Nachricht | Krieg / Frieden - Libanon / Syrien / Irak Syrien: Plädoyer für eine «Politik des Lebens»

Interview mit Yasser Munif

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Syrische Aktivist*innen demonstrieren am 7. Jahrestag der Revolution im März 2018 in Berlin. Sie schwenken die syrische Fahne.
Die syrische Revolution ist ein offener Prozess. Notwendig sind Bündnisse mit revolutionären Kräften in den Nachbarländern. Die Diaspora kann die Verbindung mit progressiven Bewegungen im Westen herstellen. Syrische Aktivist*innen demonstrieren am 7. Jahrestag der Revolution im März 2018 in Berlin. Harald Etzbach

Harald Etzbach sprach mit Yasser Munif über die theoretischen und methodischen Ansätze seines Buchs The Syrian Revolution: Between the Politics of Life and the Geopolitics of Death, die Begrenztheiten geopolitischen Denkens und die Perspektiven demokratischer revolutionärer Bewegungen in Syrien und der Region.

Yasser Munif ist Professor für Soziologie am Emerson College. Er ist Mitbegründer der «Global Campaign of Solidarity with the Syrian Revolution». 2020 erschien sein Buch The Syrian Revolution: Between the Politics of Life and the Geopolitics of Death. (Pluto Press).

Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler und arbeitet als Übersetzer und Journalist. Er publiziert hauptsächlich zu Themen Westasiens und Nordafrikas und zur US-amerikanischen Außenpolitik.

Harald Etzbach: Was war Deine Motivation, dieses Buch zu schreiben? Welche Beziehung hast Du zu Syrien?

Yasser Munif: Die syrische Revolution ist eines der bahnbrechenden Ereignisse der jüngeren Geschichte in der Region, und aus diesem Grund ist es unmöglich, sie zu ignorieren. Außerdem bin ich in einem sehr politischen Haushalt aufgewachsen. Mein Vater, ein Schriftsteller von der arabischen Halbinsel[1], hat viel über Diktaturen und arabische Gefängnisse geschrieben. Ich verbrachte viele Jahre in Syrien, im Libanon und im Irak. Die arabische Diktatur hat mich also tief beeindruckt. Viele Menschen meiner Generation sahen in den arabischen Aufständen eine einzigartige Chance, die Diktatur zu stürzen. Vor 2011 träumten wir von der Demokratie in Syrien, ohne wirklich daran zu glauben, dass sie jemals eintreten würde. Als die Diktatoren in Tunesien und Ägypten gestürzt wurden, begannen viele von uns, sich auf eine Rebellion in Syrien vorzubereiten und zu organisieren. Das Buch ist ein Versuch, zu verstehen, was in den letzten zehn Jahren geschehen ist. Es schlägt theoretische Instrumente vor, um die Gewalt des Regimes und den revolutionären Prozess zu analysieren.

Dein Buch ist keine Chronologie der syrischen Revolution, wie der Titel vielleicht vermuten lässt, sondern nähert sich dem Phänomen aus fünf verschiedenen Blickwinkeln (Nekropolitik, die Geografie des Todes in Aleppo, Nation gegen Staat, die Politik des Brotes, Mikropolitik in Manbij). Warum hast Du diese Struktur gewählt?

Es wurde viel über die Geschichte und Periodisierung der syrischen Revolution geschrieben. Viele ausgezeichnete Bücher untersuchen die Ereignisse in chronologischer Form. Ich war daran interessiert, den Aufstand aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren. Eine davon ist die Frage des Raums. Ich interessiere mich dafür, wie sich der städtische Raum auf das Soziale und Politische auswirken kann – vor allem in Zeiten des Krieges. Wir müssen verstehen, wie das syrische Regime Topografie und Städtebau als Waffe einsetzte, um die Rebellion niederzuschlagen. Eine weitere wichtige Frage ist, wie die Modalitäten des Todes analysiert werden können. Wie kann man den Tod verstehen und versuchen, einem Phänomen, das chaotisch oder nihilistisch erscheint, einen Sinn zu geben? In diesem Buch geht es darum, mit der Gesellschaftstheorie zu experimentieren und zu versuchen, neue Phänomene im arabischen Raum mit Hilfe verschiedener konzeptioneller Instrumente zu verstehen. Dies sind nicht unbedingt die einzigen Zugänge zur syrischen Revolution, aber sie könnten nützlich sein, um komplexe Prozesse zu entschlüsseln.

