würde ihres Lebensentwurfs und muss durch eine angemessene öffentliche Politik gewährleistet werden.
  • Sicher, weil wir nicht von freier Entscheidung sprechen können, wenn aufgrund der schlechten medizinischen Qualität ihrer Durchführung das Leben und/oder die ganzheitliche Gesundheit der schwangeren Person gefährdet sind.
  • Kostenlos, weil wir nicht hinnehmen können, dass die sichere Abtreibung ein Privileg derjenigen ist, die die Mittel haben, sich dieses Privileg auf dem illegalen Abtreibungsmarkt zu erkaufen. Dies schafft nicht nur Ungleichheit, sondern fördert Profitgier und Korruption.

Wir einigten uns auch auf unser Gründungsmotto: «Sexualerziehung, um entscheiden zu können, Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen und legale Abtreibung, um nicht zu sterben». Dies gab der Kampagne ihren ganzheitlichen Charakter.

Die Kampagne entwickelte sich im Kontext einer tiefgreifenden, durch die neoliberale Politik verursachten Krise, die mit Arbeitslosigkeit und Elend für viele Argentinier*innen und dem Ansehensverlust der politischen Parteien einherging. Letzterer spiegelte sich in der «Sie sollen alle abhauen!” wider, der von der Arbeitslosenbewegung, in Stadtteilversammlungen, sowie bei den Demonstrationen vor den Banken, den lärmenden Protestzügen mit Pfannen und Töpfen («Cacerolazos»), und in den selbstverwalteten Fabriken verbreitet wurde. Die Mobilisierung der popularen, prekarisierten Bevölkerungsgruppen war integraler Bestandteil unserer Kampagne. Frauen beteiligten sich in großer Zahl am Widerstand gegen die neoliberale Politik und begannen, die Forderungen nach reproduktiven und sexuellen Rechten, sowie nach Reproduktionsgesundheit (das Recht auf Abtreibung eingeschlossen) in die politischen Versammlungen einzubringen.

Ein weiterer wichtiger Raum unserer Kampagne waren die seit 1986 jährlich stattfindenden Nationalen Frauentreffen (ENM). Diese sind selbstorganisiert, finden an unterschiedlichen Orten statt und werden von zehntausenden Frauen* aus ganz Argentinien für die Vernetzung, Entwicklung feministischer Forderungen, und landesweite Mobilisierung genutzt. Hier wurden die Themen Abtreibung und Verhütung über Jahre und mit massiver Beteiligung in Workshops diskutiert. Gleichzeitig versuchten regelmäßig geschulte Gruppen lokaler Kirchen, den Ablauf der Workshops zu sabotieren. Auf dem 18. Nationalen Frauentreffen in Rosario (2003) wurde auf Initiative der Versammlung für das Recht auf Abtreibung von Buenos Aires unter dem Vorsitz von Dora Coledesky ein Plenum und zwei Strategieworkshops zum Recht auf Abtreibung einberufen. Dort entstand der Vorschlag einer landesweiten Kampagne. Dieser war dann auch das Motto der Abschlussdemonstration des ENM und viele Frauen trugen zum ersten Mal die grünen Halstücher, die von den «Katholikinnen für das Recht auf freie Entscheidung» (Católicas por el Derecho a Decidir) eingeführt worden waren.

Martha Inés Rosenberg ist Feministin, Ärztin, Psychoanalytikerin, Dozentin, Mitbegründerin und Mitglied der Nationalen Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung, Coautorin des Buches «Aborto hospitalizado. Una cuestión de Derechos Reproductivos, un problema de Salud Pública», und Autorin von «Del aborto y otras interrupciones. Mujeres, psicoanálisis, política”.

Mit unseren Forderungen, beriefen wir uns auch auf die internationalen Abmachungen und Vereinbarungen des Kairoer Aktionsprogramms (1994) und der Erklärung der Internationalen Frauenkonferenz in Peking (1995), Reproduktionsgesundheit und Reproduktionsrechte als Menschenrechte definieren.

