Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Antisemitismus und Nahost global Heilbronn, Rabinovici & Sznaider (Hrsg.): Neuer Antisemitismus?, Berlin 2019.

Versuch einer Überwindung der «fatalen Dichotomie zwischen Alarmisten und Leugnern» des Antisemitismus: Die vielstimmige Neuauflage der erstmals 2004 erschienen Publikation «Neuer Antisemitismus» führt die globale Debatte fort.

Information

Autor

Felix Axster,

Bei dem hier zu besprechenden Buch handelt es sich um eine Neuauflage: Neuer Antisemitismus? ist erstmals 2004 erschienen, damals noch mit dem Untertitel Eine globale Debatte. In der 2019 publizierten Neuauflage lautet der Untertitel Fortsetzung einer globalen Debatte. Somit ist bereits im Titel angedeutet, dass es sich nicht einfach um dasselbe Buch handelt. Vielmehr haben sich markante Änderungen ergeben – dazu am Ende mehr.

In ihrer Einleitung schreiben die Herausgeber: «Sobald über Antisemitismus kommuniziert wird, sieht man sich zumeist in einer fatalen Dichotomie zwischen Alarmisten und Leugnern gefangen. Dieses Buch ist ein Versuch, diese Dichotomie zu durchbrechen.» (10) Und weiter heißt es: «Die theoretischen Positionen sind einander seit 2004 [Erscheinungsdatum der Erstausgabe] nicht nähergekommen, sondern die intellektuellen Stimmen driften zusehends auseinander, wobei die eine Seite jeweils die andere als den wahren Agenten des eigentlichen Antisemitismus ansieht.» (20)

Ist das Vorhaben, die Dichotomie durchbrechen zu wollen, also gescheitert? Interessanter Weise ist in der Erstausgabe noch gar nicht die Rede von Dichotomien und dem Versuch ihrer Durchbrechung. Hier ging es offenbar vor allem darum, eine internationale Debatte für das deutsche Publikum aufzubereiten. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass die Entscheidung für eine Neuauflage durch die zunehmende Polarisierung innerhalb der Antisemitismusforschung und -kritik motiviert war. Anders gesagt: Während die Erstauflage auf Information und In-Kenntnis-Setzen zielte, scheint die Neuauflage in die hochgradig politisierte und oftmals von Unversöhnlichkeit geprägte Debatte über Antisemitismus intervenieren zu wollen, wobei auch die Hoffnung mitschwingt, Lagerbildungen entgegenwirken zu können.

Doch was genau verstehen die Herausgeber unter neuem Antisemitismus, und wie gestaltet sich der Versuch, Dichotomien zu durchbrechen? In der Einleitung heißt es an einer Stelle: «Der Antisemit […] hat sein klares Profil verloren.» (9) Man könnte einwenden, dass diesem Satz eine problematische Homogenisierung inhärent ist (worin genau hätte das klare Profil jemals bestanden?). Und doch bringt er etwas auf den Punkt: Im Großen und Ganzen – so ließe sich das Argument ausbuchstabieren – war der Antisemitismus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein Projekt der Rechten vor allem in Europa und den USA, insbesondere der völkischen Bewegung. Seit 1945 allerdings haben sich die Koordinaten geändert. Neue, sekundäre Formen des Antisemitismus begannen sich abzuzeichnen. Zum Beispiel der Schuldabwehr-Antisemitismus, der sich auf die dem israelisch-österreichischen Autor Zvi Rix zugeschriebene Formel bringen lässt, dass die Deutschen den Juden*Jüdinnen Auschwitz nie verzeihen würden. Oder aber der israelbezogene Antisemitismus, dessen Objekt der 1948 gegründete jüdische Staat ist. Zudem treten neue Akteur*innen als Träger*innen von antisemitischen Einstellungen und Ressentiments in Erscheinung. Gemeint sind vor allem (antizionistische und antiimperialistische) Linke sowie Muslime*a.

Doch woran genau lässt sich Schuldabwehr-Antisemitismus festmachen? Wie wäre zwischen Antizionismus und Antisemitismus zu unterscheiden? Wie lässt sich entscheiden, wann eine möglicherweise legitime Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser*innen ins antisemitische Ressentiment kippt? Wie verhält sich israelbezogener Antisemitismus zum Nahost-Konflikt? Ist die Fixierung auf linken Antisemitismus nicht auch das Resultat rechter Politik und Propaganda? Wie verhält sich die gestiegene Aufmerksamkeit für sogenannten islamischen Antisemitismus zum grassierenden antimuslimischen Rassismus?

