Ansu Janneh lebte in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Bremen. Im Interview spricht er über Quarantäne, zivilen Ungehorsam und politischen Protest während der Coronakrise (Gespräch vom 12.11.2020)
Nikolai Huke: Wie waren Sie in der Lindenstraße untergebracht?
Ansu Janneh: Ich wünsche solche Bedingungen wie dort wirklich niemandem. Wenn man Leuten aus Bremen von den Unterbringungsbedingungen erzählt, können manche es gar nicht glauben, weil viele Menschen nicht wissen, dass es hier ein solches Lager gibt. Als ich in die Lindenstraße kam, lebten etwa 700 Menschen in diesem Lager. Es ist ein riesiges Gebäude und es schlafen jeweils sechs, sieben Menschen in einem Raum. Die Räume sind etwa drei mal vier oder mal zwei Meter groß. Manche Räume sind etwas größer und manche kleiner, dort schlafen dann vier Personen in einem Raum. Aber in den meisten Fällen sind es fünf oder sechs Personen pro Zimmer.
In meinem Zimmer waren wir sechs Personen. Das Zimmer war durch eine Tür mit dem Flur verbunden, draußen hat man einen langen Korridor zu einem Ende und einen zu einem anderen Ende und einen weiteren, etwa drei Korridore auf jeder Etage. Das Gebäude hat vier Stockwerke, und ich wohnte im vierten Stock. Die Zimmer haben keine Fenster. Die einzigen Fenster, die man hat, sind zum Flur hin, aber man darf sie nicht öffnen. Die Wand zwischen uns und dem angrenzenden Zimmer geht nicht bis zur Decke. Wenn eine Person im anderen Raum spricht oder irgendetwas tut, kann man es hören. Selbst wenn sie leise sprechen, kann man sie hören, und das stört einen sehr. Man kann dadurch nachts kaum schlafen.
Dieses Interview ist Teil einer Interview-Reihe von Nikolai Huke.
Im Jahr 2020 führte er im Rahmen des Forschungsprojekts «Gefährdetes Leben. Alltag und Protest in Flüchtlingsunterkünften im Zuge der Corona-Pandemie» an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) 16 qualitative Interviews mit Geflüchteten in verschiedenen Flüchtlingsunterkünften in Deutschland, um Einblick in ihre Situation während der Corona-Pandemie zu bekommen. Hier finden Sie alle Gespräche: www.rosalux.de/corona/corona-gefluechtete
«Ich stimme der Würde zu»
Als wir die ersten Nachrichten über Corona hörten, fingen wir an, darüber zu sprechen. Wir begannen mit den Securities oder den Leuten von der AWO[1] zu sprechen und zu sagen: Was machen wir denn jetzt, wir können ja nicht weiterhin so wie bisher untergebracht werden? Die Situation erfordert soziale Distanzierung und in diesem Lager ist keine soziale Distanzierung möglich. Sie antworteten: «Ja, wir werden Maßnahmen ergreifen, machen Sie sich keine Sorgen.» Aber alle hatten Angst. Sie begannen, im Lager einige Zettel an uns zu verteilen, in denen beschrieben wurde, wie man sich die Hände waschen muss, dass man Abstand von Anderen halten soll, dass man immer auf Sauberkeit achten soll. Eine Menge Informationen darüber, wie man sich schützen kann. Sie brachten diese Zettel überall im Lager an den Wänden an, aber es gab keine Handdesinfektionsmittel in den Toiletten. Die Toiletten und Badezimmer befinden sich in den Korridoren, die ganze Etage nutzt nur drei oder vier Toiletten. Auf einer Seite wohnen vielleicht dreißig Leute, die sich Toiletten und Badezimmer teilen. Wie sollen die sich dann vor Corona schützen?
Es wird dazu aufgerufen, sich die Hände waschen, aber manchmal gibt es nicht richtig fließendes Wasser. Selbst das Wasser, das wir trinken, müssen wir aus dem Waschbecken in der Toilette holen. Sie geben einem kein Wasser. Es gibt keine richtigen Wasserhähne. Man kann nicht für sich selbst kochen. Wir müssen in einer sehr langen Schlange stehen, um unser Essen aus der Küche zu bekommen. Wir stellen uns wie Gefangene an, um unser Essen zu bekommen, sie klatschen es auf den Teller und schieben es einem zu, damit man es mitnehmen und sich damit in den Speisesaal setzen kann. Im Speisesaal sind viele Menschen auf einem Haufen und es wurden dagegen keine Maßnahmen ergriffen.
Haben die Leute öffentlich gegen die Bedingungen protestiert?
