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Die Bedeutung der Wahl für den verfassungsgebenden Prozess in Chile

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Autor*innen

Ute Löhning, Leonel Yañez,

Seit Juli 2021 erarbeiten die 155 Mitglieder des Verfassungskonvents einen Text für eine neue Verfassung für Chile. Sofern die Bevölkerung diesem Verfassungstext Mitte 2022 zustimmt, wird damit die während der Diktatur geschriebene und bis heute gültige Verfassung von 1980 abgelöst. Die breite Protestbewegung, die seit 2019 weite Teile der Gesellschaft erfasst, hatte die Möglichkeit für einen verfassungsgebenden Prozess freigemacht. Fast 80 Prozent hatten diesem Weg bei einem Referendum im Jahr 2020 zugestimmt. Was ist seit der Konstituierung des Verfassungskonvents geschehen? Wie steht es um die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung? Welche Bedeutung hat die Wahl eines neuen Präsidenten für den verfassungsgebenden Prozess? Denn am 19. Dezember entscheidet sich in einer Stichwahl, ob der linke Kandidat Gabriel Boric oder der extrem rechte José Antonio Kast der neue Präsident Chiles wird.

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Die Chance, Chile zu ändern

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Seit Juli 2021 erarbeiten die 155 Mitglieder des Verfassungskonvents einen Text für eine neue Verfassung für Chile. Sofern die Bevölkerung diesem Verfassungstext Mitte 2022 zustimmt, wird damit die während der Diktatur geschriebene und bis heute gültige Verfassung von 1980 abgelöst. Die breite Protestbewegung, die seit 2019 weite Teile der Gesellschaft erfasst, hatte die Möglichkeit für einen verfassungsgebenden Prozess freigemacht. Fast 80 Prozent hatten diesem Weg bei einem Referendum im Jahr 2020 zugestimmt. Was ist seit der Konstituierung des Verfassungskonvents geschehen? Wie steht es um die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung? Welche Bedeutung hat die Wahl eines neuen Präsidenten für den verfassungsgebenden Prozess? Denn am 19. Dezember entscheidet sich in einer Stichwahl, ob der linke Kandidat Gabriel Boric oder der extrem rechte José Antonio Kast der neue Präsident Chiles wird.

Eine Podcast-Produktion von Leonel Yañez Uribe und Ute Löhning

Die Regierung unterstützt den verfassungsgebenden Prozess nicht

Am 4. Juli 2021 traten die 155 Mitglieder des Verfassungskonvents, darunter viele linke, feministische, ökologische und partei-unabhängige Vertreter*innen, zum ersten Mal zusammen. Sie wählten die Sprachwissenschaftlerin und Vertreterin der indigenen Mapuche, Elisa Loncón, zur Präsidentin des Konvents und den Juristen Jaime Bassa von der linken Partei Frente Amplio zum Vizepräsidenten. «Seitdem haben wir fünf Monate intensiver, harter Arbeit hinter uns», erklärt Jaime Bassa.  Schon am 5. Juli, einen Tag nach der Eröffnung des Konvents konnte dieser nicht tagen. Die technischen, sanitären und organisatorischen Bedingungen seien nicht ausreichend gewesen, damit ein Gremium dieser Größenordnung arbeiten konnte. «Mit der Unterstützung von Personen aus Universitäten und anderen Einrichtungen haben wir den institutionellen Rahmen praktisch aus dem Nichts aufgebaut», sagt Bassa und «daraus wird klar, dass die Regierung den verfassungsgebenden Prozess in Chile nicht unterstützt».

Leonel Yañez Uribe ist freier Journalist und Dozent an der Fakultät für Journalismus der Universität von Santiago (USACH)


Ute Löhning ist freie Journalistin, sie veröffentlicht u.a. zu Lateinamerika und Menschenrechtsthemen

Innerhalb von dreieinhalb Monaten erarbeitete der Verfassungskonvent sein internes Regelwerk, in dem Entscheidungsprozesse und Mehrheiten definiert sind. Sieben thematische Kommissionen wurden eingerichtet, die parallel tagen und verschiedene Aspekte der neuen Verfassung bearbeiten. Dazu gehört die Frage der Staatsform, ob Chile in Zukunft ein präsidiales oder ein parlamentarisches System haben soll. Zentrale Debatten drehen sich um die Garantie grundlegender sozialer Rechte für alle, wie den Zugang zu Systemen der Gesundheit, Bildung, Wohnung und Renten. Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter, des Zugangs zu Wasser für alle und «Rechte der Natur» werden in den Kommissionen verhandelt.