Dein Buch ist auch eine Kritik des geopolitischen Denkens. Im Untertitel Deines Buchs stellst Du sogar die «Politik des Lebens» der «Geopolitik des Todes» gegenüber. Was ist mit dieser Dichotomie gemeint?

Ein Teil der Argumente, die ich in diesem Buch vorbringe, ist methodologischer und theoretischer Natur. Ich behaupte, dass einige Wissenschaftler unkritisch bestimmte Methoden anwenden, um die Kartografie der Aufstände in der arabischen Welt zu analysieren. Einige dieser Methoden wurden ursprünglich in einem westlichen Kontext entwickelt, um westliche Bewegungen zu untersuchen. Offensichtlich sind sie mitunter ungeeignet, um die neu entstehende Politik in der arabischen Region zu analysieren. Das Buch schlägt einen heuristischen Ansatz zur Untersuchung der syrischen Revolte vor. So wurde beispielsweise die Theorie der Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) im Westen entwickelt, um westliche Prozesse zu verstehen. Die NSB geht davon aus, dass die Menschen einen politischen Raum haben, in dem sie sich bewegen. Sie geht davon aus, dass es eine organische Beziehung zwischen dem Staat und den Bürger*innen gibt. Die theoretische Grundlage der NSB macht sie für nicht-westliche Kontexte wie Syrien ungeeignet. Die Verwendung der NSB ohne Hinterfragung ihrer Geschichte und ihrer Ursprünge verzerrt jede politische Analyse der Revolte.

Meiner Ansicht nach sind «die Politik des Lebens» und «die Politik des Todes» geeignetere konzeptionelle Werkzeuge zur Untersuchung des syrischen Aufstands. Sie helfen uns, die Fallstricke bestimmter westlicher Theorien zu vermeiden. Einige dieser Theorien, wie die Theorie der Neuen Sozialen Bewegungen, die Theorie der internationalen Beziehungen und der Geopolitik, können zwar einige Merkmale der Revolution beleuchten, hindern uns aber daran, andere zentrale Aspekte zu verstehen. Der gesamte geopolitische Ansatz setzt den Staat als Analyseeinheit voraus und verhindert die Untersuchung von Ebenen unterhalb oder oberhalb des Staates. Graswurzelbewegungen zum Beispiel sprechen nicht diese Sprache (d.h. Geopolitik), und sie agieren auf einer anderen Ebene. Wenn wir also eine geopolitische Linse verwenden, ist es unmöglich, Basisbewegungen zu sehen. Die Politik der Basis wird trotz der guten Absichten des Forschenden sofort unsichtbar. Ein Teil der internationalen Linken begeht denselben Fehler. Indem sie einer geopolitischen Lesart (der Politik von oben) des syrischen Aufstands den Vorrang gab, trug die internationale Linke zur Isolierung der syrischen Revolution bei und machte die Politik von unten unsichtbar.

Aber es gibt Geopolitik. Internationale Akteure (Staaten) handeln nach geopolitischen Gesichtspunkten. Revolutionäre Bewegungen sind damit konfrontiert. Einige der syrischen Revolutionär*innen waren in dieser Hinsicht sehr naiv, zum Beispiel in ihrem Vertrauen in die Politik der Vereinigten Staaten oder der Türkei.