Die meisten Menschen im Lager haben Angst, sich an Protesten zu beteiligen, weil es nach Protesten so viel Repression gibt. Die Leute, die für die AWO [Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) betreibt die Erstaufnahmeeinrichtung] arbeiten, stellen einen zur Rede und erzählen einem Geschichten: «Wenn Sie nicht aufpassen, wird sich Ihr Protest negativ auf Sie auswirken.» Auch die Securities erzählen viele Geschichten, die einem Angst machen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich protestieren wollte, weil ich das Gefühl hatte, darüber sprechen zu müssen. Ich kann nicht schweigen, wenn wir alle von einem derart ungerechten System betroffen sind.
Ich hatte das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Wenn ich mich bei der AWO beschwert habe, wollten sie mich nicht anhören. Wenn man Probleme mit dem Sicherheitsdienst hat, mit Leuten, die für einen kochen, oder mit Leuten, die für die AWO arbeiten, rufen die die Polizei, und die verhaften einen, egal was man sagt. Wenn man sich bei der Polizei beschwert und sagt: «Aber warum tun Sie das, Sie wissen doch gar nicht, was passiert ist», hören sie Ihnen nicht zu. Sie sagen: «Wir sind nur hier, um die Securities oder die AWO zu unterstützen. Das ist unsere Aufgabe. Wenn wir hierherkommen, hören wir auf das, was die sagen, und nicht auf das, was Sie sagen.»
Ich habe dann zu Together We Are Bremen, einer politischen Initiative in Bremen, die sich für Geflüchtete einsetzt, Kontakt aufgenommen. Ich habe ihnen gesagt: «Wir haben hier eine richtig problematische Situation und ich möchte das öffentlich machen, ich möchte nicht schweigen.» Zuerst machten wir einige Plakate, auf die wir geschrieben haben, was hier vor sich geht. Wir schrieben über Corona, dass hier keine soziale Distanzierung möglich ist, Sachen wie «Rettet uns vor Corona», jede Menge Sachen. Wir haben alles aufgeschrieben und Fotos davon gemacht und sie an Together We Are Bremen geschickt. Sie haben sie dann auf ihre Plattformen gestellt, um die Situation im Lager öffentlich zu machen. Aufgrund der schwerwiegenden Probleme im Camp planten wir Demonstrationen, die sich gegen das gesamte System richteten. Wir kritisierten, dass an einem Ort mit 700 Leuten, die sich Badezimmer und Toiletten teilen, keine soziale Distanzierung möglich ist und dass man mit sechs Leuten in einem Raum schläft, der keine Fenster hat, wodurch man nicht lüften kann. Wir haben dann die ersten Demonstrationen gemacht und sind auf die Straße gegangen, um gegen all das zu protestieren. Viele Menschen in Bremen haben dadurch von den Zuständen erfahren.
Nach den Protesten waren viele von uns Repressionen von Seiten der AWO ausgesetzt. Sie sagten: «Ihr werdet das Lager verlassen müssen. Wir, die AWO, sind doch da, um euch zu helfen, aber ihr protestiert gegen uns.» Wir wissen, dass sie da sind, um uns zu helfen. Wir protestieren ja auch nicht gegen sie, sondern gegen das System. Sie sollten sich darüber freuen, stattdessen drohen sie uns, damit wir nicht protestieren.
Wir halten es für unser Recht, unsere Stimme zu erheben. Deshalb haben wir die erste Demonstration durchgeführt. Sie war erfolgreich, die Nachrichten haben berichtet, es stand in den Zeitungen. Leute von Together We Are Bremen haben uns danach unterstützt. Sie sagten: Warum machen wir nicht noch eine größere Demonstration, damit auch Anja Stahmann (Bündnis 90/Die Grünen), die Bremer Sozialsenatorin, von euren Problemen hört? Wir wollten Druck aufbauen, um die Situation zu ändern. Wir malten viele Transparente und organisierten eine große Demonstration und wir gingen auf die Straße, wir gingen zur Senatorin, wir gingen an verschiedene Orte und dann gingen wir zum Bürgermeister und wir übergaben eine Petition mit etwa 5.000 Unterzeichnern. Der Bürgermeister sagte, er werde sich darum kümmern, und dass sie eine Lösung dafür finden würden.
