Nachricht | Migration / Flucht - Corona-Krise «Meine Tochter wurde depressiv»

Ali Zavari lebt in einer Flüchtlingsunterkunft in Wetzlar. Er erzählt, welche Folgen die Unterbringungssituation und die Corona-Pandemie für ihn und seine Familie hatten.

Ein Kind spielt draußen vor einem Heim für Geflüchtete. Quelle: Albina Akhmedova

Das Interview führte der Journalist Nikolai Huke am 15.01.2021

Nikolai Huke: Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, nachdem Sie in Deutschland angekommen sind?

Ali Zavari: Als wir nach Deutschland gekommen sind, haben wir viele Probleme bekommen. Wir hatten das gar nicht erwartet. Wir dachten, jetzt wird ein roter Teppich für uns ausgerollt und alle sagen: «Okay, herzlich Willkommen. Sie können wählen, wie Sie hier leben möchten.» Das war ein Spaß. Ich weiß, dass niemand uns eingeladen hat, nach Deutschland und niemand einen roten Teppich für uns ausgelegt hat: «Bitte kommen Sie rein.» Wir waren erst vierzig Tage in der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen, dann zehn Tage in Neustadt, dann waren wir zwei Jahre in Biskirchen untergebracht.

Biskirchen ist ein kleines Dorf mit tausend Einwohnern. Am Wochenende verkehrt kein Bus und auch keine anderen öffentlichen Verkehrsmittel. Unsere Wohnung war im dritten Stock. Ich habe immer gesagt: «Meine Frau ist schwanger, sie kann die Treppen nicht immer hoch- und runterlaufen.» Sie haben gesagt: «Okay, wir sagen es dem Chef. Vielleicht dauert das bisschen.» Unser Sohn wurde dann im dritten Stock geboren.

Mein Deutschkurs war in Wetzlar und ich musste jeden Tag zwanzig Kilometer dorthin fahren, hin und zurück. Es gab nur einen Bus pro Stunde. Und das ein ganzes Jahr lang. Zu Behörden zu gehen war sehr zeitaufwändig und auch kostspielig. Wir wären lieber zu Haus geblieben, hätten Deutsch gelernt, Sport gemacht oder etwas mit der Familie unternommen, statt immer unterwegs nach Wetzlar zu sein. Meine Frau war erst schwanger und hat sich danach um das Baby gekümmert. Da es hier keine Kurse mit Kinderbetreuung gab, konnte sie keinen Deutschkurs besuchen und hat dadurch viel Zeit verschwendet. Meine Tochter muss immer mit ihr mit, um zu übersetzen, etwa bei Ärzten.

Wie hat sich das Leben in den Unterkünften auf Sie und ihre Familie ausgewirkt?

Meine Tochter war einige Monate depressiv. Sie ging nicht mehr aus dem Zimmer. Sie brauchte psychologische Hilfe und hat dann wöchentlich Psychotherapie gehabt. Die Therapeutin oder der Therapeut hat ihr ein Attest ausgestellt, also drei Seiten DIN-A4 Begründung geschrieben, dass das beengte Wohnen im Heim der Grund war, warum sie krank wurde. Der Arzt hat dann empfohlen, sie braucht Privatsphäre, sie muss aus diesem Camp-System raus. Das Sozialamt hat das aber nicht akzeptiert.

Als wir hergekommen sind, war sie zwölf. Kinder in diesem Alter sollten Kind sein können, Spaß haben und nicht darüber nachdenken: «Warum haben wir keine Wohnung? Wir hatten eine sehr schöne Wohnung im Iran, warum sind wir hier?» Es ist nicht gut, zu früh erwachsen zu werden und sich mit den Problemen des Vaters und der Mutter beschäftigen zu müssen. Wenn meine Frau Frauenprobleme hat, muss meine Tochter das nicht wissen – aber sie erfährt es, weil sie mit zum Arzt gehen muss, um zu übersetzen. Solche Sachen sind nicht gut für ein Kind. Und viele solche kleinen Sachen werden zusammen zu einem großen Problem, dass man – zumal als Kind – nicht ertragen kann.

Wie sind Sie gegenwärtig untergebracht?

Jetzt wohnen wir in Wetzlar in einer Gemeinschaftswohnung. Wir teilen uns mit unseren Nachbarn Toilette, Badezimmer und Küche. Es ist schwer, mit so vielen Leuten gemeinsam alles zu teilen. Das ist ein kleines Haus hier, vielleicht wäre es für eine Familie mit zwei Kindern gut geeignet. Aber hier wohnen zehn Leute, die eine Küche, einen Herd, eine Waschmaschine, alles teilen. Wie soll man da während Corona Abstand halten können? Wir wissen nicht, wo unsere Nachbarn sich überall aufhalten, draußen, mit wem, in welchen Menschenmengen, tragen die Masken oder nicht, waschen die sich die Hände oder nicht.