Die Fragen mögen verdeutlichen, dass der neue Antisemitismus ein hoch komplexes Phänomen ist, das mit vielschichtigen Konfliktdynamiken zusammenhängt. Sie mögen außerdem verdeutlichen, dass einfache Antworten nur schwer zu haben sind. Auch Neuer Antisemitismus? verweigert sich einfachen Antworten. Genauer gesagt – ich komme auf den zweiten Teil meiner Frage zu sprechen, darauf also, wie sich der Versuch der Vermeidung von dichotomischen Anordnungen gestaltet – zeichnet sich der Band durch Vielstimmigkeit aus. Das heißt konkret, dass hier Autor*innen gewissermaßen aus beiden Lagern – sowohl <Alarmist*innen> als auch <Leugner*innen> – versammelt sind.

Entsprechend treffen Positionen aufeinander, zwischen denen eine Spannung besteht. Am deutlichsten wird dies bei den Beiträgen von Omer Bartov und Tony Judt, was vor allem daran liegt, dass Letzterer sich explizit und kritisch auf Ersteren bezieht. Ausgehend von Hitlers sogenanntem zweiten Buch, das erst nach 1945 publiziert und überhaupt <entdeckt> wurde, versucht Bartov in seinem Beitrag Der alte und der neue Antisemitismus zu zeigen, dass sich klassische Elemente des Judenhasses heute vor allem in islamistischen Kontexten wiederfinden (er verweist unter anderem auf eine 2003 gehaltene Rede des damaligen Premierministers von Malaysia, Mahathir bin Mohamad, sowie auf Aussagen der Attentäter vom 11. September 2001, die während des Strafverfahrens gegen Mounir al-Motassadeq, Mitglied der Hamburger Al-Qaida-Zelle, die die Anschläge geplant hatte, bekannt wurden). Judt hingegen setzt in seinem Beitrag Zur Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antizionismus andere, gewissermaßen gegenläufige Akzente, und wirft Bartov vor, dass dieser «die Kausalität umkehrt» (69). Für Judt nämlich sind antijüdische Ressentiments auch ein Effekt der Politik der israelischen Regierung. Gerade der Umstand, dass die politische Führung Israels (2004, als Judts Beitrag erschien, war Ariel Scharon Ministerpräsident) den Anspruch erhebe, für Juden*Jüdinnen an sich zu sprechen, führe dazu, dass Juden*Jüdinnen weltweit für die israelische Politik verantwortlich gemacht würden. Folglich gehe es darum, eine «Brandmauer» zwischen legitimen Formen des Antizionismus und illegitimem Antisemitismus zu errichten (70). Um zu veranschaulichen, was damit gemeint sein könnte, unterscheidet Judt zwischen faktischen Aussagen («Israel und seine Lobbyisten» würden «einen übermäßigen und verhängnisvollen Einfluss» auf die Politik der USA ausüben) und antisemitischen Aussagen («die Juden» würden «Amerika kontrollieren, um ihre Ziele zu erreichen») (71).

