Am 19. Dezember 2021 tritt bei der Präsidentschaftswahl in Chile der Linke Gabriel Boric gegen den Rechtsextremen José Antonio Kast an. Damit steht nicht nur der verfassunggebende Prozess auf dem Spiel, sondern auch die Rechte von Frauen, der LGTBIQ-Community und Migrant*innen.
Monatelang protestierten die Menschen in Chile für sozialen Wandel und eine neue Verfassung – zwei Jahre später tritt bei der Stichwahl um die Präsidentschaft mit José Antonio Kast ein ehemaliger Pinochet-Unterstützer an.
Was zunächst widersprüchlich erscheint, lässt sich erklären. Kämpfe für mehr soziale Gerechtigkeit führen immer auch zu Widerstand derjenigen, die von dem ausbeuterischen System profitieren. In Chile sträubt sich eine Minderheit gegen die Veränderungen, die von der sozialen Revolte 2019 angestoßen wurden und jetzt im Verfassungskonvent diskutiert werden.
Sophia Boddenberg berichtet als freie Journalistin für deutsch- und englischsprachige Medien aus Chile und anderen Ländern Lateinamerikas.
Deutlich wurde das beim Referendum im Oktober 2020, bei dem knapp 80 Prozent für eine neue Verfassung stimmten. Nur etwa 20 Prozent stimmten dagegen und damit für den Fortbestand der Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur, die das neoliberale Modell zementiert und privaten Unternehmen mehr Rechte einräumt als der Bevölkerung. Nur in fünf von 346 Wahldistrikten erhielt letztere Option die Mehrheit der Stimmen – und zwar genau dort, wo Chiles Superreiche leben.
Es ist diese politische und wirtschaftliche Elite, die den öffentlichen Diskurs in der fast vollständig privatisierten und stark konzentrierten Medienlandschaft dominiert. Wer viel fernsieht und die klassischen Tageszeitungen wie El Mercurio und La Tercera liest, bekommt vor allem ein Gefühl der Angst vermittelt: Angst vor Demonstrant*innen, vor Migrant*innen und vor den indigenen Mapuche. Sie werden als diejenigen dargestellt, die Gewalt und Zerstörung verbreiten.
Die Darstellung in den Medien wirkt sich auf die Wahrnehmung der Menschen aus; ein Phänomen, das auch Agenda-Setting genannt wird. Einer Umfrage des unabhängigen Instituts Espacio Público-Ipsos zufolge ist die Sicherheit das dringendste Problem für die Chilen*innen, erst danach kommen Arbeit, Gesundheit und Renten, ganz am Schluss der Klimawandel. Einer anderen Studie zufolge sorgen sich viele Chilen*innen darum, dass durch Migration die Kriminalität zunehme und ihre Sicherheit gefährdet sei – obgleich das nicht der Realität entspricht.
Rechte Feindbilder
Der Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast nutzt die Sorgen und Ängste der Menschen aus und kreiert Feindbilder. Er will unter anderem einen Graben im Norden Chiles ausheben, um Migrant*innen an der Einreise zu hindern, und NGOs verfolgen, die ihnen Hilfe leisten.
Auch Demonstrant*innen sind Teil von Kasts Feindbild. «Das Chile der Gewalt muss aufhören, es darf keinen Platz für Hass und Gewalt geben», sagt er in seinem Wahlwerbespot, während Bilder von Protesten und Barrikaden gezeigt werden und im Hintergrund eine helle Frauenstimme von «Freiheit» singt. «An diesem 19. Dezember werden wir nicht nur einen Präsidenten wählen. Wir werden zwischen Freiheit und Kommunismus wählen», geht es weiter. Kast schürt Angst vor einer vermeintlichen kommunistischen Diktatur, die ihm zufolge der linke Kandidat Gabriel Boric verkörpert. «Gabriel Boric steht für Chaos, Hunger und Gewalt», sagte er in einer Rede. Boric würde Chile in Venezuela verwandeln.
