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Wie lebt es sich als Frau in der unabhängigen Ukraine?

«Armut hat ein weibliches* Gesicht.» Foto: Olena Tkalich

Noch im März 1991 wurde in der Ukrainischen Sowjetrepublik das Gesetz «Über Änderungen und Ergänzungen zum Kodex der Arbeitsgesetze der Ukrainischen SSR beim Übergang der Republik zur Marktwirtschaft» verabschiedet. Es verbot, alleinerziehende Mütter mit Kindern bis 14 Jahre zu entlassen, verlängerte die Dauer der Elternzeit von eineinhalb auf drei Jahre. Man stand an der Schwelle zu den Schockjahren der Neunziger mit enormer Arbeitslosigkeit. Mittels solcher Regelungen versuchte der Staat einerseits gefährdete Gruppen zu schützen und andererseits «überschüssige» Arbeitskräfte vom Arbeitsmarkt zu entfernen. Die Beschäftigungsquoten ukrainischer Frauen lagen damals eher bei jenen der Männer als der Frauen in den westlichen Ländern. Außerdem gaben die Frauen ihre Erwerbstätigkeit auch in der Zeit nach einer Geburt nicht auf.

Die Frauen selbst teilten nach der Unabhängigkeit der Ukraine größtenteils diese Position. Statt der Pflicht zur Arbeit und der damit einhergehenden Doppelbelastung im Beruf und zu Hause schienen sie endlich die Möglichkeit zu haben, sich voll und ganz der Familie zu widmen. Ist es aber vielen gelungen, dieses idealistische Modell umzusetzen und warum wird 30 Jahre später in der Ukraine wieder von der Gleichstellung von Frauen und Männern gesprochen?

Gab es in der Sowjetunion eine Gleichstellung der Geschlechter?

Frauen hatten seit den ersten Jahren der Revolution das passive und aktive Wahlrecht. Und das Recht, in allen Berufen zu arbeiten. Eines der ersten Dekrete erlaubte die Scheidung, das Recht auf Abtreibung wurde gewährt. Es stellte sich dann heraus, dass die Frauen in der Sowjetunion über mehr Rechte verfügten als jene in Westeuropa, wobei diese (wie überhaupt alle Rechte) allein auf dem Papier bestanden. Darüber hinaus glaubte man, die Frauenfrage sei in der UdSSR ein für alle Mal gelöst

bemerkt Maryna Usmanova, eine Aktivistin der feministischen NGO «Insha» aus Cherson.

Ihrer Meinung nach wurde zu Beginn der Sowjetzeit tatsächlich viel für die Befreiung der Frauen getan. «Es wurden Programme geschaffen, um die Frauen von der Hausarbeit zu befreien: günstige Kantinen in jeder Fabrik, Wäschereien, Kinderkrippen ab 0 Jahren», so die Expertin.

Spätere Entwicklungen, wie der konservative Rollback nach der Machtübernahme Stalins, die gewaltigen Verluste im Zweiten Weltkrieg und die schwere Arbeit während des Wiederaufbaus nach dem Krieg, machten diese Errungenschaften jedoch zur reinen Formsache. So war die Abtreibung in der UdSSR fast 20 Jahre lang - von 1936 bis 1955 - vollständig verboten. In den 1930er Jahren kehrte das idealisierte Bild der traditionellen Familie zurück und in den 1940er und 1950er Jahren, als viele Männer im Krieg ums Leben gekommen waren, wurden Frauen als billige Arbeitskräfte eingesetzt. Gleichzeitig wurde die Kinderbetreuung aus Mangel an Ressourcen sehr schlecht organisiert.

Olena Tkalich ist Journalistin, Redakteurin der Informationsagentur SocPortal und Aktivistin der NGO Socialnyj Ruch. Sie schreibt über Arbeitsrechte von Frauen, Jugendlichen und Behinderten, moderne Mutterschaft, Reformen der Medizin, Bildung und Sozialfürsorge.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Susanne Macht

Mit dem Wiederaufbau des Landes begannen sich die Bedingungen allmählich zu verbessern. In den Zeiten der «Stagnation» wurde der «Geschlechtervertrag der berufstätigen Mutter» zur Norm. Er bedeutete, dass Frauen parallel zur Vollzeitbeschäftigung weiterhin reproduktive Arbeit auf der Grundlage mehr oder weniger ausgebauter Betreuungseinrichtungen leisteten – jedoch ohne Aufstiegschancen. Nur wenigen gelang es, die «gläserne Decke» zu durchbrechen. Dem Politbüro etwa gehörten während seiner gesamten Existenz 188 Männer aber nur 5 Frauen an.