Ausgehend von der Diagnose einer Dichotomie zwischen unterschiedlichen Lagern sind die Rollen hier wohl klar verteilt: Für Judt wäre Bartov wahrscheinlich ein Alarmist, während Bartov Judt möglicherweise der Leugnung, Relativierung oder Verharmlosung des Antisemitismus bezichtigen würde. Ähnlich verhält es sich mit den Beiträgen von Judith Butler und Matthias Küntzel. Zwar gibt es hier keine direkte Bezugnahme, und doch lässt sich anhand der jeweiligen Akzentsetzungen und Perspektivierungen erkennen, dass die Argumentationen in gewisser Weise gegenläufig sind. Butler zielt in ihrem Text Antisemitismus und Rassismus. Für eine Allianz der sozialen Gerechtigkeit vor allem auf eine philosophisch grundierte Rechtfertigung der israelkritischen Boykottbewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS). Dabei geht sie von der fast schon mantraartig wiederholten Annahme aus, dass sich diese Bewegung gegen Formen kolonialer Herrschaft richte und nicht gegen den jüdischen Staat als solchen oder allgemein gegen Juden*Jüdinnen. Zudem betont Butler, dass Antisemitismus eine Form von Rassismus sei. Diese Ein- oder Zuordnung dient insofern der Stabilisierung ihrer Rechtfertigung der BDS-Bewegung, als Butler BDS als eine dezidiert antirassistische Intervention vorstellt, was gewissermaßen automatisch Anti-Antisemitismus implizieren würde. Schließlich verweist Butler auf antisemitische Artikulationen des Zionismus zum Beispiel bei (neu-)rechten und faschistischen Protagonisten wie Steve Bannon und Richard Spencer sowie auf die Allianzen zwischen diesen Protagonisten und der rechtsgerichteten israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu (Butler hat ihren Beitrag von 2004, der Der Antisemitismus-Vorwurf. Juden, Israel und die Risiken öffentlicher Kritik überschrieben ist, gründlich überarbeitet, es handelt sich um eine Art Neufassung).[1]

Matthias Küntzel wiederum rekonstruiert in seinem Beitrag Von Zeesen bis Beirut. Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt die historische Genese des islamistischen Antisemitismus. Dabei verweist er zum einen auf den Kurzwellensender in Zeesen, ein Ort im Süden Berlins, von wo die Nationalsozialisten ab 1939 ein arabischsprachiges Programm sendeten, um insbesondere antisemitische Propaganda in unter anderem der Türkei, in Indien und in Persien zu verbreiten. Zum anderen kommt er auf Akteure wie Mohammed Amin al-Husseini, der als Mufti von Jerusalem mit dem NS-Regime kooperierte, und die in den 1920er Jahren in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft zu sprechen, die den Antisemitismus zu einem nicht unerheblichen Bestandteil ihrer Ideologie und ihres politischen Kampfes machen sollten. Küntzel widmet sich folglich dem Projekt einer transnationalen bzw. transkontinentalen Verflechtungsgeschichte, in dem ein durchaus organisierter Wissenstransfer eine tragende Rolle hinsichtlich der Ausbreitung des Antisemitismus in islamistischen Kontexten spielt.

Wie gesagt, zwischen den Texten von Butler und Küntzel besteht kein expliziter Zusammenhang. Der Eindruck, sie könnten unterschiedlichen Lagern angehören, resultiert eher aus der jeweiligen thematischen Konzentration und Fokussierung (und wird durch den Umstand verstärkt, dass Küntzel Butler im Zuge der Verleihung des Adorno-Preises an die US-amerikanische Philosophin 2012 aufgrund ihrer Haltung zu Israel und Zionismus kritisiert hat). Wie auch immer – der Versuch der Herausgeber, Vielstimmigkeit herzustellen, ist ein mutiges und spannendes Unterfangen. Zugleich ließe sich Beliebigkeit assoziieren. Zumindest stellt sich die Frage, ob und inwiefern es gelingt, Dichotomien und Lagerbildungen zu durchbrechen. Auch wenn sich Judt auf Bartov bezieht, stehen ihre Positionen doch mehr oder weniger unverbunden nebeneinander. Dies gilt noch mehr für Butler und Küntzel. Kann Vielstimmigkeit an sich diesem Nebeneinanderstehen etwas entgegensetzen? Wäre nicht ein anderes Format sinnvoller gewesen, zum Beispiel ein Gesprächsformat, bei dem die Protagonist*innen der jeweiligen Lager gewissermaßen gezwungen gewesen wären, sich mit den Positionen der anderen Seite auseinanderzusetzen, und zwar im direkten Austausch? Oder sind die Fronten derart verhärtet, dass ein solches Gespräch lediglich mit wechselseitigen Antisemitismus- und Rassismusvorwürfen geendet hätte?

Deutlich wird, dass Dichotomisierungen und Lagerbildungen beim Nachdenken und Debattieren über neuen Antisemitismus allgegenwärtig sind und quasi unausweichlich erscheinen. Zugleich handelt es sich um Fallen, in die nur allzu leicht trappt, wer sich, wie ich bis hierhin, in einem schier unermesslich weiten und von Polarisierung geprägten Diskursraum Orientierung zu verschaffen versucht. Vor diesem Hintergrund sei betont, dass sich Neuer Antisemitismus? keineswegs in der Zusammenstellung scheinbar antagonistischer Positionen erschöpft. Vielmehr gibt es auch Beiträge, die quer stehen zu dichotomen Lagerbildungen. Es handelt sich um äußerst dichte und anregende Texte, die veranschaulichen, dass das Verharren in Dichotomien und Lagern schlicht unproduktiv ist und das Denken beschränkt.