Die pinochettreue Rechte hat ihren Diskurs seit der Diktatur nicht verändert: Kast betreibt eine Angst-Kampagne gegen Linke. Er verspricht in seinen Wahlwerbespots ein «Land in Freiheit». «Atrévete» («Trau Dich»), heißt sein Slogan.
Auch in der Kampagne vor dem historischen Referendum im Jahr 1989 über den Fortbestand der Pinochet-Diktatur warben die Pinochet-Unterstützer mit der «Freiheit», die bedroht sei vom Kommunismus. Kast war Teil dieser Kampagne und unterstützte aktiv den damaligen Diktator. Sein Bruder war Minister unter Pinochet, seine Familie in Menschenrechtsverletzungen in der Gemeinde Paine verwickelt. «Wäre Pinochet am Leben, dann würde er mich wählen», sagte Kast einmal in einem Radio-Interview.
Bei einer Pressekonferenz mit Auslandskorrespondent*innen im November 2021 stritt er ab, dass das Pinochet-Regime eine Diktatur gewesen sei und behauptete, dass keine Oppositionellen verfolgt worden seien. Dem Valech-Bericht der Nationalen Wahrheitskommission von 2001 zufolge wurden während der Diktatur mindestens 40.000 Menschen aus politischen Gründen festgenommen, gefoltert und verfolgt.
Der Sohn eines Wehrmachtoffiziers
Kast ist ein 55-jähriger Anwalt und streng katholisch. Sein Vater war deutscher Wehrmachtsoffizier, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Chile auswanderte. Kasts Diskurs ist klar rechtspopulistisch: «Trau dich gegen den Strom der vermeintlichen Mehrheit zu schwimmen», sagt er in einem YouTube-Video mit dem Titel «Eine Rebellion ist auf dem Weg».
Beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl erhielt Kast 1.961.387 Stimmen (von über 15 Millionen Wahlberechtigten). Beim Referendum 2020 hatten 1.635.164 Menschen gegen eine neue Verfassung gestimmt. Die Wählerschaft derjenigen, die das Erbe der Pinochet-Diktatur verteidigen, hat sich also nur geringfügig vergrößert.
Kast konnte aber im ersten Wahlgang nur deswegen knapp 28 Prozent der Stimmen erhalten, weil mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten keine Stimme abgegeben hat. Die Wahlbeteiligung in Chile liegt seit mehreren Wahlperioden unter 50 Prozent. Beim Verfassungsreferendum war sie erstmalig auf knapp über 50 Prozent gestiegen, aber bei der Präsidentschaftswahl ging sie wieder leicht auf etwa 47 Prozent zurück.
Wenn man Kasts Stimmen auf die Gesamtzahl der Stimmberechtigten anrechnet, also die Nichtwähler*innen mit einrechnet, dann stimmten nur 13 Prozent der Stimmberechtigten für ihn. Von einem «Aufmarsch des Faschismus», wie manche in Chile sagen, kann also keinesfalls die Rede sein.
Aber viele Menschen haben das Vertrauen in die Politik verloren. Besonders unter den jungen Menschen und in den sogenannten «barrios populares», den Arbeitervierteln, ging die Wahlbeteiligung zurück. «Viele Menschen, vor allem junge, haben beim Verfassungsreferendum zum ersten Mal abgestimmt. Aber sie haben nicht bei der Präsidentschaftswahl gewählt», sagt María Cristina Escudero, Politikwissenschaftlerin der Universidad de Chile. «Auf dem Land hingegen hat die Wahlbeteiligung zugenommen und dort hat Kast viele Stimmen erhalten.»
Linkskandidat Gabriel Boric
Aber warum hat der linke Kandidat Gabriel Boric es nicht geschafft, die Menschen für sich zu gewinnen, die 2019 für mehr soziale Gerechtigkeit, bessere Renten, ein öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem auf die die Straße gingen – alles Aspekte, die in seinem Programm zu finden sind?
Der 35-jährige Boric kommt aus Punta Arenas im tiefen Süden Chiles aus einer wohlhabenden Familie, er besuchte eine Elite-Schule. 2011 war er einer der Anführer*innen der Studierendenbewegung, die sich für ein gerechtes, öffentliches Bildungssystem einsetzte. 2012 wurde er zum Präsidenten der Studierendenvereinigung Fech gewählt, 2015 zum Parlamentsabgeordneten für die südliche Región de Magallanes.
