Anmerkung der Redaktion: Am 20. Januar gab die serbische Regierung bekannt, dass sie Rio Tinto die Bergbaulizenz entzieht und damit das Projekt auf Eis legt. Ein Sprecher von Rio Tinto erklärte gegenüber Reportern, das Unternehmen sei «äußerst besorgt» über diese Entscheidung.
Gornje Nedeljice, ein Dorf im Westen Serbiens – nur 20 Kilometer von der Grenze zu Bosnien-Herzegowina entfernt – gleicht immer mehr einer Geisterlandschaft. Hier finden sich weder Spuren menschlicher Anwesenheit, noch hört man Stimmen von Haus- oder Nutztieren. Lediglich der Lärm von Autoreifen, die sich über die baufällige Dorfstraße mühen, durchbricht die Stille. Leere Einfamilienhäuser reihen sich aneinander und erzeugen eine gespenstische Atmosphäre. Nicht nur die Fenster und Türen fehlen, auch die Dächer. Es scheint fast, als seien sie in einem Akt der Euphorie hastig wie Skalps entfernt worden.
Radomir Klasnić ist Politikwissenschaftler und sozial engagierter Journalist aus Belgrad.
Niemand lebt mehr in diesen dachlosen Häusern. Die verlassenen Innenhöfe wurden mit rotweißem Absperrband umwickelt, als wären sie der Tatort eines Verbrechens. Die Kriege der neunziger Jahre sind schon lange vorbei, eine neuerliche militärische Auseinandersetzung ist nicht in Sicht. Doch möglicherweise trügt der Schein.
Der multinationale Bergbaukonzern Rio Tinto plant in Gornje Nedeljice den Bau einer unterirdischen Mine für den Abbau von Lithium, die Kosten belaufen sich auf 2,4 Milliarden US-Dollar. Lithium gilt als «weißes Gold» und gemeinhin als Lösung für die Reduzierung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe. Das umstrittene Projekt birgt aufgrund seiner problematischen Fördertechnik das Risiko einer ökologischen Katastrophe. Expert*innen und grüne Aktivist*innen mobilisieren gegen dieses Vorhaben in für serbische Verhältnisse nie dagewesener Weise und rücken somit den Umweltschutz ins Zentrum der korrupten Politik des Landes.
Die Liste der globalen Schandtaten des Konzernriesen ist länger als der Einkaufszettel des Kardashian-Clans – dennoch genießt Rio Tinto die Rückendeckung der serbischen Regierung und zahlreicher Botschaften westlicher Länder. Seit geraumer Zeit kauft Rio Tinto für das Minenprojekt das Land der Bewohner*innen des Jadar-Flusstales auf, der Besitz von Grund und Boden ist in Serbien Voraussetzung für die Erteilung einer Genehmigung zum Abbau von Rohstoffen.
Nachdem diese Praxis in der Öffentlichkeit vermehrt kritisch diskutiert wurde, besserte der Konzern – dessen konsolidierter Umsatz im Jahr 2020 nur 20 Prozent unter dem Gesamtwert der serbischen Wirtschaft lag – die finanziellen Angebote für die serbischen Landwirt*innen einfach nach. Infolgedessen verstärkte sich der Exodus der Anwohner*innen in dramatischer Weise. Die praktisch erzwungenen Verkäufe und das damit einhergehende Verlassen der «angestammten Heimat» erinnern an den Begriff der «humanen Umsiedlung der Bevölkerung». Geprägt wurde dieser unheilvolle euphemistische Neologismus von Franjo Tudjman, dem berüchtigten kroatischen Präsidenten der neunziger Jahre, bevor er schließlich von kriegstreiberischen Politiker*innen des ehemaligen Jugoslawiens in die Tat umgesetzt wurde. Heute sind es «Finanzgeschosse» und «Geldgranaten», abgefeuert von Rio Tinto, die die Häuser kaputt machen und den Widerstand der Bevölkerung brechen.
Während und nach den Kriegen der 1990er Jahre befand sich Serbien noch im Übergang in die globale kapitalistische Ordnung. 2021 sieht es so aus, als ob dieser Krieg immer noch wütet - nur mit anderen Mitteln.
Das Land, dessen nationale Souveränität im sozialistischen Jugoslawien angeblich erstickt wurde, übergibt ebendiese nun völlig offen an einen multinationalen Konzern. Obwohl der Abbau des Minerals Jadarit, aus dem das wertvolle Lithium gewonnen wird, aufgrund einer noch nicht abgeschlossenen Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) noch nicht genehmigt wurde, hat die Regierung Rio Tinto bereits zahlreiche Konzessionen erteilt.
