Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Krieg / Frieden - Westafrika Den Terror fördern oder mehr Demokratie wagen?

Aktuelle Alternativen zu den Sanktionen gegen Mali

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Tausende Menschen versammelten sich am Freitag, den 14. Januar 2022 auf dem «Independence Square» in Bamako, Mali, um gegen die ECOWAS-Sanktionen zu demonstrieren. Foto: picture alliance/dpa/MAXPPP | Nicolas Remene / Le Pictorium

Die Lage in Mali sieht alles andere als rosig aus: Das Land ist das sechstärmste der Welt, radikal-dschihadistische Gruppen instrumentalisieren die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise und verschlimmern sie durch Anschläge und Vertreibung, ausländische Militärs fördern die Instabilität, und der politischen Elite mangelt es an visionären Lösungsstrategien. Doch die am 9. Januar von den ECOWAS-Staaten verhängten Sanktionen gegen Mali machen alles noch schlimmer. Dabei braucht es einen mutigen demokratischen Neuanfang – von außen unterstützt statt torpediert.

Eigentlich hätte die aktuelle Regierung Malis fleißig in Wahlvorbereitungen stecken sollen – so jedenfalls wünschten es sich westliche Staaten und auch die Mitglieder der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS. Ende Februar sollte die Übergangsregierung, die nach zwei Putschen im August 2020 und im Mai 2021 im Amt ist, durch eine gewählte Regierung abgelöst werden. Da sich die Übergangsregierung gegen Neuwahlen zum jetzigen Moment stellte, reagierten die Staats- und Regierungschefs der ECOWAS, unterstützt von der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA), am 9. Januar mit starken Sanktionen. Seit dem Folgetag sind die Grenzen des Binnenlands geschlossen; Botschafter*innen wurden abberufen, und ein umfassendes Finanz- und Handelsembargo ist in Kraft getreten, das lediglich Medikamente und Lebensmittel ausnimmt. Frankreichs Außenminister, Jean-Yves Le Drian, der die ECOWAS-Sanktionen umgehend unterstützte, versucht seitdem, weitere Staaten auf seine Seite zu ziehen. Die USA sind bereits eingestiegen, die Europäische Union entschied am 14. Januar, Einreisesperren zu verhängen sowie Gelder und Ressourcen von Personen und Organisationen einzufrieren, die in ihren Augen Frieden und Sicherheit gefährden oder einen Wahlprozess behindern. Im UN-Sicherheitsrat scheiterte dagegen eine Resolution an den Vetos Russlands und Chinas. Auch Malis Nachbarland Guinea beteiligt sich nicht an den Sanktionen, so dass immerhin diese Grenze offenbleibt.

Dr. Claus-Dieter König ist Leiter des RLS-Büros Westafrika in Dakar, Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Franza Drechsel ist Referentin und Projektmanagerin für Westafrika

Den harten Sanktionen vorausgegangen waren auch laute Überlegungen der malischen Regierung, Söldner der russischen Wagner-Gruppe zu engagieren, um massiver gegen dschihadistisch-terroristische Gruppen im Land vorzugehen. Denn der Ministerpräsident der Übergangsregierung, Choguel Maïga, und Präsident Colonel Assimi Goïta sehen sich zunehmend der Herausforderung gegenüber, die Sicherheitslage im Land zu stabilisieren. Die aktuell zunehmenden Anschläge waren ein Grund dafür, dass sie die Wahlen verschoben.

Als weiteren Grund nannten sie den begonnenen Prozess der nationalen Versammlungen zur Neugründung Malis. Diese «Assises de la Refondation» fanden im Dezember 2021 in 649 von 725 Kommunen und damit in 51 von 60 Kreisen sowie auf nationaler Ebene mit dem Ziel statt, Empfehlungen zur Restrukturierung des Landes zu sammeln. Während einige politische Parteien den Prozess boykottierten, wurde er im Allgemeinen positiv von der Bevölkerung aufgenommen. Im Abschlussdokument finden sich knapp 600 Empfehlungen, darunter die Forderung nach Verschiebung der Wahlen. Um das politische Gebilde Malis auf ein nachhaltiges Fundament zu stellen, wurde ein Aufschub von bis zu fünf Jahren genannt.  