Manche werfen ihm vor, ein «burguesito» zu sein, ein «kleiner Bourgeois», der nie gelitten habe wie die anderen Chilen*innen. Sein Vater ist Mitglied der Partei Democracia Cristiana (DC), die viele für den Militärputsch 1973 mitverantwortlich machen, weil sie dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende in den Rücken fiel.
Auch Boric verfolgt der Vorwurf, ein «traidor» zu sein, ein «Verräter» der Revolte von 2019, weil er am 15. November 2019 gemeinsam mit Parlamentsabgeordneten aus dem Regierungslager den sogenannten Vertrag für den Frieden und eine neue Verfassung unterschrieb, in dem der institutionelle Prozess für eine neue Verfassung festgelegt wurde. Boric unterschrieb den Vertrag damals im Alleingang, ohne die Unterstützung seiner Partei und ohne die Protestbewegung in die Verhandlungen einzubeziehen. Bis heute kritisieren soziale Bewegungen ihn dafür, dass er sich hinter verschlossenen Türen ausgerechnet mit jenen rechten Politiker*innen an einen Tisch gesetzt hat, die für die brutale Polizeigewalt auf den Straßen verantwortlich waren. Der Vertrag legte keine Maßnahmen fest, um die gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure während der Proteste rechtlich zu verfolgen oder die Gefangenen zu befreien, die damals verhaftet wurden und die teilweise bis heute in Untersuchungshaft sitzen.
Der von Boric mitunterzeichnete Vertrag sicherte außerdem den Fortbestand der Regierung von Sebastián Piñera, der auf diese Weise der Forderung der Demonstrant*innen nach seiner Absetzung den Wind aus den Segeln nahm. Bis heute regiert Piñera Umfragen zufolge mit weniger als 15 Prozent Unterstützung.
Die Probleme, wegen der die Menschen im Oktober 2019 auf die Straße gingen – soziale Ungleichheit, Bildung, Gesundheit, Renten, Löhne –, haben sich keinesfalls aufgelöst, sondern sind durch die Pandemie sogar noch größer geworden. Viele Menschen haben die Hoffnung verloren, dass sich in absehbarer Zeit etwas verändern wird. Zwar arbeitet der Verfassungskonvent im Rekordtempo, aber die Veränderungen werden wahrscheinlich erst in mehreren Jahren zu spüren sein.
Hoffnung statt Angst
Die Kampagne von Boric setzt auf Hoffnung: «Wir wollen keine Angst verbreiten, sondern Hoffnung», sagte er nach dem ersten Wahlgang. In seinem TV-Wahlwerbespot appelliert er an das «Vertrauen in die Zukunft» und verspricht «ein besseres Leben». Er will den Mindestlohn erhöhen, Unternehmen stärker besteuern, ein neues Rentensystem einführen, sich für Frauenrechte und Umweltschutz einsetzen. Obwohl man sein Programm allenfalls als sozialdemokratisch bezeichnen kann, wird er in vielen chilenischen Medien als «Extremist» bezeichnet.
Viele raten Boric deshalb, seinen Diskurs zu mäßigen, um Stimmen aus der Mitte für sich zu gewinnen. Die Parteien der ehemaligen Concertación, der Mitte-Links-Koalition, die in Chile seit dem Ende der Diktatur regiert hat, sicherten ihm bereits ihre Unterstützung zu. Aber es sind eben auch diese Parteien, von denen viele Menschen enttäuscht sind.
Der Protestruf «Es sind nicht 30 Pesos, sondern 30 Jahre» richtete sich vor allem gegen die Concertación, die zwar Chiles Übergang zur Demokratie einleitete, aber gleichzeitig die neoliberale Politik der Diktatur weiterführte. Die Strategie, sich ihnen anzunähern, könnte Boric auch weniger glaubwürdig für diejenigen machen, die eine Abkehr von der Politik der letzten 30 Jahre wollen.
