Am 19. Dezember wurde Gabriel Boric vom linken Wahlbündnis Apruebo Dignidad («Ich stimme der Würde zu») mit knapp 56 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Chiles gewählt. Er konnte sich mit zwölf Prozentpunkten Vorsprung gegen den extrem rechten Kandidaten José Antonio Kast durchsetzen, der für einen strengen Katholizismus, autoritäre Ordnung und ein neoliberales Wirtschaftsmodell steht.
Ute Löhning sprach mit Karina Nohales über das Ergebnis der Wahl.
Karina Nohales ist Sprecherin der feministischen Dachorganisation «Coordinadora Feminista 8 de Marzo» (CF8M). Sie arbeitet im Team von Alondra Carrillo (CF8M), die als unabhängige, parteilose Vertreterin in den Verfassungskonvent gewählt wurde, der bis Mitte 2022 eine neue Verfassung für Chile ausarbeitet.
Ute Löhning ist freie Journalistin, sie veröffentlicht u.a. zu Lateinamerika und Menschenrechtsthemen.
Karina, wie bewertest du diese Wahl?
Die erste Erkenntnis ist, dass die chilenische Bevölkerung den Pinochetismus besiegen wollte. Chile ist nicht rechts. Der entscheidende Faktor war dabei, dass die Wahlbeteiligung in den ärmeren Sektoren gegenüber der ersten Wahlrunde gestärkt wurde. Das hat auch mit der Arbeit vieler Aktiver zu tun, die im Vorfeld der Wahl stark mobilisiert haben, vor allem im Großraum Santiago.
Wie sah die Arbeit deiner Organisation, der CF8M dort aus?
Wir wussten aus den Erfahrungen in den USA mit Trump und in Brasilien mit Bolsonaro, dass es nicht ausreicht, eine antifaschistische Kampagne zu führen, sondern dass es notwendig ist, die positive andere Alternative zu bekräftigen. Das haben wir mit aller Kraft getan, obwohl wir nie Teil des Wahlbündnisses Apruebo Dignidad waren und auch Kritik an ihm äußern. Aus einer unabhängigen Position heraus haben wir die Themen und Programme des Bündnisses hervorgehoben, die uns relevant erschienen. Wir haben uns mit anderen feministischen Organisationen koordiniert und dabei vor allem Menschen angesprochen, die im ersten Wahlgang nicht gewählt hatten.
Im ersten Wahlgang lag Kast noch vor Boric. Die Nichtwähler*innen waren also ausschlaggebend, um das Ergebnis im zweiten Wahlgang herumzureißen…
In dem bevölkerungsstarken Bezirk Puente Alto (mehr als 600.000 Bewohner*innen), wo wir als Wahlbeobachter*innen waren, hatte Boric im ersten Wahlgang bereits die meisten Stimmen erhalten, aber die Wahlbeteiligung war im Vergleich zum Plebiszit vom Oktober 2020 stark zurückgegangen. Im zweiten Wahlgang stieg nun die Wahlbeteiligung stark an, wodurch Boric seinen Vorsprung vor Kast gegenüber der ersten Wahlrunde am 21. November stark ausbauen konnte. Ähnliches ist in La Pintana geschehen, einem sehr armen Stadtteil Santiagos. Dort haben rund 25 Prozent mehr Menschen ihre Stimme abgegeben als im ersten Wahlgang.
Die Wahlbeteiligung (landesweit rund 56 Prozent, Anm.d.Red.) war die höchste seit es keine Wahlpflicht mehr gibt. Der zukünftige Präsident ist nun der, der mit den meisten Stimmen, also dem besten Ergebnis in der Geschichte des Landes gewählt wurde. Diese Wahl hatte eher einen plebiszitären Charakter als den einer zweiten Wahlrunde. Die beispiellose Beteiligung war allerdings weniger durch uneingeschränktes Vertrauen in Gabiel Boric geprägt als durch die breite Ablehnung eines Pinochet-nahen Wegs.
War dir nach der Auszählung nach Feiern zumute?
Es war wichtig, Kast zu schlagen. Es war auch wichtig, ihn mit einem großen Vorsprung zu schlagen. Mit so einem großen Vorsprung hatte ich jedoch nicht gerechnet. Dennoch hatte ich eher ein Gefühl der Erleichterung als der Euphorie. Erleichterung darüber, dass ich dazu beigetragen hatte, ein Szenario zu schaffen, in dem wir weiterhin unter weniger schwierigen Bedingungen eine Alternative von unten aufbauen können. Denn die nächste Zeit wird nicht einfach sein. Aber zumindest wissen wir, dass wir uns organisieren können und nicht unter einem ständigen Druck stehen. Nach der Auszählung der Stimmen waren wir lange im Zentrum Santiagos, bei der Plaza de la Dignidad und auf der Straße Alameda, wo Boric geredet hat, und haben gefeiert.