Ähnlich wie Küntzel verfolgt auch Gerd Koenen in seinem Beitrag Mythen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts (in der Ausgabe von 2004 heißt der Beitrag Mythen des 20. Jahrhunderts) das Projekt einer transnationalen Verflechtungsgeschichte des Antisemitismus. Mehr noch als Küntzel allerdings betont Koenen, dass es sich beim Transfer von antisemitischem Wissen und antisemitischer Ideologie von einem Kontext in den anderen nicht einfach nur um eine mehr oder weniger kontinuierliche Ver- oder Ausbreitung handelt, sondern um «genuine Neuschöpfungen» (92). Entsprechend geht es Koenen bei seinem fragmentarischen Nachvollzug der Entwicklungsgeschichte des Antisemitismus vom Nationalsozialismus über den Stalinismus, den (neu-)linken Antizionismus, den (neu-)rechten Antisemitismus bis hin zum Islamismus stets um die Frage, in welche spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse der Antisemitismus jeweils eingebettet war, welche Funktion und welchen Status er im weltanschaulichen Gesamtgefüge der jeweiligen Bewegungen und Akteur*innen inne hatte, wie sich seine besondere Attraktivität jeweils erklären lässt. Das Inspirierende an dieser Herangehensweise besteht unter anderem darin, dass das Vorkommen von Antisemitismus nicht einfach beständig vorausgesetzt wird, sondern erklärungsbedürftig erscheint, was letztlich zu der Notwendigkeit führt, die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als strukturelle Faktoren der Ermöglichung von Antisemitismus kritisch in den Blick zu nehmen. Bei Koenen heißt es in diesem Zusammenhang:

«Nicht die ideologischen Formeln als solche, die man natürlich immer wieder zu einer erschreckenden und suggestiven <Kontinuität> zusammenstellen kann, sind entscheidend, sondern die lebendigen Motivationen und Weltanschauungen derer, die sie sich in bestimmten historischen Situationen in unterschiedlichen Ländern und kulturellen Kontexten zu eigen machten – oder auch beiseitewarfen.» (116)

Letztlich läuft der Ansatz auf die unbeantwortet bleibende Frage hinaus, ob die verschiedenen Aneignungen oder Anverwandlungen ideologischer Versatzstücke des Antisemitismus nicht «den Rahmen dessen, was sinnvollerweise unter dem Begriff <Antisemitismus> gefasst werden kann, längst sprengen» (92). Das heißt nicht – so verstehe ich Koenen –, den Begriff Antisemitismus als analytische Kategorie aufzugeben. Eher geht es darum, sich der Problematik der Homogenisierung und Essentialisierung bewusst zu sein, die der Gegenstandskonstitution des Antisemitismus (wie überhaupt jeder Gegenstandskonstitution) inhärent ist. Hinsichtlich der Attraktivität antisemitischer Wissensbestände jedenfalls verweist Koenen unter anderem auf das von Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte Theorem einer <Entzauberung der Welt>. So heißt es mit Blick auf die Entstehung des modernen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: «Dieses gesteigerte, quasiwissenschaftlich auftretende Ressentiment entsprang einer panischen Reaktion gegen die unaufhaltsame <Entzauberung> der modernen, säkularisierten und kommerzialisierten Welt.» (92) Und auch bezüglich des Aufstiegs des Islamismus ist von <Welt-Entzauberung> die Rede – Koenen macht hier einen «von aggressiver Angst getriebene[n], sexuelle[n] Hass» aus, «der sich nicht nur aus der unterminierten Herrschaft des Mannes über die Frau und die Familie speist, sondern auch aus der kommerziellen und habituellen Profanierung des Geschlechts und des Körpers in der Werbung, der Kunst oder dem Sport, die vielleicht die letzte <Entzauberung> der Welt darstellt» (119-120).