Natürlich gibt es makropolitische Kräfte, internationale Beziehungen und Geopolitik, und sie sind äußerst mächtig. Sie sind in der Tat die vorherrschende Form der Politik vor dem Aufstand. Die Revolte hat Kräfte und Akteur*innen freigesetzt, die sich nicht an die Regeln der Geopolitik und internationalen Beziehungen halten. Sie entkommen der hegemonialen Matrix (Geopolitik, internationale Beziehungen, internationales Recht), und die Rolle des Forschenden besteht darin, einen theoretischen Rahmen zu schaffen, der die lokalen Kämpfe beleuchtet. Die Revolution ist per Definition der Moment, in dem die Kräfte an der Basis der herrschenden Logik entkommen und eine neue Logik etablieren. Die Rolle des Staates und der internationalen Akteure besteht darin, sie zurückzuerobern und ihnen die hegemoniale Logik aufzuzwingen. Nochmals, ich lehne die Geopolitik oder das, was ich «die Politik des Todes» nenne, nicht ab, ich stelle ihr lediglich die «Politik des Lebens» entgegen. Ich plädiere für eine andere Art, über Politik nachzudenken; es geht darum, soziale Bewegungen von unten mit der Geopolitik ins Gespräch zu bringen, im methodischen Sinne. Wir können nicht verstehen, was in Syrien geschieht, wenn wir die Situation nur von oben betrachten. Wir müssen auch ein Verständnis für die Politik entwickeln, die von unten ausgeht.

Die Sozialwissenschaften sind nicht nur ein Rahmen, um ein Phänomen zu verstehen, sie haben oft auch materielle Auswirkungen außerhalb der Wissenschaft. Wenn Forschende die geopolitische Lesart auf Kosten der Politik von unten, oder wie ich es nenne, der «Politik des Lebens», in den Vordergrund stellen, dann werden die Kämpfe an der Basis unsichtbar gemacht. Indem er*sie ständig die geopolitische Analyse durchsetzt, trägt der*die Wissenschaftler*in dazu bei, revolutionäre Kräfte zum Schweigen zu bringen und ihre Revolution undenkbar zu machen. Ich will damit sagen, dass es eine Beziehung, eine organische Verbindung zwischen der Forschung und den Fakten vor Ort gibt. Das Schreiben über Syrien ist kein neutrales Unterfangen: Die Wissenschaft ist eine Erweiterung des Schlachtfelds. Einfach ausgedrückt: Das Buch schlägt eine Politik von unten vor, und zwar auf epistemologischer und methodologischer Ebene. Es will theoretische Instrumente bereitstellen, die diese Politik von unten fördern.

Im ersten Kapitel entwickelst Du das Konzept der «Nekropolitik» und im zweiten Kapitel analysierst Du die «Geografie des Todes» in Aleppo. Der Tod scheint grundlegend in die Herrschaft des Assad-Regimes eingeschrieben zu sein. Kannst Du diese Konzepte und ihre Bedeutung in Bezug auf Syrien erläutern?

Ich verwende das Konzept der «Politik des Todes», um darauf hinzuweisen, dass der Tod in Syrien zu einem Instrument der Herrschaft geworden ist. Die Menschen sind ständig der Gefahr ausgesetzt, dass man sie verschwinden lässt oder dass sie gefoltert oder getötet werden. Das syrische Regime hat ein ganzes Repertoire des Todes entwickelt, um den Aufstand niederzuschlagen. Die tödliche Bedrohung ist allgegenwärtig, und die Menschen müssen sich in der Geografie des Todes zurechtfinden. Die Denkweise des durchschnittlichen Menschen in Syrien lautet: «Wie kann ich das Risiko, getötet zu werden, minimieren?»

Ich beschreibe die Situation in Syrien nicht, um das Ausmaß der Gewalt zu verharmlosen, das Menschen in anderen Regionen oder im Westen erleben. Im Westen zum Beispiel gibt es eine subtilere Trennung zwischen den Räumen des Lebens und der Geografie des Todes. Es gibt bestimmte Räume im Westen, in denen Menschen tatsächlich ein hohes Maß an Gewalt erfahren können. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Migrant*innen versuchen, das Mittelmeer zu überqueren und von den europäischen Regierungen dem Tod überlassen werden. Geflüchtete, die im Dschungel von Calais in Nordfrankreich leben, sind einer ständigen Bedrohung durch staatliche Gewalt ausgesetzt. Schwarze und braune Viertel in vielen europäischen Städten oder das Gefängnissystem in den Vereinigten Staaten sind Teil der Geografie des Todes. Der Punkt ist nicht, dass diese Räume im Westen nicht existieren, sondern dass sie peripher sind. Ein großer Teil der Bevölkerung im Westen ist sich der Existenz dieser Räume nicht bewusst. In Syrien ist das Gegenteil der Fall.

