Nachricht | Migration / Flucht - Corona-Krise «Da wird auf jedes Kinderrecht gespuckt»

Frauen, Kinder und Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl

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Autor

Nikolai Huke,

Kinder haben im Hof einer Unterkunft für Geflüchtete aus Bierbänken eine Rutsche gebaut.
Kinder spielen im Hof einer Unterkunft für Geflüchtete auf einer selbstgebauten Rutsche aus Bierbänken. Albina Akhmedova

Albina Akhmedova über die Situation von Frauen, Kindern und Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl während der Corona-Pandemie (Gespräch vom 18.11.2020)

Nikolai Huke: Wie haben Sie Ihren ersten Tag in der Flüchtlingsunterkunft erlebt?

Albina Akhmedova: Das erste, was ich gehört habe, waren Schüsse. Neben der Flüchtlingsunterkunft befindet sich ein großer Schießplatz. Ich geriet in Panik, ich hatte vorher zwei Jahre ohne dieses Geräusch gelebt und plötzlich war es wieder da, ziemlich laut. Ich wusste gar nicht, wo ich gelandet bin. Das war eine psychische Reaktion auf das Geräusch. Du verstehst, dass es in Deutschland keinen Krieg gibt und es sollte eigentlich nicht gefährlich sein, aber allein dieses Geräusch setzt dich unter Stress. Das Geräusch war eigentlich jeden Tag da, auch mit geschlossenem Fenster. Mein erster Wunsch war: Weg hier. Ich weiß nicht, wer sich so etwas ausgedacht hat. Zur Stadt sind es zu Fuß ungefähr dreißig, vierzig Minuten. Eine Möglichkeit, den Bus oft zu benutzen, hat man eigentlich nicht so richtig, denn man bekommt nur fünfzig Euro alle zwei Wochen. Darin ist aber alles eingeschlossen, was man braucht. Wenn jemand zum Beispiel ohne Klamotten gekommen ist, muss er sich für dieses Geld Sachen kaufen. Das heißt: Die meisten laufen durch den Wald in die Stadt.

Dieses Interview ist Teil einer Interview-Reihe von Nikolai Huke.
Im Jahr 2020 führte er im Rahmen des Forschungsprojekts «Gefährdetes Leben. Alltag und Protest in Flüchtlingsunterkünften im Zuge der Corona-Pandemie» an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) 16 qualitative Interviews mit Geflüchteten in verschiedenen Flüchtlingsunterkünften in Deutschland, um Einblick in ihre Situation während der Corona-Pandemie zu bekommen. Hier finden Sie alle Gespräche: www.rosalux.de/corona/corona-gefluechtete

Was ist danach passiert?

Ich bin direkt in Quarantäne gelandet, in so genannter Kohorten-Quarantäne. Das heißt die Leute werden stockwerkweise getrennt und jede Etage darf nur untereinander kommunizieren. Trotzdem stehen alle gemeinsam in einer Schlange, um Frühstück, Mittag- und Abendessen zu bekommen. Alle Menschen spazieren zusammen auf einem sehr engen Hof. Da ist tatsächlich sehr wenig Platz. Die Menschen blieben bis zu drei Wochen in Quarantäne, auch wenn sie zweimal negativ auf Corona getestet wurden. Gleichzeitig waren alle ständig in Kontakt. Es war also keine richtige Quarantäne.

Ein Beispiel dafür ist die Geldausgabe: Alle zwei Wochen müssen alle in einem riesigen Saal warten von ein bis vier Uhr. Es gibt Abstandsregeln, alle haben Masken auf, egal ob Schwangere oder Kinder. Alle werden in den gleichen Saal gesetzt zur gleichen Zeit und dann werden zehn Menschen aufgerufen und bekommen ihr Geld und gehen in das Wohngebäude zurück. Und so weiter. Wieder zehn Menschen. Wieso müssen alle zusammen in einem Saal sitzen, statt dass es irgendwie Zeiten für verschiedene Stockwerke und Etagen gibt, dass die Menschen nicht vier Stunden mit Maske da sitzen müssen?

Wie war die Zimmersituation?

Ein sehr großes Problem ist, dass du normalerweise keinen Schlüssel für dein Zimmer bekommst. Ich habe nachts immer einen Schrank vor die Tür geschoben, weil ich Angst hatte. Der war schwer. Das war zwar ein Gebäude, in dem Familien untergebracht waren, es gab aber auch in den Familien Männer, mit denen ich mich unsicher gefühlt habe. Ich hatte tatsächlich Angst, dass jemand kommt und musste jedes Mal den Schrank vor die Tür schieben.