Ein demokratischer Neuanfang

Dass die Übergangsregierung von einem Großteil der malischen Bevölkerung befürwortet wird, haben nicht zuletzt die jüngsten Massendemonstrationen am 14. Januar gezeigt, zu denen die malische Regierung als Protest gegen die Sanktionen aufgerufen hatte. In mehreren Städten, darunter Bamako, Timbuktu, Koutiala, Mopti, Ségou und Gao, gingen Hunderttausende auf die Straße. Nouhoum Keita, Journalist aus Bamako, beschrieb diesen Moment als «historisch».

Nicht nur Malier*innen unterstützen die aktuelle Regierung, auch Gewerkschaften, Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen aus Nachbarländern veröffentlichten Erklärungen gegen die Sanktionen. Auch in der Diaspora, unter anderem in Belgien, fanden Demonstrationen statt, die sich mit der Bevölkerung Malis solidarisieren. Viele Menschen in Westafrika verstehen die Sanktionen als einen weiteren neokolonialen Eingriff Frankreichs und unterstützen daher die Militärregierung, die der ehemaligen Kolonialmacht die Stirn bietet.

Vom westlichen Standpunkt aus betrachtet sind Neuwahlen das Symbol für Demokratie. Doch Neuwahlen würden lediglich einmal mehr das gescheiterte Präsidialsystem gaullistischer Prägung reproduzieren, und die daraus hervorgehende Regierung würde kaum Zuspruch in der malischen Bevölkerung finden. Denn Demokratie einzig auf Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu reduzieren, führt seit Jahren in vielen westafrikanischen Staaten zu Problemen wie Repression oder Straflosigkeit. Die politischen Strukturen der Staaten sind zwar formal demokratisch verfasst, doch Teilhabe und Mitbestimmung der Bevölkerung garantieren sie nicht. So benötigte Ibrahim Boubacar Keita, der von 2013 bis 2020 Präsident des Landes war, für den Sieg im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl von 2018 nur 1,3 Millionen Stimmen von insgesamt 8 Millionen Wahlberechtigten. Diese Legitimationskrise der demokratischen Institutionen in ganz Westafrika führt zu geringer Wahlbeteiligung und wiederkehrenden Protestbewegungen. Das Mehrheitswahlrecht fördert, zusammen mit der starken Machtkonzentration des Präsidenten, Konflikte und Gewalt. Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt könnten Mali daher weiter destabilisieren. Statt weitere Konfrontation benötigt Mali aber offensichtlich eine auf mehr Partizipation und Kompromissfindung gerichtete Erneuerung der Institutionen. Solch ein Prozess braucht einen auf einige Jahre angelegten Fahrplan. Aber um Demokratie von unten neu zu fundieren, wird Mali derzeit, gerade durch die Sanktionen, kein Raum gelassen.

Dabei sind die «Assises» ein guter Ansatzpunkt für die Redemokratisierung Malis. Um der Übergangsregierung auf die Finger zu schauen und die Probleme des Landes inklusiv anzugehen, sollten sie mindestens für die Dauer des Übergangsprozesses institutionalisiert werden. Damit entstünde ein Forum, in dem lokale, regionale und nationale Problemlösungen verhandelt werden könnten. Organisationen der Zivilgesellschaft und die Bevölkerung müssten darüber wachen, dass die Versammlungen repräsentativ sind und keine relevanten Gruppen ausgeschlossen werden.