Es ist wichtig, den laufenden Prozess in Syrien nicht zu verallgemeinern oder zu homogenisieren. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen der Zeit vor dem Aufstand und der Zeit nach 2011. Es geht nicht nur um die Intensität der Gewalt, sondern auch um die Art und Weise des Todes. Warum gibt es zum Beispiel unterschiedliche Intensitäten des Todes? Was bewirken ungleiche Geschwindigkeiten des Todes? Welche Rolle spielt ein individualisierter Tod im Gegensatz zu einem kollektiven Tod? Ich glaube, dass es hier etwas Wichtiges zu untersuchen gibt. Für eine*n externe*n Beobachter*in ist der Tod, wie die Gewalt, allgemein und undifferenziert. Eines meiner Ziele war es, eine Taxonomie des Todes zu erstellen, um die Politik des Todes besser zu verstehen.

Das Kapitel über Aleppo untersucht die Geografie des Todes. Auf welche Weise wird der Raum vom Staat operationalisiert, um ein Höchstmaß an Gewalt auszuüben? Wie wird urbaner Raum als Waffe eingesetzt, um die Bevölkerung zu kontrollieren? Die Stadt wird zu einem Werkzeugkasten für das syrische Regime, um den Aufstand niederzuschlagen. Diese Logik ist nicht neu, da das syrische Regime Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre in Aleppo eine städtische Rebellion niederschlagen musste. Der Raum wird nach einer vertikalen und horizontalen Logik neu konzipiert, um die Stadt militärisch zu kontrollieren. Jeder Raum wird Teil dieser militärischen Denkweise. Vertikale Strukturen (seien es Luxushotels, Minarette oder hohe Verwaltungsgebäude) werden zur Positionierung von Scharfschützen umfunktioniert. Das Ziel des Regimes ist es, die Hauptverkehrsadern der Stadt zu kontrollieren. Die horizontalen Räume werden von festen Kontrollpunkten und mobilen Milizen durchzogen. In diesem Fall besteht das Ziel des Regimes darin, die Stadt zu fragmentieren und die Kontrolle über die Gebiete der Opposition zu maximieren. Sogar die Topografie der Stadt (Hügel, Flüsse und Parks) wird neu überdacht, um eine effizientere Kartografie des Todes zu schaffen.

Ein Teil der tödlichen Macht wurde von den Osmanen und den Franzosen geerbt. Diese Prozesse sind natürlich nicht nur in Syrien zu beobachten, aber sie haben ihre eigenen Besonderheiten und Geschichten. Einige dieser Technologien des Todes wurden in städtischen Gebieten wie Sarajevo oder Gaza eingesetzt. Die USA sind in diesem Bereich führend; das Militär erstellt ständig hochauflösende Karten und sammelt topografische und städtische Informationen. Der US-Krieg im Irak ist ein Beispiel dafür, aber es gibt noch viele andere. Um besser zu verstehen, wie das Regime die städtische Revolte niedergeschlagen hat, müssen wir analysieren, wie der Raum in Aleppo als Waffe eingesetzt wurde. Gleichzeitig sind die in Aleppo eingesetzten räumlichen Technologien nicht ohne weiteres auf andere Kontexte übertragbar. Daher sind weitere Studien erforderlich, um die Auswirkungen der städtischen Gewalt in Syrien besser zu verstehen.

Im dritten Kapitel Deines Buches, das auf Deiner Lektüre von Fanons Die Verdammten dieser Erde basiert, entwickelst Du das Konzept des popularen Nationalismus (im Unterschied zum Nationalismus der Herrschenden oder des Staates). Was charakterisiert diesen popularen Nationalismus? Und ist Nationalismus heute nicht zu kurz gegriffen angesichts der Tatsache, dass die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in der Region (und darüber hinaus) überall die gleichen sind und die syrische Revolution Teil einer regionalen Bewegung ist?