Gleichzeitig unterstützte die Sowjetregierung offiziell die Idee des Feminismus, allerdings eher als eine Form der Kritik an den kapitalistischen Ländern.

«Die Idee der Gleichberechtigung war für die sowjetischen Frauen diskreditiert. Die Rechte waren nie wirklich gleich und wurden in folgender Form realisiert: Du musst arbeiten, damit du nicht als «Tunejadka» («Schmarotzerin»)[1] giltst. Arbeiten kannst du sogar auch als Gleisbauerin. Aber zu Hause wartet noch eine «zweite Schicht», nämlich Kinderbetreuung und mehr.» Weiter stellt Usmanova fest, dass feministische Ideen bei Frauen Abwehrreaktionen hervorriefen: «Nein, wir wollen keine Schwellen legen, wir wollen schöne Kleider, die es in der Sowjetunion nicht gibt. Die angeblich unterdrückten bürgerlichen Frauen haben solche.»

«So war der Feminismus von der sowjetischen Regierung für viele Jahre diskreditiert worden. Das Echo spüren wir bis heute» folgert die Expertin.

«Hüterinnen von Heim und Herd» anstelle der sowjetischen Frauen

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wandten sich alle postsowjetischen Länder dem Neopatriarchat zu. Dieses verfügt auch über eine religiöse Komponente. Der 1996 gegründete Gesamtukrainische Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften hat den Kampf für traditionelle Werte und die spirituelle Wiederbelebung der Ukraine ausgerufen und übt seither Einfluss auf die Gesetzgeber aus. So lehnt er beispielsweise die Istanbul-Konvention entschieden ab, die die Ukraine nicht ratifiziert hat.

Im öffentlichen Diskurs der ersten Jahre der Unabhängigkeit entstand aus dem Gemisch aus Religiosität, der Suche nach nationaler Identität und den Bestrebungen, die traditionelle Familie neu zu erschaffen, das Konzept der «Berehynia, der Hüterin von Heim und Herd». Dieses romantisierte archaische Ideal der Hausfrau hätte Ende des 20. Jahrhunderts die Probleme der ukrainischen Frauen kaum lösen können, wurde aber von Politikern aktiv genutzt. Wie die Wissenschaftlerin Oksana Kis feststellte, verwies dieses Bild auf den «besonderen» Weg der ukrainischen Frauen, «die Zweckmäßigkeit jedes Feminismus in der Ukraine zu widerlegen». Die Rückkehr der Frau in die traditionelle Hausfrauenrolle war damals für den Staat zwar bequem, jedoch nur wenigen Familien tatsächlich möglich.

Die allgemeine Instabilität und die schwierige wirtschaftliche Lage erlaubten es den Frauen in den 1990er Jahren nicht, sich massenhaft vom Arbeitsmarkt zurückzuziehen. Noch dazu war in diesen Jahren Erwerbstätigkeit oft nur informell möglich, hinzu kam der stete Abbau von Pflegeinfrastruktur und Sozialversicherungen.

Darüber hinaus setzte die Möglichkeit, «Hüterin von Heim und Herd» zu sein, eine traditionelle Familie voraus. Die Zahl der Hochzeiten ist aber gesunken, während die Zahl der Scheidungen gestiegen ist. Es ist anzunehmen, dass ein Teil der Scheidungen auf häusliche Gewalt zurückzuführen ist. Etwa 40 Prozent der Ukrainer*innen geben an, dass Verwandte oder Freund*innen damit konfrontiert waren. In der Ukraine wurde dieses Thema jedoch lange Zeit nicht angesprochen.

Die Situation alleinerziehender Mütter konnte tatsächlich existenzbedrohende Ausmaße annehmen. Der Schutz alleinerziehender Mütter vor Entlassungen funktionierte in der Schattenwirtschaft schlecht. Staatliche Beihilfen waren immer unbedeutend. So erhielt jedes Kind im Jahr 2003 monatlich etwa 7 Euro. Jetzt liegt das absolute Maximum, das eine alleinerziehende Mutter monatlich bekommen kann, bei etwa 75 Euro. Doch in den letzten Jahren ist die Zahl der Familien, die Anspruch auf derartige Beihilfen haben, stark zurückgegangen. Gab es 2016 noch etwa eine halbe Million Empfänger*innen, sind es jetzt fünfmal weniger.

Darüber hinaus wurde eine andere Beihilfe, nämlich das Kindergeld aufgrund der Hyperinflation abgewertet und ist unbedeutend geworden. Und dies ist neben den patriarchalen Stereotypen einer der Gründe, warum in nur zwei Prozent der Familien der Vater Elternzeit nimmt. Da der Lohn für diese Zeit wegfällt, ist es für die Familien rentabler, wenn der Elternteil mit dem niedrigeren Einkommen zu Hause bleibt. Das ist in den meisten Fällen die Frau.