Angriffe auf den Verfassungskonvent von innen und außen

Dabei habe es Schwierigkeiten gegeben, diese Arbeit an die Bevölkerung zu kommunizieren, berichtet Bassa: «Das lag vor allem an einer organisierten Social Media-Attacke gegen den Verfassungskonvent. Ganze Bataillone von Bots und Fake-Accounts haben eine Schmähkampagne gegen unsere Arbeit losgetreten». Außerdem habe es auch interne Angriffe gegeben, ergänzt Bassa, «Mitglieder des Verfassungskonvents, die der extremen Rechten zuzuordnen sind, wollen den verfassungsgebenden Prozess zum Scheitern bringen. Denn sie vertreten immer noch das politische Projekt der Diktatur und deren Verfassung». Mit dieser Kampagne und den permanenten Attacken gegen den Konvent und seine Präsidentin Elisa Loncón umzugehen, sei eine der größten Herausforderungen.

Elisa Loncón persönlich ist als Mapuche-Vertreterin heftigen rassistischen Attacken ausgesetzt. In ihrer Antrittsrede hatte sie angekündigt, der Verfassungskonvent werde Chile «zu einem plurinationalen, interkulturellen Staat machen, in dem die Rechte der Frauen und der Pflegekräfte geachtet, und in dem die Mutter Erde und das Wasser vor jeder Vereinnahmung geschützt werden». Während die chilenische Regierung den Konflikt mit den Mapuche militarisiert und in der Araukania-Region den Ausnahmezustand ausgerufen hat, beschäftigt sich eine übergreifende Kommission des Verfassungskonvents mit der Frage der Plurinationalität. In Chile leben zehn gesetzlich anerkannte indigene Gruppen.

Nicht zuletzt weil die breite Protestbewegung von Oktober 2019 den verfassungsgebenden Prozess erst ermöglicht hatte, diskutiert eine weitere Kommission Formen der Partizipation der Bevölkerung. «Die Sehnsucht und die Forderung nach Teilhabe hat zentrale Bedeutung im verfassungsgebenden Prozess», sagt der Vizepräsident des Verfassungskonvents, Bassa. Für ihn ist das auch für die Zukunft eine entscheidende Frage: «Es geht nicht nur um politische Partizipation in Form von Beteiligung an Entscheidungen. Sondern es geht auch um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Partizipation im Sinn von Teilhabe an einem Leben in Gemeinschaft». Die Kommission rufe daher zu einem Wandel der Beziehung zwischen den Institutionen und der Bevölkerung auf, denn die Institutionen sollen schließlich die Bevölkerung repräsentieren.

Strukturelle Unfähigkeiten des politischen Systems

Zusammen mit Constanza Schonhaut und Fernando Atria – beide ebenfalls Mitglieder des Verfassungskonvents – hatte Bassa in einem offenen Brief analysiert, dass die Legitimationskrise, die sich ab Oktober 2019 in der sozialen Protestbewegung Ausdruck verschafft hatte,  sich auf strukturelle Unfähigkeiten des politischen Systems zurückführen lasse. Seit dem Übergang zur Demokratie sei die Politik nicht in der Lage gewesen, auf soziale Forderungen einzugehen. Mit der neuen Verfassung müsse auch das politische System umstrukturiert werden: Bassa, Atria und Schonhaut schlagen eine Abkehr von einem präsidialen hin zu einem parlamentarischen System vor. Vor allem müsse die Politik die Diversität der Gesellschaft anerkennen, Initiativen aus der Bevölkerung aufnehmen und verbindlich umsetzen.

Für den verfassungsgebenden Prozess hat die Kommission eine digitale Plattform eingerichtet, über die die Bevölkerung Vorschläge einbringen kann. Initiativen, für die 15.000 Personen unterschreiben, werden genauso bearbeitet wie solche, die aus dem Verfassungskonvent selbst kommen. «Sie haben die gleiche Möglichkeit, zu einem Artikel der Verfassung zu werden», erklärt Bassa und das sei nur eine von mehreren neuen Partizipationsmöglichkeiten. So solle es auch in den Nachbarschaftsversammlungen, den Cabildos, und anderen Diskussionsformaten möglich sein, Forderungen zu formulieren und einzubringen. «Die Menschen sollen sich neu zusammenfinden können, und das soziale Netz wieder aufbauen, das nach der Diktatur verloren gegangen ist», erklärt der Vizepräsident des Verfassungskonvents.