Vorher hatte ich Angst. Ich dachte: Wenn ich etwas sage, was den Behörden nicht gefällt, werfen sie mich aus dem Land, sie schicken mich weg. Das war meine Angst. Ich dachte: Sie können mich nach Italien abschieben, oder sie können mich in mein Land zurückschicken. Ich hatte immer Angst, aber der Kontakt zu Together We Are Bremen gab mir so viel Selbstvertrauen, dass ich mich zu Wort meldete. Sie haben gesagt: Dir wird nichts passieren. Niemand wird dich aufgrund dessen, was du sagst, abschieben. Du hast Menschenrechte, es ist dein Recht zu sprechen. Ich habe viel an Selbstvertrauen gewonnen, als ich Videos von der Initiative gesehen habe. Darin wurden Menschen gezeigt, die aufstehen, um zu sagen, welchen Problemen sie im Leben ausgesetzt sind. Sie erzählen, warum sie hierhergekommen sind, und thematisieren den Rassismus, dem sie in verschiedenen Lagern ausgesetzt sind. Das hat mir wirklich viel Selbstvertrauen gegeben.
Was passierte, nachdem die erste Person positiv auf COVID-19 getestet wurde?
Nachdem die erste Person positiv auf Corona getestet wurde, begann sich das Virus in der Lindenstraße wie wild auszubreiten. Sie haben dann gesagt: »Wir testen alle, um zu sehen, wer Corona hat und wer nicht.» Ich wurde getestet und alle anderen auf meiner Etage auch. Sie sagten mir, der Test sei negativ; ich habe kein Corona. Zwei Personen auf meiner Etage hatten Corona, aber sie haben trotzdem immer noch keine Maßnahmen ergriffen, um eine Übertragung zu verhindern. Sie ließen sie bei uns bleiben. Wir waren alle zusammen und irgendwann haben sie dann gesagt: «Jetzt wollen wir Sie noch einmal testen.»
Und dann sagte ich: «Nein, ich werde keinen Test mehr machen. Wenn Sie uns testen wollen, müssen Sie zuerst die Menschen, die Corona haben, von uns trennen und sie an einen anderen Ort bringen. Aber das tun Sie nicht! Sie halten uns alle an einem Ort fest und bringen immer wieder neue Leute herein, die nicht getestet wurden.» Dann sagten sie: «Wir werden jetzt Menschen, die positiv getestet wurden, an andere Orte bringen.» Sie haben dann begonnen, diejenigen, die positiv getestet waren einzusammeln und sie in ein anderes Stockwerk zu bringen. Dort gab es einen größeren Raum, in dem Sie alle unterbringen wollten, die Corona hatten.
Dann wurde eine Person, die ich kenne, ins Krankenhaus gebracht. Als die Person aus dem Krankenhaus zurückkam, haben sie sie nicht in Quarantäne gesteckt, obwohl sie eigentlich zwei Wochen in Quarantäne hätte gehen müssen, bevor sie zu uns kommt. Wir gingen zu den Sicherheitsleuten und sagten: «Sie sollten dieser Person nicht erlauben, zu uns zu kommen.» Erst danach haben sie die Person dann isoliert und in ein anderes Lager verlegt. Am selben Abend kam eine neu angekommene Person uns nahe und wir wurden unter Quarantäne gestellt. Sie sagten: «Auch wenn Ihr Test negativ war, werden Sie alle unter Quarantäne gestellt. Am selben Abend, als wir nach der Demonstration nach Hause gingen, wurden wir unter Quarantäne gestellt.»
Wie haben Sie die Zeit der Quarantäne erlebt?
Ich war noch nie im Gefängnis, aber von Videos, die ich darüber gesehen habe, glaube ich, dass es genauso war wie im Gefängnis. Man wacht auf, setzt sich auf sein Bett und duscht, und wenn Leute unter der Dusche oder auf der Toilette sind, muss man warten. Wenn die Leute fertig sind, duscht man ebenfalls und geht dann zurück in sein Zimmer. Wenn man aufwacht, ist das Frühstück oft schon vorbei, weil man nicht früh aufwacht. Wir bleiben spät in der Nacht auf, also warten wir auf das Mittagessen um zwölf. Manchmal geht man zum Mittagessen und mag es nicht, weil es schreckliches Essen ist. Danach geht man wieder ins Zimmer auf sein Bett. Man sitzt den ganzen Tag auf dem Bett, weil es so wenig Platz gibt.
Wir waren in den Korridoren eingesperrt. Man durfte nicht hinausgehen, es sei denn, man hat dem Sicherheitsdienst gesagt, dass man wenigstens etwas frische Luft haben wolle. Dann gehen die zehn Minuten lang mit einem nach unten, damit man kurz eine Brise Luft spüren kann, dann muss man wieder nach drinnen. Und einige Leute standen über einen Monat lang unter Quarantäne. Nachdem die Quarantäne eigentlich beendet war, sagte das Personal: «Nein, Sie müssen weitermachen.»
