Nachricht | Geschichte Zum 50. Jahrestag von Bloody Sunday

Über einen Tag, der die Gesellschaft Nordirlands bis heute prägt

Information

Autorin

Juliane Röleke,

Straßenszene im nordirischen Londonderry. In Erinnerung an die Opfer des «Bloody Sunday» 1972 haben Unbekannte mit weiß 14 Kreuze an eine Mauer gemalt. Darüber steht ebenfalls in weiß: REM Bloody Sunday. Auf dem Bürgersteig rechts der Mauer läuft ein junges Päärchen Hand in Hand. .
14 Kreuze auf einer Hauswand in der nordirischen Stadt Derry erinnerten im Jahr 1973 an das Massaker britischer Soldaten an friedlichen Demonstranten der katholischen Minderheit in Derry am 30. Januar 1972. Nach dem «Bloody Sunday» eskalierte der Bürgerkrieg in Nordirland. © Holger Rüdel holger-ruedel.de

Die Geschichte von Bloody Sunday, einem der gewaltvollsten Tage im Nordirlandkonflikt (1969-1998), steht stellvertretend für dessen bis heute schmerzhaftes und umkämpftes Nachleben. Vor mittlerweile 50 Jahren, am 30. Januar 1972, erschossen britische Fallschirmjäger in der zweitgrößten nordirischen Stadt Londonderry/Derry[1] insgesamt 13 irisch-katholische Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration und verletzten zahlreiche weitere. Die Bilder sorgten weltweit für Entsetzen, die britische Regierung nahm ihre Armee jedoch über Jahrzehnte in Schutz. Erst im Jahr 2010 entschuldigte sie sich offiziell für Bloody Sunday. Kate Nash, deren 19-jähriger Bruder William unter den Todesopfern war, sagte an jenem Tag: «38 years ago, a story went around the world […], that there were gunmen and bombers in our streets, and they were shot and killed. Today that lie has been uncovered. […] My brother William, we know he was innocent, we have always known – now the world knows.»[2] Die Frage aber, wie mit den Taten der britischen Armee in Nordirland langfristig und juristisch umgegangen werden soll, ist bis heute aktuell.

Hintergrund: Die britische Armee in Nordirland

Bereits seit 1968 hatten sich die politischen Auseinandersetzungen in Nordirland verschärft: Die aufstrebende Bürgerrechtsbewegung thematisierte vor allem die Diskriminierung und soziale Benachteiligung der irisch-katholischen Bevölkerung in der mehrheitlich unionistisch-protestantischen Region. Erst Anfang der 1920er Jahre war Nordirland als eine Provinz des Vereinigten Königreichs entstanden, nachdem Irland ab 1921 in einen vorwiegend irisch-katholischen Süden und einen überwiegend protestantisch-probritischen Norden geteilt worden war. Teile der unionistisch-protestantischen Bevölkerung wehrten sich gegen die Forderungen der Bewegung. Sektiererische und gewaltvolle Konfrontationen zwischen beiden Seiten und nordirischen Polizeikräften nahmen zu – schließlich entsandte die britische Regierung im Sommer 1969 die Armee. Anfangs galt diese gerade in der irisch-katholischen Bevölkerung als ein möglicherweise neutraler Schutz vor der überwiegend loyalistisch eingestellten nordirischen Polizei, der Royal Ulster Constabulary (RUC), doch das Verhältnis verschlechterte sich schnell. Mit den tödlichen Schüssen britischer Fallschirmjäger auf die Bürgerrechtsdemonstration im Herzen des traditionell irisch-katholisch geprägten Derry am Bloody Sunday war es endgültig an einem Tiefpunkt angelangt. Der Widerstand gegen die britische Politik im Nordirlandkonflikt verschärfte sich in der Folge massiv und republikanische Paramilitärs wie die Provisional Irish Republican Army und die Official Irish Republican Army erhielten großen Zulauf. Ihnen politisch fundamental entgegen standen loyalistische paramilitärische Gruppierungen wie die Ulster Volunteer Force oder Ulster Defence Associastion. Insgesamt wurde 1972 das opferreichste Jahr der Troubles.

Juliane Röleke ist Historikerin und lebt in Berlin. Sie promoviert zur Geschichte der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Nordirland in den Jahren 1945 bis 1985.