Denn dreißig Jahre nach dem Ende der Diktatur ist die soziale Ungleichheit enorm, politische Resignation verbreitet. Nach dem Putsch 1973 wurde Chile zum Experimentierfeld einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Auch nach dem Übergang zur Demokratie 1990 haben rechte und Mitte-Links-Regierungen die Privatisierung von Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge weiter vorangetrieben. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung verdient rund 500 Euro monatlich. Dabei sind die Lebenshaltungskosten in Chile im lateinamerikanischen Vergleich sehr hoch. Schon allein für einen Studienplatz sind oft 500 Euro monatliche Gebühr fällig, gute Gesundheitsversorgung ist ebenfalls teuer. Viele Menschen haben also entweder keinen Zugang zu guter Bildung und Gesundheitsversorgung oder sie verschulden sich auf Jahrzehnte. Dabei sind die Möglichkeiten politischer Einflussnahme seitens der Bevölkerung minimal, verbindliche Volksentscheide existieren nicht.

Mobilisierung auf der Straße kurz vor der Stichwahl

Anfang Dezember 2021 bei einer Kundgebung in Santiago de Chile, im Stadtteil Ñuñoa. Etwa 500 Menschen kommen hier zusammen. Die Stichwahl um die Präsidentschaft, in der am 19. Dezember der extrem rechte José Antonio Kast gegen den linken Gabriel Boric antritt, steht kurz bevor. «Balconeras» werden verteilt, das sind Transparente, die aus Fenstern oder Balkonen gehängt werden können, mit der Aufschrift «Zusammen für den Wandel – Boric Presidente». Mit Musik von Nano Stern und Reden soll für den 35-jährigen Boric von der Frente Amplio mobilisiert werden. Mit 26 Prozent war er der Zweitplatzierte in der ersten Wahlrunde der Präsidentschaftswahl.

Gabriel Boric steht für die Forderungen der Protestbewegung, in der Millionen von Menschen seit Oktober 2019 für soziale Forderungen, indigene Rechte, ökologische und feministische Positionen demonstrierten. Radikaleren Teilen dieser Bewegung gelten Boric und die Frente Amplio hingegen als zu etabliert. Vor allem kritisieren sie, dass Boric in November 2019 – in der Hochzeit der Protestbewegung – ohne Abstimmung in seiner Partei einem «Abkommen für Frieden und eine Neue Verfassung» zustimmte. Damit startete der verfassungsgebende Prozess. Doch zugleich verschaffte dieses Abkommen Präsident Piñera Luft und er konnte sich trotz miserabler Zustimmungswerte in der Bevölkerung im Amt halten.

Angesichts der Bedrohung, die feministische und linke Organisationen in einer möglichen Wahl Kasts sehen, stellen nicht alle, aber viele diese Konflikte nun zurück und unterstützen Boric. Bei der Kundgebung werden Grußbotschaften verlesen. Denn alle Mitte-Links- bis christdemokratischen Parteien rufen zur Wahl Borics auf. Inzwischen erklärte auch die Ex-Präsidentin Michelle Bachelet öffentlich, sie werde für Gabriel Boric stimmen.

Kast steht für eine Rückkehr zum Pinochetismus

Sie alle wollen auf jeden Fall verhindern, dass der 55-jährige José Antonio Kast von der extrem rechten Republikanischen Partei gewinnt, der bei der ersten Wahlrunde 28 Prozent der Stimmen erhalten hat. Denn Kast steht für eine Rückkehr zum Pinochetismus. Er bezeichnete sich selbst als Bewunderer des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und vertritt einen Diskurs des Katholizismus, der Freiheit der Wirtschaft und der autoritären Ordnung. Valeria Rivas ist auch zur Kundgebung gekommen: «Die nächste Regierung muss garantieren, dass die neue Verfassung die Sorgen der Chileninnen und Chilenen ernst nimmt», sagt sie und das allerwichtigste sei, dass die neue Verfassung überhaupt eingesetzt wird. «Gabriel Boric sichert das zu», sagt sie und ergänzt: «der ‚andere Kandidat‘ ist der Kandidat des ‚Rechazo‘». Der «andere Kandidat» ist ein Synonym für Kast, das verhindern soll, dass er weitere Aufmerksamkeit bekommt. Kast hatte schon 2020 zum Referendum für das «Rechazo», also die «Ablehnung» eines verfassungsgebenden Prozesses mobilisiert. Valeria meint, dass dieser den Verfassungskonvent in seiner Arbeit blockieren und versuchen würde zu verhindern, dass die neue Verfassung in einem Referendum angenommen wird.