Dan Diners Beitrag Der Sarkophag zeigt Risse: Über Israel, Palästina und die Frage eines «neuen Antisemitismus» hat zwar einen anderen Fokus; dennoch gibt es meines Erachtens durchaus Überschneidungen zu Koenens Herangehensweise. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Diner zwischen einem gewissermaßen klassischen Antisemitismus und einem Post-Holocaust-Antisemitismus unterscheidet: Ersterer sei nach dem Mord an den Juden*Jüdinnen moralisch in Verruf geraten, Letzterer zeichne sich durch weniger Dichte aus. Daraus folgt für Diner, dass antijüdische Regungen nach 1945 schwerer zu fassen seien (hier hallt die bereits zitierte Diagnose aus der Einleitung der Herausgeber wider, dass der Antisemit sein klares Profil verloren habe). Konsequenterweise schlägt er eine begriffliche Differenzierung vor: «Diesen Partikeln des Ressentiments [gemeint sind judenfeindliche Äußerungen und Haltungen nach dem Ende des Nationalsozialismus] sollte, in Unterscheidung zur vormaligen, historischen Dichte, vielleicht kein antisemitischer, sondern eher ein antisemitisierender Charakter zugeschrieben werden.» (460)

Von dieser Voraussetzung ausgehend entfaltet Diner eine Analyse des angespannten Verhältnisses zwischen Israel und den Palästinenser*innen (oder allgemein der arabischen Welt), die insbesondere dadurch besticht, dass er der Komplexität dieses Verhältnisses gerecht zu werden versucht und es gleichzeitig auf wesentliche Grundkonstanten als konfliktträchtigen Strukturmerkmalen herunterzubrechen versteht. So konstatiert er, dass es sich nicht nur um einen gewissermaßen symmetrischen nationalen Konflikt handele, der im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung kompromissfähig sei, sondern um einen «nationale[n] Konflikt kolonialen Charakters», wodurch eine Schieflage, eine Asymmetrie entstehe (462). Anders und in Diners Worten gesagt: «Folge eines solchen nationalen Konflikts kolonialen Charakters ist die ihm eigene, jede einvernehmliche Konfliktlösung vereitelnde Blockade auf beiden Seiten. Seinen nationalen bzw. territorialen Anteilen und der mit diesen Anteilen verbundenen symmetrischen Vorstellung vom Konflikt nach – Nation gegen Nation – ließe sich dieser durch eine Teilung des Landes lösen. Seinen kolonialen Anteilen nach aber unterläuft der Konflikt alle Vorstellungen von kompromissfähiger Territorialität.» (463)

Bezüglich der Frage, wie dieser Konflikt aufzulösen sei, spricht Diner von einer «gordischen Lösung», wonach es gelte, «zum einen den Antisemitismus zu bekämpfen, als ob es den arabisch-jüdischen, israelisch-palästinensischen Konflikt nicht gäbe; zum anderen alles zu unternehmen, um ebenjenen Konflikt einer beiden Seiten zuträglichen Lösung zuzuführen – so, als gäbe es den Antisemitismus nicht» (483). Im Umkehrschluss heißt dies, dass es eigentlich kaum möglich zu sein scheint, sinnvoll über israelbezogenen Antisemitismus zu sprechen und dabei den Nah-Ost-Konflikt gänzlich auszublenden bzw. sinnvoll über den Nah-Ost-Konflikt zu sprechen und dabei Antisemitismus zu ignorieren. Kritisch anzumerken bleibt lediglich, dass Diner bisweilen durchaus problematische (weil pauschalisierende) Zuschreibungen vornimmt. So diagnostiziert er zum Beispiel eine «Modernisierungsblockade» in der arabisch-muslimischen Welt, die unter anderem dazu führe, dass die Spezifik des Holocaust als Zivilisationsbruch nicht (an-)erkannt werden könne, und die sich als Einfallstor für antisemitisierende (oder auch antisemitische) Semantiken erweisen könne (476). Diese Argumentation wird er in seinem 2007 erschienenem Buch Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust weiter entfalten.[2]