Die Ereignisse am 30. Januar 1972

Für den 30. Januar 1972 hatte die Bürgerrechtsbewegung in Derry eine Demonstration organisiert um gegen die Internierung ohne Gerichtsverfahren zu protestieren, welche von der britischen Regierung bereits im Sommer 1971 eingeführt worden war und für zahlreiche Verhaftungen vor allem unter der irisch-katholischen Bevölkerung sorgte. Der Demonstrationszug hatte sich im Stadtteil Creggan versammelt und sollte in die Innenstadt ziehen. Die Menge wurde jedoch von der britischen Armee aufgehalten und daraufhin von den Organisator*innen in die Bogside umgeleitet. Beide Stadtteile sind traditionell irisch-nationalistisch geprägt und waren damals umgeben von zahlreichen Armeestützpunkten. Einige Jugendliche gerieten hier in Auseinandersetzungen mit Soldaten, woraufhin britische Fallschirmjäger in die Demonstration eingriffen. Um kurz nach 16 Uhr eröffneten sie das Feuer und verletzten zunächst einige Demonstrierende schwer, bevor sie Jackie Duddy (17), Patrick Doherty (31), Bernard McGuigan (41), Hugh Gilmour (17), Kevin McElhinney (17), Michael Kelly (17), John Young (17), William Nash (19), Michael McDaid (20), James Wray (22), Gerald McKinney (34), Gerald Donaghey (17) und William McKinney (27) erschossen. John Johnston (59) wurde schwer verletzt und verstarb wenige Wochen später. Edward Daly, ein Priester und späterer Bischof von Derry, wurde Augenzeuge des Todes von Jackie Duddy. Beide versuchten, sich vor den Fallschirmjägern in Sicherheit zu bringen, als der 17-Jährige sich zunächst noch über den ungeschickt rennenden Priester amüsierte, erinnerte sich Daly später: «The next thing he suddenly gasped and threw his hands up in the air and fell on his face. He asked me: 'Am I going to die?' and I said no, but I administered the last rites.»[3]

Topographie des Nordirlandkonflikts

Diese Unmittelbarkeit der Gewalt, mit der die Ereignisse von Bloody Sunday die Stadt Derry geprägt haben, wird besonders deutlich, wenn man sich die zeitlichen und topographischen Zusammenhänge vor Ort anschaut. Derry hat heute etwa 85.000 Einwohner*innen, ist also eine relativ kleine Stadt. Eine deutliche Bevölkerungsmehrheit versteht sich als irisch-katholisch. Das historische Stadtzentrum liegt von alten Mauern umgeben auf einem Hügel, es war während der Troubles von der britischen Armee abgeriegelt und konnte nur nach einer Personenkontrolle betreten werden. Auch auf den Stadtmauern waren Soldaten stationiert und blickten über die wortwörtlich unter ihnen liegenden, irisch-nationalistisch geprägten Stadtteile Bogside und Creggan: den Schauplatz von Bloody Sunday. Es braucht, um von den Stadtmauern dort hinunter zu laufen, weniger als fünf Minuten. Weite Teile des rund dreißig Jahre währenden Nordirlandkonflikts trugen sich in derart eng bemessenen und bestimmten städtischen Räumen zu. Auch an Bloody Sunday wurden alle Personen innerhalb weniger Minuten und innerhalb von wenigen hundert Metern rund um die bekannten Wohnblöcke der Rossville Flats erschossen, die in den 1980er Jahren abgerissen wurden. Heute erinnern Denkmäler, Wandbilder und verschiedenste Informationstafeln an die Ereignisse und markieren konkrete Orte des Geschehens. Bloody Sunday ist vor allem in der Bogside und Creggan alles andere als vergessen. In das Erinnern mischen sich neben vielen anderen Akteur*innen allerdings auch republikanische Splittergruppen, die in jüngster Zeit dort die Journalistin Lyra McKee ermordet hatten.