Ein anderes Element sind die zahlreichen Konfliktbearbeitungsprozesse und Friedensabkommen auf lokaler und regionaler Ebene, die seit 2019 abgeschlossen wurden und auch von den Teilnehmenden der Assises befürwortet werden. Sie enthalten in der Regel Vereinbarungen zur sozialen Grundversorgung (wie Schulen und Gesundheitseinrichtungen) sowie zur abgestimmten Nutzung von Land und anderen wichtigen Ressourcen, damit die Bevölkerung neue wirtschaftliche Perspektiven aufbauen kann. Der Regierung bleibt die Herausforderung, die lokalen Abkommen auf die nationale Ebene zu heben. Die Teilnehmenden der Assises empfahlen eine Revision des Abkommens von Algier, das 2015 geschlossen und nie wirklich umgesetzt wurde, sowie dessen schnelle Umsetzung.

Vom Westen und der ECOWAS boykottiert

Die Sanktionen verschärfen dagegen die bereits großen Probleme des Landes und erschweren damit einen demokratischen Neuanfang. Wie immer treffen sie vor allem die Zivilbevölkerung, da Preissteigerungen unweigerlich die Folge sind. Weil Händler*innen in den Grenzregionen vom lokalen transnationalen Handel abhängig sind, treffen Schließungen sie umso härter. Der Wirtschaftswissenschaftler Bérenger N’Cho geht davon aus, dass durch das Handelsembargo der informelle Handel wächst – was staatliche Strukturen weiter schwächt und Staatseinnahmen zusätzlich mindert. Er schließt zudem nicht aus, dass sich Handelsrouten langfristig ändern, was für eine wirtschaftliche Entwicklung Malis kontraproduktiv wäre. Da zudem die Finanzflüsse gestoppt werden, kommen auch keine Rücküberweisungen aus der Diaspora ins Land. Von ihnen ist ein Großteil der Menschen in der anhaltenden sozioökonomischen Krise auf die ein oder andere Weise abhängig.

Die soziale Ungleichheit, wachsende Konflikte um Land durch dessen Verschacherung an multinationale Großkonzerne (wie im Office du Niger) und zunehmend spürbare Auswirkungen der Klimakrise sind Ursachen für die Gründung radikal-dschihadistischer Gruppen und für die Zustimmung, die Teile der Bevölkerung ihren Taten entgegenbringen (etwa wenn das von ihnen eingeführte Gerichtswesen ein Ende der Straflosigkeit bedeutet). Indem die Sanktionen soziale Ungleichheit verschärfen, fördern sie auf diese Weise indirekt auch den Terrorismus. Da wirkt es widersprüchlich, dass es das erklärte Ziel Frankreichs ist, Mali im «Kampf gegen den Terrorismus“ zu unterstützen. Doch ein Einlenken der westafrikanischen und westlichen Staaten ist derzeit kaum denkbar. Insofern ist es kein Wunder, dass sich die malische Regierung an Staaten wie China, Russland oder die Türkei wendet. Es steht allerdings zu befürchten, dass deren Regierungen nicht selbstlos an der Seite der Übergangsregierung stehen, was langfristig zu weiteren Problemen in Mali führen kann.

Mit den Massendemonstrationen am 14. Januar hat Malis Bevölkerung den ersten Schritt getan, der aktuellen Regierung ihre Unterstützung zuzusichern. Das könnte Goïta und Maïga den Rücken stärken, um mit den sanktionierenden Regierungen einen Kompromiss auszuhandeln. Die Regierung Malis wiederum muss ihrerseits Kritik zulassen. Die Inhaftierung von Oumar Mariko, Generalsekretär der LINKEN-Schwesterpartei SADI, aufgrund eines an die Öffentlichkeit gelangten privaten Telefonats, in dem er den aktuellen Ministerpräsidenten beschimpft, zeugt nicht von Offenheit für einen inklusiven politischen Prozess. Es ist Sache der Malier*innen, über die Zukunft ihres Landes zu entscheiden. Wollen sie eine wirkliche demokratische Neubegründung, werden sie diese Forderung gegenüber der aktuellen Regierung aufrechterhalten müssen.