Es ließen sich noch weitere Artikel nennen und zusammenfassen, die ebenfalls in besonderer Weise anregend sind, was damit zu tun hat, dass auch sie quer zu Dichotomisierungen und Lagerbildungen stehen. Doch will ich abschließend auf die eingangs erwähnten Unterschiede zwischen Erst- und Zweitauflage eingehen. Zunächst fällt auf, dass zahlreiche Beiträge nicht mehr enthalten und dafür zahlreiche neue hinzugekommen sind. Es hat also gewissermaßen eine Ersetzung stattgefunden. Die Herausgeber erklären diesbezüglich: «Wir haben auf einige Beiträge des Buches aus dem Jahr 2004 verzichtet, weil sie zu sehr in die Debatten der damaligen Zeit verstrickt waren. Stattdessen nahmen wir neue Beiträge auf, um auf aktuelle Probleme einzugehen.» (17)

Die neuen Beiträge befassen sich unter anderem mit antisemitischen Diskursen und Erscheinungsformen in postkommunistischen Kontexten (András Kovács: Postkommunistischer Antisemitismus: alt und neu. Der Fall Ungarn; Rafaɫ Pankowski: Die Renaissance des antisemitischen Diskurses in Polen; Jan T. Gross: Offizieller Antisemitismus in Polen: Eine persönliche Betrachtung), mit den Debatten über Antisemitismus in der britischen Labour Party (Brian Klug: Die Linke und die Juden: Labours Sommer der Bitterkeit; Anshel Pfeffer: Gute Juden, schlechte Juden: Antisemitismus in Jeremy Corbyns Labour Party) sowie mit dem Spannungsverhältnis zwischen Rassismus und Antisemitismus hinsichtlich der Auseinandersetzungen über Flucht und Migration aus islamischen Ländern (Sina Arnold: Der neue Antisemitismus der Anderen? Islam, Migration und Flucht).

Die zweite Änderung besteht darin, dass die aus der Erstauflage übernommenen Beiträge allesamt mit einem Postskriptum versehen sind, in dem die Autor*innen eine Art Aktualisierung vorzunehmen versuchen. Dan Diner zum Beispiel betont hier die Unterschiede zwischen Antisemitismus als gegen «die da oben» gerichteter «Hass auf vorgeblich Mächtige, Überlegene, Privilegierte», und Rassismus als «vornehmlich nach unten» gerichteter Hass (486). Zudem konstatiert er, dass «Antirassismus und Anti-Antisemitismus nicht nur auseinanderzutreten, sondern sich gegebenenfalls auch entgegenzustehen vermögen», was mit dem Umstand zusammenhänge, dass «sie auf unterschiedlichen Stufen von Aversionsaffekten gelegen» seien (ebd.). Im Anschluss an die bereits zitierte Beobachtung der Herausgeber, dass die jeweiligen Positionen seit Erscheinen der Erstauflage 2004 sich nicht nähergekommen, sondern eher auseinandergedriftet seien, kann man Diners Nachsatz als Symptom einer zunehmenden Polarisierung gerade im Verhältnis zwischen Rassismus- und Antisemitismuskritik verstehen.

Gerd Koenen wiederum kommt auf «die beiden konkurrierenden und zugleich komplementären <Mythen des 21. Jahrhunderts>» zu sprechen, die sich «durchaus als Mutationen und zugleich als Aktualisierungen der alten Mythen des 19. und 20. Jahrhunderts» (gemeint sind der nationalsozialistische Antisemitismus sowie der sowjetische Antizionismus) verstehen ließen (127). Die Rede ist von der sich aggressiv und durchaus eliminatorisch äußernden Angst vor Vermischung und Überfremdung im Lager sowohl der (Neuen) Rechten als auch der Dschihadist*innen. So gesehen erweist sich das in der Rechten populäre Narrativ des sogenannten großen Austauschs, das die paranoide Vorstellung beinhaltet, jüdische Strippenzieher würden Migrationsströme aus islamischen Ländern lenken, um so etwas wie eine westliche Identität zu zerstören, als ein «schreckliches Vexierbild der islamistischen Zwangsvorstellung einer geplanten Vernichtung» des Islam «durch eine ungehemmte Invasion westlicher […] Ideen, Lebensstile und Bilderfluten» (ebd.).