Wie sieht die Zukunftsperspektive aus: Wie werden sich die verschiedenen politischen Kräfte gegenüber einer Regierung Gabriel Boric verhalten?
Wir waren in allen vorherigen Regierungen eine Opposition mit einem Megaphon auf der Straße. In Chile wird nun die extreme Rechte den Platz der Opposition einnehmen. Dabei kann sie aber die Mainstream-Medien als machtvolles Mittel einsetzen. Wir sehen die Gefahr, dass ein ähnliches Szenario eintreten könnte wie in Spanien, wo die extreme Rechte aus der Opposition heraus gesellschaftliche Debatten setzt. Wir wissen nicht, ob Kast in vier weiteren Jahren tatsächlich Präsident werden kann. Aber er hat eine gute Ausgangsposition, um seine Position während der Regierung Borics auszubauen. Wir müssen in dieser Zeit vor allem eine breite Bewegung aufbauen, in der der Feminismus von unten eine Schlüsselrolle spielt, und wir müssen die Politisierung der Leute weiterhin stärken.
Jenseits des Verhaltens der Parteien bleiben viele Fragen offen: Wie wird das Großkapital agieren? Wie werden sich die Bewegungen verhalten? Wird sich Boric immer mehr einer Neuauflage der Concertación (Mitte-Links-Koalition mehrerer Regierungsperioden nach dem Übergang zur Demokratie in Chile, Anm. d. Red.) annähern? Wir sind in einem politischen Zyklus, der nicht mit dem vierjährigen Regierungszyklus übereinstimmt, und den wir anhand der Klassenauseinandersetzung werden bewerten müssen.
Die Frage, ob wir von links Opposition gegen die Regierung machen oder sie kritisch unterstützen werden, wird sich im politischen Agieren entwickeln. Wir werden bis zum 8. März die Ausrichtung unserer Politik schärfen. Der Regierungswechsel wird am 11. März stattfinden. Unser Handeln in den kommenden Monaten wird also sehr wichtig sein, um den Beginn der neuen Regierung zu markieren.
Welche Bedeutung hat die Wahl für die neue Verfassung und den Verfassungskonvent?
Der Verfassungskonvent steht etwas isoliert da. Zuweilen entsteht sogar der Eindruck, dass die transformativen Kräfte innerhalb des Konvents weiter links stehen als die Gesellschaft selbst. Ich denke, dass für viele Menschen die Wahlentscheidung gegen den Kandidaten der extremen Rechten auch eine Verteidigung des verfassungsgebenden Prozesses beinhaltet. Wir hatten auch in diesem Sinne geworben: «Wenn du für eine neue Verfassung gestimmt hast, kannst du bei den Präsidentschaftswahlen jetzt nicht dagegen stimmen!»
Denn wir wussten, dass es mit Kast keine neue Verfassung geben würde. Unsere These ist, dass Kast das notwendige Referendum zur Bestätigung des neuen Verfassungstextes Mitte 2022 nicht einberufen hätte. Denn nach den geltenden Regeln muss und kann das nur der Präsident tun. Nach dem jetzigen Wahlergebnis denke ich, dass der verfassungsgebende Prozess weiterarbeiten kann und muss. Denn selbst wenn die Regierung von Apruebo Dignidad und Boric von der Bevölkerung erwartete Änderungen einleiten will, kann sie das unter den Bedingungen der pinochetistischen Verfassung nicht umsetzen.
Karina, möchtest du deinerseits etwas hinzufügen?
Die internationale Komponente: Für uns hat die aktuelle Entwicklung in Chile und die Tatsache, dass wir den Kandidaten des Neofaschismus an der Wahlurne besiegt haben, auch eine internationale Bedeutung. Es gibt internationale Wechselwirkungen. So wären wir nicht da, wo wir heute sind, hätte es die feministische Bewegung in Argentinien nicht gegeben. Aktuell schauen wir auch auf die zukünftige Entwicklung und die Wahl im kommenden Jahr in Brasilien. Und wir wollen, dass andere auch auf uns schauen und auf das, was in dieser Zeit in Chile passiert.
Das tun wir gerne. Vielen Dank für dieses Gespräch.