«Wir müssen diejenigen erreichen, die nicht für uns gestimmt haben, wir müssen ihnen zuhören und sie verstehen», sagte Boric bei einer Rede nach dem ersten Wahlgang, bei dem er weniger Stimmen erhielt als José Antonio Kast. Aber das ist keine einfache Aufgabe. Das Vertrauen in die politischen Parteien in Chile liegt Umfragen zufolge bei zwei Prozent. Es ist also unwahrscheinlich, dass die Annäherung an die Parteien des politischen Zentrums die Nichtwähler*innen motivieren wird, die enttäuscht von der Politik sind.
«Die Strategie von Boric muss in zwei Richtungen gehen: Einerseits muss er Regierungsfähigkeit zeigen und die linke Mitte ansprechen, die aus Pflichtgefühl wählen geht, und andererseits die Jungen motivieren, die beim Referendum abgestimmt haben, aber bei der Präsidentschaftswahl nicht», sagt María Cristina Escudero.
Boric reist in den Wochen vor der Stichwahl durch die verschiedenen Regionen Chiles, um die Wähler*innen außerhalb der Hauptstadt Santiago für sich zu gewinnen. Außerdem hat er die Ärztin Izkia Siches, ehemalige Präsidentin der chilenischen Ärztekammer, zur neuen Kampagnenchefin erklärt. Sie genießt eine große Beliebtheit in der Bevölkerung. «Gabriel vereint uns, anstatt uns zu spalten. Unser Land braucht Veränderungen und diese werden uns Stabilität geben», sagt Siches in einem von Borics Wahlwerbespots.
Die Angst vor einem rechtsextremen Präsidenten hat dazu geführt, dass viele Organisationen und soziale Bewegungen Boric Unterstützung zugesichert haben. So auch die feministische Dachorganisation Coordinadora Feminista 8M, die sich nach dem ersten Wahlgang zu einer Versammlung traf, an der Tausende Frauen teilnahmen, um Strategien zu diskutieren, die die Wahl Kasts verhindern könnten. Viele waren sich einig bei der Dringlichkeit der politischen Aufklärungsarbeit an der Basis, in den Arbeitervierteln, in denen die Wahlbeteiligung besonders gering ist – Aufklärung einerseits über die Bedrohung, die Kast für Frauen, LGTBIQs und Migrant*innen darstellt, andererseits über die konkreten Programmpunkte von Boric, die die Lebensqualität der Menschen verbessern würden. «Boric repräsentiert zwar nicht unser politisches Projekt, aber Kast stellt eine direkte Bedrohung für das Leben von Frauen, Migrant*innen, Queers und politisch Andersdenkenden dar», sagt Daniela Osorio, Sprecherin der Coordinadora Feminista 8M.
Kast will Abtreibung verbieten, lehnt die gleichgeschlechtliche Ehe ab, will unverheiratete Frauen von staatlicher Sozialhilfe ausschließen und das Frauenministerium schließen. Sexuellen Aufklärungsunterricht an Schulen bezeichnet er als «Gender-Indoktrinierung» und will ihn unterbinden. Johannes Kaiser, ein Parlamentsabgeordneter aus Kasts Koalition, stellte sogar das Wahlrecht von Frauen in Frage.
Kast ist außerdem ein Gegner einer möglichen neuen Verfassung und würde vermutlich die Arbeit des Verfassungskonvents behindern. «Boric wäre eine Art Übergangsregierung, die den verfassunggebenden Prozess offenhalten würde, den die extreme Rechte unbedingt schließen will», sagt Daniela Osorio.
Bei der Präsidentschaftswahl am 19. Dezember steht viel auf dem Spiel. Selbst wenn Boric die Wahl gewinnt, wird es schwer für ihn, sein Programm umzusetzen, weil seine Koalition Apruebo Dignidad keine Mehrheit im Kongress hat. Aber er würde die Arbeit des Verfassungskonvents ermöglichen und unterstützen, in dem die Veränderungen erarbeitet werden, für die die Menschen in Chile so lange gekämpft haben.