Die Regierung führte 2005 Kindergeld für alle Familien ein, nicht nur für alleinerziehende Mütter. Diese Hilfe belief sich auf 8.500 Hrywnja (1.500 Euro), das waren damals etwa 10 Durchschnittslöhne. Der Betrag wurde schrittweise ausgezahlt, monatlich über mehrere Jahre hinweg. Im Jahr 2008 wurde der Betrag erhöht und gestaffelt: 12.000 für das erste Kind, 25.000 für das zweite und 50.000 für das dritte und alle folgenden. Nach einer weiteren Erhöhung 2011 wurde 2014, nach dem Kriegsbeginn und der Wirtschaftskrise, die Zulage für das erste Kind trotz der Erhöhung des Hrywnja-Betrages real um 43 Prozent abgewertet. Auch wurde die Unterstützungszahlung nicht mehr gestaffelt und ihre Höhe war nicht mehr von der Kinderzahl abhängig. In den letzten 7 Jahren wurde sie nicht angepasst. Derzeit beträgt sie 41.000 Hrywnja (1.300 Euro). Davon werden 10.000 Hrywnja (300 Euro) unmittelbar nach der Geburt des Kindes ausgezahlt, der Rest wird auf 3 Jahre aufgeteilt und beträgt 860 Hrywnja (27 Euro) pro Monat.

Die Soziologin Oksana Dutchak betont in ihrer Studie «Crisis, War and Austerity: Devaluation of Female Labor and Retreating of the State», dass die progressive Auszahlung wichtig gewesen sei: Auf diese Weise habe die Regierung die ungleiche Belastung des Familienbudgets durch die Geburt jedes weiteren Kindes anerkannt.

Wie sich in 30 Jahren die Frauenbeschäftigung in der Ukraine änderte

Nach den wirtschaftlich schwierigen Neunzigern verzeichnete die ukrainische Wirtschaft in den Nullerjahren erstmals wieder Wachstum. Im Handel- und Dienstleistungssektor, einem der größten Wirtschaftsbereiche mit den offiziell niedrigsten Gehältern, arbeiten 2017 zu 65 Prozent Frauen. 2017 machten sie hier 65 Prozent der Beschäftigten aus. Im stabilen und besser bezahlten Industriesektor hat sich der Frauenanteil hingegen von etwa 40 Prozent im Jahr 1994 auf 21,6 Prozent im Jahr 2017 fast halbiert. Der Gender Pay Gap für 2021 beträgt offiziell 20 Prozent.

«Mit anderen Worten - zu Beginn ihrer Eigenständigkeit gab es in der ukrainischen Wirtschaft eine viel größere Ausgewogenheit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die sich seitdem deutlich verschlechtert hat», sagt Dutchak.

In seit der Sowjetzeit traditionell weiblichen Sphären wie dem Medizin- und Bildungssektor wird die vertikale Segregation deutlich sichtbar. Zum Beispiel sind unter den Krankenschwestern 97 Prozent Frauen, unter den Chefärzt*innen aber nur 46 Prozent.

Wer kümmert sich um die Kinder und die Kranken, solange die Ukrainerinnen arbeiten?

In der Zeit der Unabhängigkeit wurde das vorherige Modell der berufstätigen Mutter, die auf staatliche Pflegeunterstützung zählen konnte, durch die Erwartung einer intensiven Mutterschaft abgelöst. Dies ist ein Geschlechtervertrag, der dem patriarchalen Modell entspricht, wo die Mutter zu einem erheblichen Maß für die Kindererziehung zuständig ist. Die Unmöglichkeit, dieses Modell vor allem aufgrund wirtschaftlicher Erschütterungen zu leben, hat zu sinkenden Geburtenraten geführt.

 «Nach dem Geburtenrückgang wurde die Schließung von Kindergärten zu einer typischen Erscheinung. Und als die Zahl der Kinder vor allem in Großstädten wieder zunahm, hatte man es nicht eilig, diese wieder zu öffnen. In kleinen Siedlungen und im Frontgebiet macht sich der Abbau der Infrastruktur besonders bemerkbar. Ein Kind in den Kindergarten, in die Schule oder zu einem Arzt zu bringen, bleibt die traditionelle Aufgabe der Frau, wird aber zu einer immer schwierigeren logistischen Aufgabe. Und wieder einmal muss sich eine Frau zwischen Beruf und Familie entscheiden», sagt Nina Potarska.

