Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - Westeuropa - Südliches Afrika Symbolische Anerkennung ist nicht genug

Warum viele Namibier*innen die Gemeinsame Erklärung Deutschlands und Namibias zum kolonialen Genozid ablehnen.

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Eine Uniform mit verschiedenen Abzeichen/Symbolen, die an die Ermordung der Herero durch die deutschen Kolonialherren erinneren.
Nachfahren der Ovaherero treffen sich am 4. October 2015 um an den Genozid zu erinnern, den die deutsche Kolonialmacht in der Omaheke Region gegen die Ovaherero und Nama verübte. Foto: picture alliance / dpa | Jürgen Bätz

Deutschland und Namibia haben im vergangenen Mai eine Gemeinsame Erklärung unterzeichnet, in der sich beide Seiten auf eine Wiedergutmachung des 1904 bis 1908 von deutschen Kolonialtruppen begangenen Genozids an den Ovaherero und Nama geeinigt haben. Seitdem toben in Namibia Debatten darüber, ob dieses Abkommen genügt. Erkennt es die Opfer hinreichend an und entschädigt es ihre Nachkommen in ausreichendem Maße? Trägt es zur Normalisierung der Beziehungen beider Staaten bei? Wie verhält es sich mit den weiterhin bestehenden Ungleichheiten in Namibia und generell zwischen Deutschland und Namibia?

Die namibische Regierung steht zwar hinter der Erklärung, das Parlament muss sie aber noch ratifizieren. Die Mehrheit der Namibier*innen scheint skeptisch zu sein. Einige zivilgesellschaftliche Gruppen haben sich ausdrücklich gegen die aktuelle Fassung ausgesprochen. Ist der Aussöhnungsprozess zum Scheitern verurteilt? Und wie würde eine gerechte Versöhnung aussehen? Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, hat Caroline Hüglin von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Paul Thomas von der Oppositionspartei Landless Peopleʼs Movement (LPM) gesprochen, als er sich kürzlich in Deutschland aufhielt.

Caroline Hüglin: Die Gemeinsame Erklärung von Namibia und Deutschland zum Genozid der Ovaherero und Nama wurde nach über fünf Jahren Verhandlungen als Erfolg dargestellt. Seitdem haben sich aber die beiden betroffenen Gruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen in beiden Ländern sehr kritisch gezeigt. Das namibische Parlament hat die Erklärung auch noch nicht ratifiziert, obwohl ein solcher Beschluss für September vorgesehen war. Könnten Sie uns erklären, warum das so ist und wie Sie den weiteren Verlauf der Debatte in Namibia einschätzen?

Paul Thomas: Die Verhandlungen zur Gemeinsamen Erklärung haben hinter verschlossenen Türen stattgefunden. Erst Anfang dieses Jahres wurden Einzelheiten bekannt. Bei genauerer Betrachtung beruht die Erklärung auf Briefen zwischen dem Sonderbeauftragten Ruprecht Polenz und dem inzwischen verstorbenen Sondergesandten Zed Ngavirue. An den Verhandlungen haben also nicht gerade viele Parteien teilgenommen, sondern nur diese beiden Personen mit ihren begrenzten Interessen.

Paul Thomas ist Anwalt, Mitglied und Mitarbeiter im Nationalrat bei der 2016 gegründeten Partei Landless People’s Movement (LPM).

Der Genozid wird in der Erklärung denn auch nur «aus heutiger Perspektive» als ein solcher anerkannt. Deutschland bekennt sich lediglich zur weiteren Entwicklungszusammenarbeit, nicht aber zu Reparationen. Viele meinen, das Abkommen reicht für eine echte Versöhnung zwischen Deutschland und den Völkern Namibias nicht aus.

Verschiedene außerparlamentarische Betroffenenvertretungen wollen Druck ausüben. Auch im Parlament gibt es starke Gegenstimmen. Obwohl die Regierungspartei SWAPO die Mehrheit innehat und die Gemeinsame Erklärung somit theoretisch ratifizieren könnte, ist mittlerweile klar, dass sie mit ziemlich negativen Folgen zu rechnen hätte. Unsere Partei erörtert zum Beispiel gerade die Möglichkeit, in Namibia vor Gericht zu ziehen.

Wie Sie sagen, haben die Verhandlungen im Großen und Ganzen geheim stattgefunden. Damit ist das Prinzip der «freien, vorherigen und informierten Zustimmung» gemäß der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker (UNDRIP) verletzt. Nachdem sich die SWAPO-Regierung darüber klar wurde, hat sie Bevölkerungsgruppen und vor allem die traditionellen Verwaltungen konsultiert. Konnte sie die Stimmung damit verändern?