Ziel der Kampagne

Von Anfang an ist es unser Ziel gewesen, feministische Gruppen, Gruppen der Frauenbewegungen, der sexuellen Vielfalt, aus verschiedenen Parteienspektren, der Bewegung für die Demokratisierung des öffentlichen Gesundheitswesens, Menschenrechten, aus Stadtteilvereinigungen sowie kulturellen und akademischen Sektoren zu einen. Versprengt aufgrund ihrer geografischen, institutionellen und politischen Verortung, sollten sie in einer landesweiten Bewegung zusammenkommen, die föderal, pluralistisch und mit dem Querschnittsansatz partizipativer Demokratie funktioniert, um das Recht auf selbstbestimmte Abtreibung zu erkämpfen.

Auf diesem Weg haben wir ein vielschichtiges, vielfarbiges, mächtiges Gebilde geschaffen, dessen politisches Symbol das grüne Halstuch ist. Dabei knüpft seine dreieckige Form an die argentinische Geschichte zur Verteidigung der Menschenrechte an (wie die Kopftücher der Mütter der Plaza de Mayo), während die Farbe Grün –neben unserer Kernforderung-  die Ablehnung und den Widerstand gegen die globalisierte kapitalistische patriarchale Ordnung unter Kontrolle der Informationstechnologie symbolisiert. Das grüne Tuch wird mittlerweile in vielen Ländern genutzt, um die Forderung nach dem Recht auf eine sichere, legale und kostenlose Abtreibung zu erkämpfen.

Die Landesweite Kampagne hat von Anfang an – neben der sozialpolitischen Organisierung - auch auf eine parlamentarische Strategie gesetzt, um das Strafgesetzbuch zu modifizieren. 2007 präsentierte die Kampagne das erste Mal einen Gesetzentwurf zum selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch (IVE). Die Initiative wurde von einer interdisziplinären und querschnittsorientierten ad hoc-Kommission erarbeitet, die vom Plenum berufen wurde. Danach wurde der Entwurf auf Regionalforen diskutiert und schließlich jährlich aktualisiert.

Am 30. Dezember 2020 stimmte der argentinische Senat für die Legalisierung von Abtreibung. 30 Jahre hat die argentinische Frauen*bewegung dafür gekämpft, noch zwei Jahre zuvor war eine ähnliche Initiative am konservativen Senat gescheitert. Die argentinische Feministin und Mitbegründerin der Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung, spricht hier über die Strategien und Akteur*innen, die dies ermöglicht haben und die Herausforderungen für die Zukunft.

Im Laufe der Jahre gelang es uns, durch Schulungen, Konferenzen, Studien, Workshops (auf unterschiedlichsten Bildungsebenen und oft nach dem Prinzip der Bildung von unten), journalistischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen ein breites Spektrum von Wissen und Erfahrungen zu sammeln. Dies ermöglichte einen wachsenden Rückhalt in der Gesellschaft sowie in einer Vielzahl von sozialen und politischen Bewegungen. Die Kampagne fand Verbreitung in den Medien und es schlossen sich Persönlichkeiten aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich, der Politik, Kunst und Kultur an. 

Während wir wiederholt damit scheiterten, unser Vorhaben auf die parlamentarische Tagesordnung zu setzen, drangen wir allmählich mit unserer Netzwerkarbeit in alle Gesellschaftsbereiche vor. Gleichzeitig entwickelten sich Praktiken feministischer Solidarität zur Unterstützung von Frauen in Not, um Gesundheitsrisiken zu verringern und auf die Verhinderungstaktiken zu antworten, die gegen die seit 1921 geltenden legalen Schwangerschaftsabbrüche (ILE) angewandt wurden. 

Die breite und landesweite territoriale Präsenz, sowie unsere von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit bestimmten Ethik, halfen uns, tief in den gesellschaftlichen Diskurs einzudringen und etwas aufzubauen, was wir heute «die gesellschaftliche Entkriminalisierung der Abtreibung» nennen. Sie ist das Resultat einer Dekonstruktion von Mythen und Stereotypen, die der in Lateinamerika gewaltsam aufgezwungenen patriarchalen androzentrierten Kultur zu eigen ist, ein Erbe des kolonialen Eroberungsprozesses unter dem hegemonischen Zeichen von Kreuz und Schwert.