Die Linke nimmt die Frage des Nationalismus nicht ernst genug. Nationalismus wird oft als reaktionär und als Gegenpol zum antikapitalistischen Internationalismus abgetan. Meiner Meinung nach ist es wichtig, den Nationalismus in einem Kontext wie dem syrischen zu verstehen. In diesem Kapitel wende ich mich gegen zwei Arten von Nationalismus. Der erste Typ ist staatszentriert. Es ist der Nationalismus der Baath-Partei, der eine Form der Herrschaft über die Bevölkerung darstellt. Dabei werden die Nation, die Baath-Partei und Assad (bis 2000 der Vater, danach der Sohn) miteinander verschmolzen. Die Nation wird durch den Diktator personifiziert. Die erste Art des Nationalismus ist offensichtlich von oben nach unten gerichtet; er wurde von Intellektuellen theoretisiert und basiert auf bestimmten Texten. Er ist starr und doch pragmatisch in dem Sinne, dass sein Hauptziel darin besteht, die Vorherrschaft des Staates zu fördern.

Im Gegensatz zum Staatsnationalismus gibt es einen popularen Nationalismus. Er geht von unten aus und ist praxial, d.h. er resultiert aus den Kämpfen der Menschen. Der populare Nationalismus hat antikoloniale/antiimperialistische Wurzeln, die in einer postkolonialen Gegenwart zum Widerstand gegen die Diktatur umfunktioniert werden könnten. Es ist ein Nationalismus in Bewegung. Während der Revolte erfährt die soziale Welt eine drastische Veränderung. Ohne eine verbindende Ideologie wie den Nationalismus könnte sie zerfallen. Natürlich gibt es auch andere Möglichkeiten, einen politischen Block gegen das Assad-Regime zu bilden. Die Klassenidentität und der Widerstand gegen die Diktatur könnten einen solchen Zusammenhalt unter den revolutionären Gruppen schaffen. Aufgrund der Schwäche der Linken und des Fehlens unabhängiger Gewerkschaften war die Klassenidentität jedoch nicht stark genug, um einen antihegemonialen Block zu bilden. Um die Opposition weiter zu spalten, setzte das Assad-Regime den Konfessionalismus als Waffe ein.

In diesem Kapitel geht es nicht darum, die Klassenanalyse durch einen Bezugsrahmen des Nationalismus zu ersetzen, sondern vielmehr darum, die Bedeutung der Entwicklung eines analytischen Rahmens hervorzuheben, der beide Identitäten miteinander verbindet. Das Kapitel befasst sich mit dem Werk des karibischen Intellektuellen Frantz Fanon, der den Nationalismus im Kontext der Dekolonisierung untersucht hat. In seinem Buch Die Verdammten dieser Erde untersucht Fanon den aufkommenden Nationalismus im globalen Süden. Fanon zeigt, wie der Nationalismus nach der Unabhängigkeit von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen eingesetzt werden kann, um bestimmte Ziele zu erreichen. So kann der Nationalismus nach der Unabhängigkeit autoritär und chauvinistisch oder emanzipatorisch sein, je nachdem, wer ihn hervorbringt. Ich behaupte, dass sich der populare Nationalismus in der Frühphase des Aufstands gegen die Diktatur richtete, aber auch gegen die mit dem Regime verbundene Bourgeoisie. Ein eindringliches Lied mit dem Titel «Yalla irhal ya Baschar» («Los, Baschar, verschwinde!») wurde zur Hymne der Revolution. Es prangert die Diktatur, aber auch den Neoliberalismus an, der von Rami Makhlouf, dem Cousin von Baschar al-Assad und einem der reichsten Männer Syriens, verkörpert wird.

Das letzte Kapitel des Buches ist einer mikropolitischen Studie über die Revolution in der Stadt Manbij gewidmet. Warum hast Du Manbij ausgewählt? Welche Erfahrungen hast Du dort gemacht, und vor welchen Herausforderungen standen die Revolutionär*innen?

Manbij ist eine Stadt in Nordsyrien, in der ich 2013 mehrere Monate verbracht habe. Das Interessante an Manbij war, dass es weit von den Schlachtfeldern entfernt war. Es war ein Ort, an dem die Menschen die Möglichkeit hatten, trotz der wöchentlichen Luftangriffe Strategien und eine Politik von unten zu entwickeln. Es ist ein Ort, an dem die Menschen versuchten, den Staat zu dekonstruieren, um eine alternative und autonome Politik aufzubauen. Ich denke, es ist wichtig für Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, Fälle wie Manbij zu studieren. Wie kann man eine Diktatur in einem Land wie Syrien auflösen? Das ist ein schwieriges Unterfangen, denn Diktatur ist viel mehr als Assad. Sie ist auch eine Kultur, eine Politik, ein Raum und Institutionen. Selbst die Landwirtschaft in Syrien wurde von dieser autoritären Denkweise beeinflusst.