Nein. Die Regierung hat das Prinzip der freien, vorherigen und informierten Zustimmung nicht eingehalten. Die betroffenen Gruppen wurden nicht angemessen einbezogen. Wir von der Partei Landless Peopleʼs Movement haben auch mit vielen Vertreter*innen der traditionellen Verwaltung in verschiedenen Landesteilen gesprochen. Wir haben ihnen dargelegt, dass die Gemeinsame Erklärung den Genozid nicht angemessen anerkennt und nur von Wiederaufbauhilfen und Entwicklungsprogrammen spricht, nicht aber von Reparationen. Viele Menschen, mit denen wir geredet haben, sind sich einig, dass die Erklärung für die vor 120 Jahren Enteigneten und Vertriebenen keine Wiedergutmachung, keine Restorative Justice bietet und die bis heute spürbaren Folgen des deutschen Kolonialismus nicht beheben kann.

Sie haben die Arbeit Ihrer Partei LPM angesprochen. In den letzten Jahren haben Sie sehr an Einfluss gewonnen, vor allem in den südlichen Regionen Namibias. Können Sie uns etwas mehr über die Position der LPM zur Gemeinsamen Erklärung und über Ihre Arbeit in diesem Zusammenhang erzählen?

Die Frage von Landrechten und Genozid stand von Anfang an im Zentrum unseres Parteiprogramms. Unser Gründer Bernadus Swartbooi war früher stellvertretender Bodenreformminister in der SWAPO-Regierung. Er hat die bis heute herrschenden Ungerechtigkeiten angeprangert. 90 Prozent des Ackerbodens befinden sich immer noch in den Händen derjenigen, die dieses Land geraubt haben. Die beraubten Bevölkerungsgruppen hingegen verfügen in ihrem eigenen Land über keinen Grundbesitz. Nach dieser offenen Kritik an der eigenen Regierungspartei wurde er aus der SWAPO ausgeschlossen und gründete die LPM.

Unsere Partei konnte in verschiedenen Gegenden und bei zahlreichen Gruppen Anhänger*innen mobilisieren. Unterstützung erhalten wir vor allem bei den Nama und den Ovaherero, aber auch allgemein bei den Grundbesitzlosen und Enteigneten. Wir müssen bedenken, dass der deutsche Kolonialismus neben dem Vernichtungsbefehl, der sich gegen die Ovaherero und Nama richtete, auch für andere Völker Tod, Vertreibung und Enteignung bedeutete, etwa für die Damara und San. Die Folgen des Kolonialismus sind auch heute noch sichtbar, denn viele dieser Gruppen werden weiterhin marginalisiert.

Da wir für ihre Rechte kämpfen, unterstützen uns diese Menschen. Mit unserem Wahlsieg in den beiden südlichen Regionen Hardap und ǁKaras konnten wir vier Sitze im Nationalrat erringen. Wir sind auf allen Ebenen präsent – lokal, regional und national. Das ist insofern von Bedeutung, als wir in der Frage der Gemeinsamen Erklärung eine starke Opposition gegen die Regierung bilden.

An den Verhandlungen wollten auch zahlreiche Vertretungen von Nachkommen der Genozidopfer teilnehmen. Das wurde ihnen aber verweigert. Deshalb reichten die Ovaherero Traditional Authority (OTA) und die Nama Traditional Leadersʼ Association (NTLA) unlängst beim UN-Menschenrechtsrat Beschwerde gegen Deutschland ein. Was erwarten Sie sich davon?

Als Bevölkerungsgruppen, die Gerechtigkeit suchen, sehen wir hier auf internationaler Ebene ein weiteres Druckmittel. Viele bezweifeln, dass das weit führt, aber unserer Meinung nach können auch die Vereinten Nationen und die internationale Justiz dabei helfen, dass wir Gerechtigkeit erfahren.

Kommen wir auf Deutschland zu sprechen. Wie Sie wissen, hatten wir vor zwei Monaten Wahlen, und die designierte Regierung hat kürzlich den Koalitionsvertrag veröffentlicht. Zu Namibia und dem Genozid heißt es dort: «Die Aussöhnung mit Namibia bleibt für uns eine unverzichtbare Aufgabe, die aus unserer historischen und moralischen Verantwortung erwächst. Das Versöhnungsabkommen mit Namibia kann der Auftakt zu einem gemeinsamen Prozess der Aufarbeitung sein.» Wie lauten Ihre Forderungen und Erwartungen an die neue Regierung?

Wir haben hohe Erwartungen. Ich weiß, dass Deutschland dieser Frage keine hohe Priorität beimisst. Aber für uns in Namibia sollte das ganz oben auf die Agenda. Deshalb hoffe ich, dass die neue Koalition, wenn sie zustande kommt, sich der Genozidfrage widmet, damit wir besser vorankommen.

Wir fordern, dass es zu neuen Verhandlungen an einem runden Tisch kommt, an dem alle betroffenen Gruppen für sich selbst sprechen und wirklich mitbestimmen können. Wir hoffen, dass sich die neue Leitung des Auswärtigen Amts der Bedeutung dieses Themas bewusst wird und eine*n bessere*n Sonderbeauftragte*n entsendet.