Sie ergänzt: «Wir können nicht zulassen, dass dieser Prozess, den wir seit Oktober 2019 leben, gestoppt wird. Denn das ist unsere Chance, Chile zu ändern. Der ‚andere Kandidat‘ bedroht unsere Freiheiten». Denn er vertrete einen Diskurs von Hass und Frauenfeindlichkeit, durch den sich viele Leute ermutigt fühlen, Frauen, LGBTIQ-Personen und Minderheiten anzugreifen. Für Valeria ist klar: «Das dürfen wir nicht zulassen», und ihre Mutter Mercedes Maza ergänzt etwas stolz: «Diese Verfassung, die gerade in Chile geschrieben wird, ist eine der wenigen, die die Bevölkerung schreibt oder bei der diese zumindest angehört wird». Meistens passiere das zwischen vier Wänden und die Menschen um die es geht, werden dabei nicht berücksichtigt», fügt sie hinzu.

Der Verfassungskonvent ist per Definition geschlechterparitätisch, also je zur Hälfte mit Männern und mit Frauen besetzt. 17 Sitze sind Vertreter*innen indigener Gemeinschaften vorbehalten, die über separate Listen gewählt wurden. Bei der Wahl der 155 Mitglieder im Mai 2021 schnitten linke, feministische, ökologische und unabhängige, also parteilose Kandidat*innen sehr gut ab. Die organisierte Rechte hält weniger als ein Drittel der Sitze und kann damit keine Entscheidungen blockieren.

Die neue Verfassung ist in Gefahr

Alondra Carrillo von der feministischen Dachorganisation 8. März ist als unabhängige Kandidatin in den Verfassungskonvent gewählt worden. Nachdem die feministische Bewegung bereits bei Versammlungen, über SocialMedia und bei der Demonstration gegen Gewalt an Frauen am 25. November offen zur Wahl Borics aufgerufen hatte, nutzt Carrillo nun die Gelegenheit bei einer Diskussions-Sendung im öffentlichen Fernsehkanal TVN. «Die Wahlen sind nicht unabhängig vom verfassungsgebenden Prozess zu sehen», sagt sie, «Dieser Prozess und die neue Verfassung sind in Gefahr. Ich rufe die Bevölkerung auf, zur Wahl zu gehen und für Boric zu stimmen. Denn er ist der einzige Kandidat, der sich einer neuen Verfassung verpflichtet fühlt».

Jaime Bassa teilt ihre Sorgen. Der Vizepräsident des Verfassungskonvents betont, dass dieses Gremium sein Mandat durch das Referendum von 2020 und durch die Wahlen des Konvents 2021 von der Bevölkerung erhalten hat: «Dieses Mandat werden wir wahrnehmen, unabhängig davon, wie die Präsidentschaftswahl ausgeht». Da Kast sich bereits offen gegen die Arbeit des Verfassungskonvents ausgesprochen habe, würde es jedoch große Schwierigkeiten für die weiteren Vorhaben bedeuten, sollte er zum Präsidenten gewählt werden. In diesem Fall erwarte Bassa, dass Kast eine beobachtende Position, eine Art Statistenrolle einnähme, die die aktuelle Arbeit und die demokratischen Prozesse akzeptiere. «Aber ich weiß nicht, ob die radikale Rechte die Institutionen so respektieren würde, wie es zu erwarten wäre», fügt Bassa an, der eine schwierige, komplexe Zeit kommen sieht und betont: «Aber wir werden unser Mandat bis zum Ende ausführen».

Schwierige Monate erwarten den Verfassungskonvent und ganz Chile ohnehin. Nach den Wahlen im November, bei denen auch Senat und Abgeordnetenkammer neu gewählt wurden, gibt es keine klaren Mehrheiten. Weder ein Präsident Boric noch ein Präsident Kast könnten «einfach» regieren. Beide wären auf Diskussionen, Verhandlungen, Suche nach Kompromissen angewiesen. Jedenfalls wird die extreme Rechte aus der Regierung oder aus der Opposition heraus alle verfügbaren Mittel einsetzen, um zu verhindern, dass eine neue Verfassung mit Kerninhalten der Protestbewegung in Chile gültig wird. Denn damit würde tatsächlich dem Erbe der Diktatur ein Ende gesetzt.

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