Wenn Sie in dem Bereich, in dem sich Ihr Zimmer befand, kein WLAN hatten, war die Situation während der Quarantäne sogar noch schwieriger. Ich hatte Glück. Der Teil, in dem ich war, hatte WLAN, aber andere haben kein WLAN. Das hängt immer von dem Bereich ab, in dem man sich befindet, denn das Gebäude ist riesig, und einige Bereiche haben kein WLAN. Vor Corona kamen einige Leute immer dorthin, wo es WLAN gibt. Nachmittags saßen sie zum Beispiel im Bereich, in dem ich untergebracht war, um Nachrichten zu versenden oder mit ihren Familien zu sprechen. Während des Lockdowns konnten sie dann keine Nachrichten mehr empfangen und mit niemandem mehr sprechen. Sie waren einfach ohne WLAN eingeschlossen.
Mit sechs Personen in einem Raum in Quarantäne zu sein, war schwierig. Wenn jemand eine Erkältung hat, erkälten sich alle anderen auch. Ich glaube, dass wir am Ende alle Corona hatten, wir hatten alle die gleichen Symptome. Wir konnten nichts riechen, unsere Nase lief, unser Geschmackssinn war beeinträchtigt. Es war eine sehr, sehr schreckliche Erfahrung.
Was ist danach passiert?
Nach zwei Wochen Quarantäne wollten sie uns erneut testen. Ich sagte: «Aber wenn ich erneut getestet werde, habe ich dann eine Chance, von diesem Ort weggebracht zu werden, weil ich an diesem Ort nicht sicher bin? Wenn ich negativ getestet werde, möchte ich nicht an dem Ort bleiben, wo es so viele Fälle von Corona gibt.» Wir waren etwa fünf Personen, die sich weigerten, sich testen zu lassen. Sie sagten uns, dass uns schwere Strafen drohen, wenn wir uns nicht noch einmal testen lassen. Wir waren dort, bis die Polizei am nächsten Morgen kam. Es kamen viele Polizisten, und dann sagten sie, wir müssten das Lager verlassen. Sie sagten: «Ihr habt 20 Minuten, um all eure Sachen zu packen. Ihr müsst das Lager jetzt verlassen.» Wir wussten nicht, was los war, warum sie einfach plötzlich kommen und sagen, dass wir das Lager verlassen müssen? Sie brachten uns mit einer sehr großen Polizeieskorte zu einem Obdachlosenheim, und als wir dort ankamen, sagten sie, wir müssten wieder in Quarantäne. Sie hielten uns wieder für zwei Wochen dort fest, also waren wir insgesamt einen Monat in Quarantäne. Im Obdachlosenheim zu leben, war sehr schwierig für uns.
Nach unserer zweiwöchigen Quarantäne brachten sie uns nach Kattenturm, einem Lager, dass so etwas wie ein Ableger der Lindenstraße ist. Als wir dort waren, begannen sie, uns Briefe zu schicken. Sie schickten mir einen Brief, in dem stand, ich müsse Bremen verlassen. Ich fragte, warum. Sie sagten, sie wüssten es nicht; der Befehl käme von der Lindenstraße. Dasselbe geschah mit meinen Freunden. Sie sagten: «Ihr Leute macht immer nur Ärger.»
Hat Ihr Protest etwas verändert?
Ich hatte das Privileg, mit den Grünen zu sprechen. Es war ein Online-Treffen, und sie stellten auch Fragen. Es hat mein Selbstvertrauen gestärkt, als ich mit ihnen sprach. Sie haben gesagt, dass sie gar nicht gewusst hätten, dass all das in der Lindenstraße passiert, und dass sie gerne mehr erfahren und sich engagieren würden. Als wir in der Lindenstraße noch in Quarantäne waren, kam Frau Stahmann, um den Ort zu inspizieren. Sie versprach, sicherzustellen, dass alle Räume Fenster haben, dass überall WLAN verfügbar ist und dass sich das Essen ändern wird, dass wir ordentliches Essen bekommen und dass die Menschen sauberes Wasser zum Trinken haben werden. Aber es hat sich nie etwas geändert. Ich bin im Kontakt mit Menschen, die immer noch dort leben. Bis jetzt ist die Situation gleich geblieben. Politik ist sehr lustig, wissen Sie? Am Ende hatte ich das Gefühl, dass die Politiker der Grünen falsch wie Schlangen sind. Sie sagen: «Ja, wir sind bei euch», aber dann tun sie am Ende nichts.