Im Morgengrauen des 30. Dezember 2020 wurde unser jahrelanger Einsatz belohnt: der argentinische Senat stimmte für das Bundesgesetz 27.610/2020, das mit der Legalisierung von Abtreibung Frauen und schwangeren Personen endlich zu ihrem uneingeschränkten Bürger*innenrecht verhilft. Der 14. Januar 2021, der Tag seiner offiziellen Verkündung, ist ein historisches Datum, welches in einem Tag über Jahre dauernde Prozesse konzentriert. Niemals wurde es für jede einzelne von uns Frauen und für alle zusammen deutlicher, dass das Persönliche politisch ist. Dass nur durch kollektives Handeln eine Lösung für persönliche, durch das System hervorgerufene Probleme und Leiden, gefunden werden kann.

Die vielfältigen Mobilisierungen der Kampagne mit dem Ziel, Druck auf die Senator*innen, die öffentliche Meinung und die Regierung auszuüben, haben Auswirkungen auf die politische Kultur gehabt. Durch die Erfahrung des gemeinsamen politischen Handelns, entwickelten sich intensive emotionale Bindungen und das Selbstbewusstsein, gegen die als ungerecht empfundenen Aktionen des Staates gegen die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen vorgehen zu können.

Der Erfolg der Kampagne hat es möglich gemacht, mit dem mythischen Konstrukt des Abtreibungsaktes als einem unweigerlich mit einem tragischen Ausgang verbundenen Vorgang aufzuräumen. Stattdessen können wir diesen Akt mit der Verantwortung der Regierung verknüpfen, die Gesundheit der Personen im Kontext ihrer Entscheidungen zu schützen. Das heißt, besonders für diejenigen Sorge zu tragen, die sich einer unbeabsichtigten Schwangerschaft unter den Bedingungen hoher Vulnerabilität gegenübersehen. Dies ist eine wichtige Erkenntnis in Zeiten der Pandemie. Die Globalisierung des Kapitalismus zeigt ihren selbstzerstörerischen Charakter in den pandemischen Auswirkungen in Abhängigkeit von Regierungsressourcen und Regierungspolitik. Die Pandemie stellt die Logik der privatwirtschaftlichen Vorteilsnahme bloß, da viele Gesundheitsleistungen privat organisiert sind.

Autonomie

Die Tatsache, dass es Präsident Alberto Fernández war, der das Gesetzesvorhaben einbrachte, forderte das Selbstverständnis von der Autonomie unserer Bewegung heraus. Aber gerechterweise müssen wir ebenso den Mut und die vom Präsidenten gezeigte Kühnheit bei dieser historischen Geste anerkennen, eine Initiative zur Legalisierung der selbstbestimmten Abtreibung vorzulegen. Diese Geste ebnete den Weg für die mehrheitliche Unterstützung durch den Regierungsblock, der wie fast alle Parteilager in dieser Frage gespalten war. Im Übrigen war die Anerkennung unseres grünen Halstuches, das nun weltweit ein Symbol der feministischen Kämpfe für das Recht auf Abtreibung ist, etwas, was das präsidentielle Ansehen und die Qualität der egalitären Demokratie in Argentinien gefördert hat.

In Bezug auf die parteiliche und parlamentarische Position zu der Kampagne gab es einige Verwirrung. Manche unterstützten sie, um das Regierungsbündnis zu stärken obwohl sie das Recht auf Abtreibung nicht anerkennen, während Teile der Opposition dagegen schossen, obwohl sie mit dem Anliegen übereinstimmten. Damit einher ging die üble ablehnende Reaktion von dem Vatikan nahestehenden Gruppen und evangelikalen Kirchen sowie der Sektoren der frauenfeindlichen patriarchalen konservativen nichtreligiösen Hardliner.

In der aktuellen Etappe, nach dem Beschluss und der Verkündung des Bundesgesetzes 27.610, fehlt nur noch die Ausführungsverordnung. Die Regierung hat den Bürger*innen zugehört und ihre Forderung nach einer sicheren Abtreibung in ein Gesetz gegossen und verabschiedet. Damit hat die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit an demokratischer Qualität gewonnen. 

Es handelt sich bei diesem Text um eine gekürzte Fassung. Der komplette Artikel (auf Spanisch) ist in der Zeitschrift Derecho de Familia: revista interdisciplinaria de doctrina y jusrispurdencia 58757 2021-II, S. 31 zu finden: Rosenberg, Martha Inés (2021): La construcción de un hito histórico. El papel de la Campaña Nacional por el Derecho al Aborto Legal, Seguro y Gratuito.

Martha Rosenberg hat über die letzten Jahre viele Artikel zu diesem Thema veröffentlicht –die Literaturhinweise sind in der Version dieses Textes zu finden.