Konsequenzen bis ins Heute

Mit der Veröffentlichung des anfangs bereits erwähnten erneuten Untersuchungsberichtes im Jahr 2010, dem Saville Report, entschuldigte sich David Cameron im Namen der britischen Regierung für Bloody Sunday, erklärte alle Todesopfer und Verletzte für unschuldig und unbewaffnet und hielt fest: «What happened on 'Bloody Sunday' was both unjustified and unjustifiable - it was wrong.» Tony Doherty, dessen Vater Patrick ebenfalls erschossen worden war, betonte an jenem Tag vor einer applaudierenden Menschenmenge am Rathaus in Derry: «Bloody Sunday wounded Derry very very badly. Well, we hope that from today we can bind up our wounds. But we recognise too, that the issues arising from the report go wider and deeper than Derry's concerns. When the state kills its citizens, it is an interest of all that the ones responsible may be hold to account. It is [...] democracy itself that needs to know what happend here, on the streets of Derry, in 1972.»

Tatsächlich ist die Frage, wie generell mit den Taten der britischen Armee im Nordirlandkonflikt umgegangen werden soll, erstaunlich aktuell. Im Spätsommer 2021 hatte die britische Regierung angekündigt, sämtliche Verfahren gegen Soldaten, die in Nordirland eingesetzt waren, verunmöglichen zu wollen und eine generelle Amnestie zu planen. Auch gegen ein Mitglied des Fallschirmjäger-Regiments von Bloody Sunday war ursprünglich Anklage erhoben worden, sie wurde jedoch fallengelassen. Die Kämpfe um ein mögliches Gerichtsverfahren ziehen sich bis heute, da Familienangehörige nicht aufgeben. Es ist aber trotz der Entschuldigung der britischen Regierung bisher kein Gerichtsurteil über einen der an Bloody Sunday beteiligten Soldaten gesprochen worden. Auch ist bis heute weitestgehend vergessen, dass dieselbe Einheit von Fallschirmjägern bereits im August 1971 in das Ballymurphy Massacre im Westen der Hauptstadt Belfast involviert gewesen ist, eine Reihe von Auseinandersetzungen zwischen britischer Armee und Lokalbevölkerung rund um die Einführung der Internierung ohne Gerichtsverfahren und der folgenden Verhaftungswelle. Auch in diesem Fall haben Familienangehörige erst 2021 erreicht, dass eine nordirische Untersuchungskommission die zivilen Todesopfer für unschuldig und die britische Armee für mindestens neun der Toten verantwortlich erklärte. Beide Ereignisse, Bloody Sunday und das Ballymurphy Massacre, stehen somit für das Fehlverhalten und die Verbrechen der britischen Armee in Nordirland, mit denen die Bevölkerung in unterschiedlicher Weise in Berührung kam. Insgesamt starben über 3.600 Menschen im Nordirlandkonflikt, der weitaus größte Teil der Todesopfer ist allerdings republikanischen und loyalistischen Paramilitärs zuzuschreiben. In jedem Fall ist Nordirland auch Jahrzehnte nach dem offiziellen Ende der Troubles, dem Karfreitagsabkommen von 1998, von den Erfahrungen des Konflikts und Auseinandersetzungen um seine Deutung gezeichnet.

Tipps zum Weiterlesen

Als Überblicksdarstellungen zum Nordirlandkonflikt

David McKittrick/David McVea: Making Sense of the Troubles. London, 2001.

Patrick Radden Keefe: Say Nothing. A True Story of Murder and Memory in Northern Ireland. London, 2018.

Persönliche Erinnerungen an Bloody Sunday

Eamonn McCann (Hg.): The Bloody Sunday Inquiry. The Families Speak Out. London, 2006.

Anna Burns: Milkman. London, 2018; deutsch erschienen unter dem Titel Milchmann,  im Verlag Klett-Cotta/Stuttgart 2020.

Erinnerungen einer Feministin an das Leben in Derry

Nell McCafferty: Nell. A Disorderly Woman. Dublin, 2004.


[1] Die Bezeichnung der Stadt unterscheidet sich je nach politischem Standpunkt. Da es im Folgenden vor allem um die Geschehnisse an Bloody Sunday geht und die Überlebenden des Tages und Angehörigen der irisch-katholischen Opfer von Derry sprechen, wird dies für den vorliegenden Text übernommen.

[2] Die Übertragung der Rede David Camerons anlässlich der Veröffentlichung des Saville Reports am 15. Juni 2010 sowie die im Folgenden zitierten Reden der Angehörigen und Überlebenden auf einer parallel organisierten Verastaltung in Derry lassen sich in verschiedenen Aufzeichnungen auf Youtube ansehen.

[3] Zitiert aus: David McKittrick/David McVea: Making Sense of the Troubles. London, 2001, S.77.