In der Unterkunft waren unter den etwa 600 Menschen etwa zwanzig Männer, die ständig gesoffen und Drogen konsumiert haben. Einmal haben am Eingang Männer versucht, mich zu beleidigen, haben Scherze und Witze gemacht. Ich habe ihnen dann gesagt, sie sollen nach Hause in ihre Zimmer gehen und sich ausschlafen. Sie haben sich dann aufgeregt und versucht, mich anzufassen. Ich habe mich zur Wehr gesetzt und einem die Hand umgebogen. Der fühlte sich dann gekränkt, weil eine Frau ihm wehgetan hat. Ich und die Security-Mitarbeiter, die dabei waren, haben versucht, ihn und seine Freunde zu beruhigen. Aber es hat dann immer wieder aggressive Augenblicke gegeben und sie haben versucht mich zu beleidigen. Am Tag kann ich mich schon irgendwie beschützen, aber nachts, wenn man schläft und seine Tür nicht zumachen kann, das ist für Frauen ein ziemlich großes Problem.

Wie ist der Alltag für Kinder in der Unterkunft?

Dieser Ort ist für Kinder nicht geeignet. Es gibt Kinder, so zwölf, sechs, zwei Jahre und die haben keine Spielzeuge. Für das Quarantänegebäude gibt es keinen Spielplatz, den gibt es nur neben dem Familiengebäude. Während der Quarantäne von zwei, drei Wochen können die Kinder nicht einmal irgendetwas spielen oder sonst was. Die Erwachsenen haben in Quarantäne auch keine Bücher. Nichts. Also in Quarantäne hast du keine Möglichkeit, dich zu beschäftigen. Du kannst nur hin und her laufen. Das ist wie im Gefängnis, wie im Knast. Du läufst nur hin und her und die einzige Möglichkeit, die du hast, ist vielleicht, wenn du ein Handy hast, dann kannst du im Internet surfen oder etwas lesen. Das ist die einzige Möglichkeit.

Im Familiengebäude gibt es zwar ein Spielzimmer für Kinder. Das sind sechs Zimmer, die eigentlich dazu gedacht sind, dass die Kinder da Zeit verbringen können. Es gibt dort Kinderbücher, Kinderspielzeuge, alles liegt bereit, wunderbar. Das einzige Problem: Das Kinderspielzimmer ist ständig zu. Es wird nur geöffnet, wenn Leute von außen kommen und dann wird gezeigt: Wir haben hier ein wunderbares Spielzimmer, es ist sauber, hier gibt es Spielzeuge. Während der zwei Monate, die ich in der Erstaufnahmeeinrichtung verbracht habe, war einmal eine Sozialarbeitern eine Woche lang zwei Stunden pro Tag da und das Zimmer war so lange geöffnet. Aber die ganz andere Zeit sind die Kinder nicht beschäftigt. Manche Kinder sind sieben Monate da. Die dürfen nicht zur Schule, dürfen nicht zum Kindergarten, nichts. Da wird auf jedes Kinderrecht gespuckt.

Im Quarantänegebäude gab es zwei Fußbälle für alle Kinder, die dort lebten. Keinerlei anderes Spielzeug. Als ich in eine andere Unterkunft transferiert wurde, habe ich Spielzeuge gesammelt und mich sehr gefreut, sie den Kindern zu schicken. Ich dachte, damit kann ich diese Scheißsituation zumindest an einem Punkt verbessern. Wegen der Corona-Verordnungen durfte ich nicht selbst in die Unterkunft, um die Spielzeuge zu verteilen. Die Spielzeuge wurden deshalb den Sozialarbeitern übergeben. Ich wollte, dass sie sie an die Kinder ausgeben. Den Sozialarbeitern wurde mitgeteilt, dass sie sie nicht einfach nur in das Kinderzimmer legen sollen, es sollten Geschenke sein, die direkt an die Kinder gehen. Es waren vier Säcke mit Spielzeugen. Das heißt, jedes Kind konnte mindestens ein Spielzeug bekommen. Die Spielzeuge stehen jetzt immer noch in einem so genannten Verteilungsraum. Es wurde gesagt: «Wir haben zu wenig Mitarbeiter. Wir haben nur einen Mitarbeiter, der diese Sachen sortieren kann.»

Das Essen ist auch ein Problem: Bis sie eineinhalb oder zwei Jahre alt sind, bekommen Kinder das gleiche, was deutsche Kinder auch essen. Ab zwei Jahren müssen sie dann das Essen für Erwachsene essen. Das ist oft scharf und übersalzen. Ich habe oft gesehen, dass Kinder einfach nur beim Essen saßen und weinten. Selbst für mich war das Essen sehr scharf. Bei denjenigen, die aus Ländern kommen, wo scharfes Essen normal, kann ich mir vorstellen, dass die Männer so etwas essen. Aber für Kinder war das tatsächlich ziemlich schlimm.