Gleichzeitig ist die Autonomie der Kampagne ein politischer Wert, der nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Es ist die unabhängige soziale Bewegung gewesen, die das politische Kapital erwirtschaftet hat, das zur Einbringung der präsidentiellen Initiative führte. Ihr gehört die Autor*innenschaft für das Gesetz. 

Jetzt steht die Umsetzung an. Die Herausforderung liegt in einer autonomen und differenzierten sozialen Kontrolle und Überwachung durch die staatlichen Behörden, konkret durch das Bundesgesundheitsministerium. Dieses Monitoring ist ein Mehrwert, der über die erfolgreiche Gesetzesverabschiedung hinausgeht. Es sollte die Erfahrungen und das Wissen der Netzwerke von Sanitäter*innen und Beschäftigten des Gesundheitssektors nutzen, die sich selbstständig organisiert haben. Es kann sich zudem auf andere Formen der gesellschaftlichen Kontrolle staatlicher Gesundheitspolitik im Bereich sexueller und reproduktiven Rechte stützen.

Der Kampf für das Recht auf Abtreibung ist Teil der ‚radikalen Bedürfnisse‘, ein von Agnés Heller aufgegriffenes marxistisches Konzept: Es handelt sich um menschliche Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden können, ohne die gesellschaftlichen Beziehungen der ‚Subjekte untereinander und mit der natürlichen Umwelt‘ grundlegend zu verändern. Die Aktivitäten zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, benötigen die Transformation von Verhaltensweisen und letztendlich die Veränderung von (gesellschaftlichen und biologischen) Strukturen. Sie definieren sich im Rahmen eines historischen Prozesses, indem sie eine kollektive Subjektivität begründen.

Wir befinden uns daher auch am Beginn einer historischen Etappe, die durch dieses Ereignis eingeläutet wurde. Eine Saat, von der nicht sicher ist, dass sie aufgeht, die sich aber mit großer Hoffnung auf die neuen Generationen stützt.

Die neue Etappe

Die Kampagne ist lang und schwierig gewesen. Wir haben es geschafft, ein heterogenes Konstrukt sozialer Akteur*innen durch ein konkretes gemeinsames Interesse zu einen. Manchmal geschah dies um den Preis, einen gemeinsamen Nenner für unterschiedliche Positionen zu finden, die in der Zugehörigkeit zu politischen Parteien und/oder Regierungsstrukturen, sowie durch Klassenherkunft, Bildung, ethnisch-racebedingte Verhältnisse, Nationalität, Religion, Generationen, Territorialität usw. begründet waren.  

Nun beginnt also eine Etappe, in der sich die Kampagne neu organisieren muss. Eine Sache ist es, die populare Forderung nach Rechten zu organisieren, eine ganz andere, die populare Kontrolle über die Umsetzung einer öffentlichen Politik zu erreichen. Letztere soll die sexuellen und reproduktiven Menschenrechte in einem Gesellschaftssystem garantieren, das darauf ausgerichtet ist, genau diese Rechte zu ignorieren.

Wir müssen unsere politische Agenda definieren und das, was wir erkämpft haben, in der Praxis verteidigen. Das beinhaltet, die Transformation androzentrischer patriarchaler sozialer Mechanismen der Subordination des weiblichen Geschlechts (und anderer feminisierter und nicht-binärer Geschlechteridentitäten), um eine transformierte und transformierende demokratische Agenda durchzusetzen.

Daher ist es unbedingt nötig, die Öffentlichkeit über den Gesetzesinhalt und die Rechte, denen das Gesetz Geltung verschafft, zu informieren. Wir müssen verschiedene Zielgruppen erreichen, insbesondere diejenigen, die am weitesten von den städtischen Zentren entfernt und am stärksten ausgegrenzt sind. Dafür muss es Informations- und Bildungskampagnen sowie die wirksame Umsetzung einer nichtdiskriminierenden umfassenden Sexualerziehung geben. Der Ansatz muss auf allen Ebenen und in allen Bildungseinrichtungen inklusiv geprägt sein.

Einerseits stehen wir noch vor einigen offenen Debatten. Andererseits verändert die Aussicht auf die Abtreibung als zugängliche, sichere und würdige legale Option vollständig die Situation von Frauen und Personen, die schwanger werden können.