Bleibt die Frage, warum die Herausgeber am Fragezeichen im Titel der Zweitauflage festgehalten haben. In der Einleitung erklären sie unmissverständlich:

«Wir gingen damals [sie beziehen sich hier auf die Erstauflage] von einem neuen Phänomen aus, das von manchen der Publizierten zwar bezweifelt wurde, doch in der Zwischenzeit kann kaum geleugnet werden, was damals noch umstritten war: Es gibt einen neuen Antisemitismus, der in den letzten Jahren an Macht gewann.» (12)

Die nun folgende Aufzählung – dschihadistische Attentate, autoritär-populistische Regierungen wie in Polen, Ungarn und Österreich (die Zweitauflage erschien noch vor der Ibiza-Affäre von Heinz-Christian Strache und der kurz darauf folgenden Implosion der türkis-blauen Koalition), die Kampagne gegen George Soros, die Auseinandersetzungen in der und über die britische Labour Party bzw. allgemein über linken Antizionismus – irritiert. Was genau ist hier wirklich neu? Lassen sich all diese sehr spezifischen und bisweilen historisch gut verankerten Phänomene tatsächlich über den einen Kamm <neuer Antisemitismus> scheren? Während das Fragezeichen im Titel eine Suchbewegung markiert oder ein vorsichtiges Tasten, zeugen die Aufzählung und das vorangestellte Bekenntnis («Es gibt einen neuen Antisemitismus») von einem fast schon brachial anmutenden Versuch der Vereindeutigung. Die Debatte wird weitergehen…
 

Postskriptum I

Ich selbst arbeite seit ca. zehn Jahren am Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA)der Technischen Universität Berlin, eine Institution, die immer mal wieder dem Lager der Leugner zugeschlagen wird. Mit dem Impuls, Dichotomien und Lagerbildungen aufbrechen zu wollen, kann ich viel anfangen. Man muss wirklich aufpassen, wenn man längere Zeit im Feld der Antisemitismusforschung unterwegs ist, dass man nicht selbst dem Lagerdenken verfällt. Zugleich gilt es, sich zu positionieren, kann man sich nicht einfach raushalten aus dem diskursiven Handgemenge und einen vorgeblich sicheren Standpunkt vermeintlicher Neutralität einnehmen. Zwischen Positionierung und Lagerbildungs-Vermeidung besteht ein schmaler Grat. Darauf zu navigieren ist oft schwierig und anstrengend. Es gelingt nicht immer. Man ist verletzt, man macht Fehler. Sich das einzugestehen ist wichtig und eine unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit der Vermeidung von Lagerbildungs-Dynamiken.

Postskriptum II

In letzter Zeit ist oft von Apartheids- und Kolonialismus-Analogien im Zusammenhang mit (neuem) Antisemitismus die Rede. Dabei geht es um die Frage, ob man Israel dämonisiert oder delegitimiert, wenn man die Politik in den besetzten Gebieten mit der Apartheidspolitik Südafrikas vergleicht oder wenn man nach den kolonialen Implikationen des Zionismus fragt. Meines Wissens ist Dan Diner, obwohl er die koloniale Dimension des israelisch-palästinensischen Konflikts vor beinahe 20 Jahren klar benannt hat, noch nicht mit Dämonisierungs- oder Delegitimierungsvorwürfen konfrontiert worden. (Man wird ihm solche Vorwürfe auch schlechthin nicht machen können.) Lässt sich daraus eine Verschiebung der Sagbarkeitsregeln ableiten? Oder haben gegen Israel gerichtete Dämonisierungs- und Delegitimierungsbemühungen derart zugenommen, dass Apartheids- und Kolonialismus-Analogien heute eine gänzlich andere und viel größere Resonanz haben? Wie gesagt, die Debatte wird weitergehen…
 


[1] Christoph Gollaschhat mich dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass sich Klaus Holzund Thomas Hauryin ihrem gerade erscheinenden Buch Antisemitismus gegen Israel intensiv und kritisch mit Butlers Text auseinandersetzen. Vgl. Klaus Holz & Thomas Haury: Antisemitismus gegen Israel, Hamburg 2021, v. a. S. 211-255. Ich danke den Autoren für die Überlassung des Manuskripts.

[2] Vgl. Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007.
 


Christian Heilbronn, Doron Rabinovici & Natan Sznaider (Hrsg.): Neuer Antisemitismus?, Fortsetzung einer globalen Debatte, 2. Aufl., Berlin 2019: Suhrkamp (494 S., 20,- €).
 

Die Besprechung erschien in der Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte theologie.geschichte 16 (2021).