Die Menschen standen vor großen Herausforderungen, die sie aber oft auf kreative Weise zu bewältigen wussten. Wir müssen verstehen, dass eine Revolution ein extrem gewaltsamer Prozess ist – und das war vielen Menschen vor 2011 nicht bewusst. Manbij stand also vor einigen dieser Herausforderungen: wöchentliche oder monatliche Luftangriffe, fehlende finanzielle Mittel, Mangel an Fachwissen für die Verwaltung der Stadt, da viele Ärzt*innen, Lehrer*innen und Ingenieur*innen die Stadt verlassen hatten. Die Stadt war gespalten, und ein beträchtlicher Teil war weder für das Regime noch für die Revolution. Trotz dieser Herausforderungen beschlossen die Menschen in Manbij, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie begannen mit dem Aufbau eines Syriens nach Assad, indem sie neue, integrativere und demokratischere Räume schufen. Doch Sexismus, Patriarchat und konterrevolutionäre Kräfte waren leider in der Lage, diese Erfahrung, die weniger als zwei Jahre dauerte, allmählich zu schwächen und schließlich zu zerschlagen.

Leider sind viele der Ansätze zur Selbstermächtigung und Selbstorganisation, die Du für Manbij beschreibst, außerhalb Syriens kaum wahrgenommen worden. Eine Ausnahme ist die von den kurdischen Autonomiebehörden verwaltete nordöstliche Region, die zusammen mit Idlib im Nordwesten eines der beiden Gebiete des Landes ist, die nicht vom Assad-Regime kontrolliert werden. Wie schätzt Du die Entwicklung dort ein?

Im Nordosten Syriens gibt es unterschiedliche Maßstäbe und Modalitäten der Politik. Ich stehe der PYD und ihrer zentralistischen Politik kritisch gegenüber. Das Rojava-Experiment ist jedoch viel mehr als die PYD und die konventionelle Politik. Es gibt in der Region viele kreative Experimente mit der Politik an der Basis. Die Kurd*innen waren jahrzehntelang arabischem Chauvinismus und Rassismus ausgesetzt, sowohl seitens der Regierung als auch der Bevölkerung. Das Assad-Regime verfolgte eine Politik der Arabisierung der Region, indem es viele Kurd*innen vertrieb und eine Pufferzone zwischen den in Syrien lebenden Kurd*innen und der Türkei schuf. Es bildete ein Bündnis mit einigen der lokalen arabischen Stämme, um die Kurd*innen zu kontrollieren. Diese Zersplitterung war auf beiden Seiten (kurdische und syrische Opposition) schwer zu überwinden, als der Aufstand 2011 begann. Darüber hinaus wurden viele Araber*innen von der PYD vertrieben, als sie bestimmte Regionen in Nordsyrien kontrollierte. Trotz dieser Schwierigkeiten glaube ich, dass es in Rojava viele positive Entwicklungen gibt. Kurdische Frauen stellen das Patriarchat aktiv in Frage. Graswurzelgruppen wehren sich gegen die undemokratischen Tendenzen der PYD. Verschiedene kurdische Gruppen bauen Beziehungen zu anderen revolutionären Gruppen wie der zapatistischen Bewegung in Chiapas und den anarchistischen Gruppen in Europa und den USA auf.

Die arabischen Revolutionen, die 2011 begannen, wurden weitgehend zurückgedrängt. Gleichzeitig deuten in Syrien die Zeichen auf eine «Normalisierung» des Assad-Regimes hin. Der jordanische König telefoniert mit Assad, mehrere arabische Staaten haben wieder Botschaften im Land, und Syrien soll 2024 Gastgeber einer arabischen Energiekonferenz sein. Ist die arabische Demokratiebewegung im Allgemeinen und die syrische Revolte im Besonderen gescheitert?