Wie ist die medizinische Versorgung?

Als ich ankam, hatte ich schreckliche Zahnschmerzen. Ich habe gesagt: «Ich kann nicht mehr diesen Schmerz erleiden. Es geht nicht mehr.» Sie haben mir Ibuprofen gegeben und gesagt: «Du bist in Quarantäne, du darfst zu keinem Arzt. Du musst zwei Wochen lang warten.» Sechs Tage habe ich darum betteln müssen, einen Arzttermin zu bekommen. Der Arzt hat dann gesagt: «Ok, wir machen hier einen Test, ob du Corona-positiv bist.» Ich habe mich dann gefragt: Wenn ich positiv wäre, würde ich dann keinen Arzttermin bekommen? Wir haben hier keine Krankenversicherung und können deshalb nicht selbst den Arzt auswählen und normal behandelt werden.

Als die Corona-Tests gemacht wurden, haben sie bei mir auch einen Tuberkulose-Test gemacht. Das Ergebnis wurde mir aber nicht ausgehändigt. Ich habe darauf gewartet, meine Resultate zu bekommen, habe aber keine bekommen. Ich bin dann zur Krankenschwester gegangen und habe gefragt: «Können Sie mir bitte meine Testergebnisse geben?» Sie meinte: «Wieso? Wer hat denn gesagt, dass du die bekommen sollst? Wir geben keine Ergebnisse raus.» Ich musste drei Tage lang jeden Tag kommen, bis ich die Ergebnisse endlich schriftlich hatte. Ich denke nicht, dass man so etwas bei einem Deutschen machen könnte, weil man weiß: Ein Deutscher kennt seine Rechte. Hier weiß man, dass die Menschen kein Deutsch können. Das heißt, wer kein Deutsch kann, der kann sich nicht beschweren. Wer die Gesetze, Verordnungen hier nicht kennt und nicht weiß, welche Rechte man hier hat, der wird sich auch nicht beklagen. Das ist der Grund, warum sie so handeln.

Am schlimmsten ist die Situation für Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, die sind echt Asylbewerber zweiter Klasse. Sie bekommen keinen Transfer. Ein behindertes Mädchen war sieben Monate hier in der Unterkunft und hatte nicht einmal das Bett, was sie brauchte, also eines, was sich hoch und runterfahren lässt. Ihre alte Mutter musste sie fast tragen. Mir wurde von der Unterkunftsleitung erklärt: Die Kommunen entscheiden, welche Menschen sie aufnehmen. Deshalb werden Menschen, die invalide sind, zuletzt aufgenommen, weil naja: Behinderung kostet Geld. Die übernehmen nicht gerne diese Verantwortung. Große Familien irgendwohin zu transferieren, ist auch schwierig, weil es ein Problem ist, Wohnungen für Familien zu finden. Kommt etwa eine siebenköpfige Familie, müssen die deshalb oft viele Monate lang hier in der Unterkunft bleiben.

Bei chronischen Krankheiten ist die Versorgung genauso schlecht. Da ist diese siebenköpfige Familie. Die Oma hat Diabetes und sitzt im Rollstuhl. Und wissen Sie, was sie zu essen bekommen hat? Weißes Brot beispielsweise, zum Frühstück. Weißes Brot und Marmelade. Diabetiker dürfen kaum etwas davon essen. Der Mensch ist dann gekommen und hat gesagt: Wollen sie, dass meine Frau das isst? Ist das das Frühstück für meine Frau, die Diabetes hat? Man kann sich zwar beim Arzt eine Bescheinigung ausstellen lassen, aber entweder es wird den Menschen nicht gesagt oder nicht erklärt. Die wissen das alles nicht. Die kommen zur Kantine und bekommen das Essen, was gerade verteilt wird.

Noch ein anderes Beispiel: Es gab innerhalb von kurzer Zeit zwei Frauen, die eine Totgeburt hatten. Der Mann von einer der beiden Frauen hatte vorher gesagt: «Meine Frau spürt das Kind nicht mehr. Das Kind bewegt sich nicht mehr. Wir müssen ins Krankenhaus. Bitte rufen Sie den Krankenwagen.» Der Arzt hat geantwortet: «Nein, alles okay, alles in Ordnung.»

Weitere Erfahrungen von Bewohner*innen der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl sind auf dem Blog von Albina Akhmedova und der Seite von Lager-Watch Thüringen dokumentiert.