Ein weiteres typisches sowjetisches Modell, das allmählich verschwindet, sind die Großmütter als Erzieherinnen. Sie sind oft die zentrale Stütze für alleinerziehende Mütter und Arbeitsmigrant*innen, also letztlich jeder Familie. Allerdings wurde das Pensionsalter für Frauen in der Ukraine inzwischen von 55 auf 60 Jahre angehoben. Die durchschnittliche Höhe der Pensionen von Frauen ist mit ungefähr 100 Euro sehr gering und außerdem um 30 Prozent niedriger als bei den Männern. Daher kehren ältere Frauen in den Arbeitsmarkt zurück. In den letzten 30 Jahren tendieren Frauen in der Ukraine dazu, später zu gebären. Dadurch laufen Frauen Gefahr, Opfer des sogenannten Sandwich-Syndroms zu werden, bei dem eine Frau sich gleichzeitig um Kinder und ältere Angehörige kümmern muss.

Für die meisten Frauen wird diese Situation zu einem «Spagat» zwischen Familie und Beruf mit geringeren Karriereaussichten. Die Alternative dazu ist erzwungene Arbeitslosigkeit, die mit dem Risiko von Armut und Abhängigkeit von einem Mann einhergeht. In der Ukraine ist ein klarer Trend zu beobachten: Je mehr Kinder eine Mutter hat, desto geringer sind ihre Chancen, auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren.»

Wie stehen die modernen Ukrainerinnen zur Gleichstellung der Geschlechter?

In den letzten Jahren hat die Ukraine aktiv an «westliche Werte” appelliert, von denen ein wichtiger Teil die Gleichstellung der Geschlechter ist. Aber inwieweit teilen die ukrainischen Frauen selbst, die die proklamierte Gleichstellung, das Neopatriarchat und die wirtschaftlichen Erschütterungen durchgemacht haben, solche Ideen? Eine kürzlich durchgeführte Umfrage anlässlich des Unabhängigkeitstages ergab, dass die Bürger*innen die Gleichstellung von Männern und Frauen als die erfolgreichste Transformation betrachten. Laut Usmanova gab es in den letzten drei bis fünf Jahren tatsächlich bedeutende Veränderungen.

«Obwohl hinsichtlich der Istanbul-Konvention durchweg alles schlecht ist, gibt es dennoch Fortschritte. Neue Gesetze betreffend häuslicher Gewalt wurden eingeführt. Und der Gesetzestext bezüglich Vergewaltigungen wurde geändert: Sie wurden vergewaltigt, nicht erst wenn Sie «Nein» sagten, sondern bereits wenn Sie nicht zugestimmt haben. Das macht die ukrainische Gesetzgebung relativ fortschrittlich», so die Expertin.

Die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in der Ukraine besteht aber noch immer. Für fast die Hälfte der Bevölkerung ist das konservative Bild der Frau als Hüterin von Heim und Herd nach wie vor relevant. Wie erwartet, vertreten junge Akademikerinnen stärker feministische Positionen. Natürlich gibt es in der Ukraine einen Feminismus der Mittelklasse, so Usmanova, der aber mit dem Leben der meisten Frauen wenig zu tun hat. Aufgrund der Vielfalt feministischer Gruppen ist jedoch noch eine gewisse positive Dynamik vorhanden.

Hat sich die Situation der Ukrainerinnen verbessert?

Die Ukraine verfügt im Allgemeinen über fortschrittliche Gesetze in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter. Das betrifft sowohl wirtschaftliche Chancen als auch die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Und feministische Themen rücken zunehmend in den öffentlichen Diskurs. Die Realität sieht bei den meisten Frauen jedoch oft anders aus. Die vertikale und horizontale Segregation des Arbeitsmarktes führt zu schlechteren Verdienstmöglichkeiten. Lücken in der Pflegeinfrastruktur und allgemein das eingeschränkte Jobangebot zwingen die Menschen, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit erlaubt es nicht, im Falle häuslicher Gewalt den Täter zu verlassen. Und die Frauen, die es wagen, sind dann von Obdachlosigkeit bedroht. Auch die Kürzung der Sozialprogramme betrifft vor allem Frauen. Denen die weniger wettbewerbsfähig sind, bleibt nur noch, sich auf sich selbst verlassen.

Dieses Bündel ungelöster Probleme kann jedoch jetzt laut angesprochen werden. Und genau das ist die Aufgabe linker Feministinnen in der Ukraine.


[1] Als Tunejadcy wurden diejenigen in der Sowjetunion ausgegrenzt, die keiner geregelten Arbeit nachgingen. Sie galten damit als nicht-sowjetisch. (Anm. FW)