Meiner Familie und mir ist Hygiene sehr wichtig, nicht nur wegen Corona, sondern auch allgemein. Da legen wir sehr viel Wert drauf. Hier in der Unterkunft haben wir deshalb viele Reinigungsaufgaben übernommen. In den Gemeinschaftsräumen hier können sich Bakterien oder Viren sehr rasch verbreiten. Und deshalb sind wir quasi in dieser Rolle, dass wir auch für die anderen saubermachen, um uns zu schützen. Auch während Corona haben wir jeden Monat neue Nachbarn hier im Haus bekommen. Und das ist gefährlich.

Ich finde die Hygienesituation hier im Heim schwieriger als in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Gießen oder Neustadt. Dort gibt es Regeln, Securities, die sagen: «Machen Sie das! Nein, machen das nicht.» Etwa: «Machen Sie das hier nicht schmutzig! Bitte nicht so laut.« Dort wird dafür gesorgt, dass regelmäßig geputzt wird. Toiletten und Duschen sind immer sauber. Im Heim muss man alles selbst machen, aber eben gemeinsam mit Nachbarn, die wir teilweise kaum kennen. Niemand ist verantwortlich und kontrolliert. Einer macht sauber und andere kommen und machen es schmutzig. Ich weiß, dass man vielleicht nicht für alle Flüchtlinge eine private Wohnung mieten kann. Aber man sollte zumindest Toilette oder Badezimmer trennen. Das gibt sonst ständig Probleme – erst recht jetzt während Corona.

Wie viel privaten Wohnraum haben Sie für Ihre Familie?

Als Familie bewohnen wir hier zwei kleine Zimmer mit unserem Sohn und unserer Tochter, die mittlerweile fünfzehn Jahre ist. Die können dadurch nicht gut schlafen oder nicht gut lernen: Ein Kind möchte schlafen, eins möchte lernen. Ich möchte auch Deutsch lernen, aber es muss dunkel sein, weil wir keinen anderen Platz haben. Meine Tochter macht zu Hause online Schule, sie ist in der neunten Klasse, weil die Schule wegen Corona zu ist. Für meine Frau gibt es seit Corona keinen Deutschkurs.

Außerhalb unserer Zimmer ist es hier oft schmutzig. Unser kleiner Junge möchte aber immer raus, denn ein Zimmer ist für ein Kind wie ein Gefängnis. Wir müssen ihn dann immer schimpfen: «Oh, warum gehst du raus?» Wir müssen seine Füße saubermachen, dann seine Hände wieder waschen und noch mal und noch mal und hundertmal. Und das macht uns psychisch fertig. Das ist nicht gut für unsere Gesundheit. Und das ist ja nicht einen Tag, zwei Tage, einen Monat, zwei Monate so, sondern immer, immer!

Wir haben viel Angst wegen Corona und viele Sorgen wegen der Zukunft. Wir wissen nicht, was noch kommt. Wir wissen nicht einmal, wann unsere Situation sich endlich verbessern wird. Wissen Sie, manchmal wäre es besser, im Gefängnis zu sein. Dann wüsste man: Fünf Jahre muss ich in einem Gefängnis bleiben. Aber so wie jetzt, das ist untragbar. Wir wissen nicht, wann das enden und unsere Situation besser werden wird.

Wie ist Ihre berufliche Situation?

Es ist schwer, eine Arbeit zu finden, weil im Sport- und Reha-Bereich, in dem ich ausgebildet bin, alles geschlossen ist. Alle Ämter sind zu. Keine E-Mail-Antworten, keine Telefonantworten. Wir können nur geduldig sein und warten. Alles dauert dadurch noch länger. Ich habe keine Arbeitserlaubnis. Ich darf arbeiten, aber die Ausländerbehörde muss immer zustimmen. Dadurch habe ich viele Arbeitsplätze verloren. Warum? Der Arbeitgeber braucht morgen einen Arbeiter. Ich muss aber viele Papiere ausfüllen und zur Ausländerbehörde schicken. Und dann kommt der Bescheid erst nach vier oder sechs Wochen. Der Arbeitgeber wartet nicht so lange.

Ich habe vor kurzem meinen Traumjob gefunden: Ein großes Zentrum, alle Sportarten, Fitnessstudio, Pool, Sauna, Massage. Viele bekannte Leute oder Mannschaften, Fußballvereine kommen da trainieren. Das ist meine Traumarbeit, sie entspricht absolut meinen Qualifikationen und Fähigkeiten. Ich habe die Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen oder direkt zu arbeiten. Sie wollen mich gerne einstellen. Aber schon seit zwei Monaten habe jetzt ich keine Antwort von der Ausländerbehörde bekommen. Mal sehen, wie das weitergeht, das Zentrum hat durch Corona viele Mitglieder verloren. Noch sagen sie aber: «Wir warten auf dich.»