Offensichtlich sind die arabischen Revolten das Ergebnis einer systemischen Krise in der Region und darüber hinaus. Das gesamte Weltsystem befindet sich in einer schweren Krise -- des Neoliberalismus, des Kapitalismus, der Demokratie, des Staates und der Kultur. Wir stehen vor all diesen Herausforderungen, und die arabischen Revolten sind ein Ergebnis dieses weltweiten Prozesses. Es ist bedauerlich, dass im Moment konterrevolutionäre Kräfte die Oberhand gewinnen konnten, aber der revolutionäre Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Was wir seit 2011 gesehen haben, ist nur der Anfang eines viel längeren Prozesses, der Jahrzehnte dauern könnte, bevor er seinen Abschluss findet. Die Frage, die sich den revolutionären Kräften stellt, ist, wie sie eine inklusivere Politik entwickeln und wie sie Allianzen mit den Nachbarländern aufbauen können. Ich glaube nicht, dass die Syrer*innen in der Lage sein werden, das syrische Regime zu stürzen, ohne eine regionale Strategie mit revolutionären Kräften in Ägypten, Sudan, Irak, Bahrain, Palästina, Rojava, Iran usw. aufzubauen. Nur dann könnte sich das Kräfteverhältnis verschieben.

In den vergangenen zehn Jahren haben wir aus unseren Fehlern gelernt. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir den mehrdimensionalen reaktionären Kräften begegnen können. Wie wir autoritären Herrschern in der arabischen Welt, reaktionären Islamisten und imperialistischen Kräften entgegentreten können. Wir müssen uns dagegen wehren, dass Gruppen wie ISIS mit religiösen demokratischen Gruppen in einen Topf geworfen werden. Schließlich muss die Frage des Widerstands gegen den Imperialismus (USA, Frankreich, Großbritannien...) und den Subimperialismus (Russland, China...) im Mittelpunkt stehen. Einige Revolutionäre*innen in Syrien haben die Macht des westlichen Imperialismus unterschätzt, und wir zahlen jetzt den Preis dafür. Darüber hinaus muss die Linke darüber nachdenken, wie sie die Klassenanalyse wieder in die politische Sphäre Syriens einführen kann. Die Klassenanalyse darf weder dogmatisch noch ausgrenzend sein, sondern muss vielmehr in der Kultur und Geschichte verwurzelt sein. Diese Fragen werden uns noch jahrelang begleiten, und sie müssen nicht nur im syrischen Kontext, sondern auch auf regionaler Ebene bedacht werden.

Was könnte die Rolle der Diaspora in diesem Zusammenhang sein?

Die syrische Diaspora muss die Feinheiten der Politik in den Gastländern verstehen und Brücken zwischen den fortschrittlichen Kräften in den Gastländern und den revolutionären Kräften in Syrien bauen. Als der Aufstand 2011 ausbrach, schenkten die ersten Wellen syrischer Migrant*innen der Politik in den westlichen Ländern keine große Aufmerksamkeit. Die meisten Syrer*innen, die vor dem Aufstand im Westen lebten, konzentrierten sich auf den Aufbau von Beziehungen zu den Regierungsparteien und nicht auf revolutionäre und basisdemokratische Kräfte. Einige Syrer*innen in der Diaspora verbündeten sich mit reaktionären Gruppen im Westen. Der syrischen Linken gelang es trotz ihrer strukturellen Schwäche, wichtige Bündnisse mit Progressiven und Internationalist*innen zu schließen. Syrer*innen, die im Westen leben, müssen verstehen, wie Politik funktioniert, und danach streben, Allianzen mit Bewegungen zu bilden, die gegen Neoliberalismus, Imperialismus, Patriarchat, Faschismus und weiße Vorherrschaft kämpfen. Ich denke, es ist eine schwierige, aber lebenswichtige Aufgabe, wenn die Syrer*innen in der Diaspora ein tragfähiges internationales Bündnis aufbauen wollen.

[1]  Abd ar-Rahman Munif (1933-2004) ist auch nach seinem Tod einer der meistgelesenen Autoren der arabischen Welt. Im Westen wurde er vor allem durch seinen Roman Östlich des Mittelmeers und die Pentalogie Salzstädte bekannt.