So hat das für den Straßenbau zuständige serbische Staatsunternehmen Rio Tinto etwa dazu aufgefordert, die erforderlichen Dokumente für den Bau von Zufahrtstraßen zur Mine einzureichen, obwohl deren Genehmigung noch aussteht. Auch das Einholen eines Gutachtens zu den Standortanforderungen, die Konzeptentwicklung des Projektes sowie das Erteilen einer Baugenehmigung gehören eigentlich in den Aufgabenbereich des Staatsunternehmens – Rio Tinto jedoch darf dies samt und sonders selbst ausarbeiten.
Dem Konzern wurde ebenfalls bereits die Befugnis erteilt, die Bahntrasse zwischen Valjevo und Loznice umzuleiten – diese führte ursprünglich über das Jadarit-Vorkommen, das Rio Tinto ausbeuten will.
Nach dem Willen des serbischen Präsidenten Vučić soll ein Referendum all diese Probleme lösen. Jedoch haben sowohl erst kürzlich vollzogene Änderungen am Referendumsgesetz als auch des Enteignungsgesetzes zu allgemeinen Protesten innerhalb der Zivilbevölkerung geführt. Letzteres sieht vor, dass das Eigentum von Bürger*innen mittels eines Notverfahrens nach einer fünftägigen Frist beschlagnahmt werden kann, wenn der Staat dieses als von öffentlichem Interesse erachtet.
Die Proteste führten zu blockierten Straßen in Belgrad und anderen Städten des Landes. Hierbei kam es nicht nur zur Auseinandersetzungen mit der Polizei, sondern auch zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen protestierenden Bürger*innen und Fußball-Hooligans, die von der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) kontrolliert werden. In Šabac attackierten diese die Protestierenden mit Baseballschlägern, Hämmern und sogar einem Bagger. All diese Geschehnisse fungierten im gesamten Land als eine Art Weckruf.
Die Regierung wiederum proklamiert das «Jadar-Projekt» als «Vorhaben von nationalem Interesse», da der Abbau des weltweit begehrten Minerals Serbien angeblich zu Wohlstand verhelfe. Zahlreiche Bürger*innen sehen in der Realisierung dieses Projekts jedoch einen offensichtlichen Verrat an ebenjenen nationalen Interessen des Landes. Präsident Aleksandar Vučić hat das Wort «Verräter» jahrzehntelang missbraucht, um seine politischen Gegner*innen zu Fall zu bringen – nun könnte es wie ein Bumerang zu ihm zurückkommen.
Außerdem: Wie kann eine potenzielle Umweltkatastrophe, die nicht nur strategisch wichtige Wasserquellen bedroht, sondern auch die lokale Landwirtschaft und Tierwelt zerstört und möglicherweise zur Entvölkerung der gesamten Region führt, von «nationalem Interesse» sein? Wie kann das Aufgeben der eigenen Souveränität zugunsten eines von den USA, dem Vereinigten Königreich, Australien und Deutschland unterstützten Unternehmens – berüchtigt und gefürchtet überall dort, wo es bereits Bohrungen durchgeführt hat – als Schutz der nationalen Interessen gewertet werden? In welchem Land stellt die Umwandlung von «angestammtem Land» in ökologisches Ödland, in eine Rohstoffkolonie zur Gewinnung wertvoller Mineralien (von der die serbischen Steuerzahler*innen am wenigsten profitieren werden) einen Akt des Patriotismus dar?
Es ist kein Zufall, dass die SNS Ende Oktober die Hooligans der Region dazu anhielt, den Gornje Nedeljice-Besuch der EU-Politikerin Viola von Cramon [MdEP, die Grünen/EFA, Berichterstatterin des EP für Kosovo und Schattenberichterstatterin für Serbien, Anm. d. Red.] zu stören. Von Cramon wurde mittels Sprechchören als Lobbyistin der kosovarischen Unabhängigkeitsbestrebungen bezeichnet. Auch eine weitere deutsche Politikerin stattete dem Dorf gemeinsam mit einem neu formierten serbischen Bündnis aus Linken und Grünen einen Besuch ab. Dieses Bündnis vereint die die Bewegungen «Ökologischer Aufstand» und «Ne Davimo Beograd» (bekannt für ihren Widerstand gegen ein Immobilienprojekt im Dubai Style in der serbischen Hauptstadt) sowie eine neugegründete grüne politische Plattform namens «Action». Letztere wird angeführt von Nebosja Zelenovic, dem ehemaligen Bürgermeister der westserbischen Stadt Šabac.
Das Bündnis wird von den europäischen Grünen unterstützt und erfährt in Serbien immer mehr Rückhalt. Die SNS versucht daher, dessen Mitglieder*innen als «Verräter*innen» zu diskreditieren – unter anderem missbraucht sie hierfür Viola von Cramons politische Positionen bezüglich des Kosovo. Mit Sicherheit ebenfalls kein Zufall ist die Kritik an der «grünen Opposition» von Seiten der Bergbauministerin Zorana Mihajlović, die mitunter wie eine Sprecherin von Rio Tinto auftritt. Auch sie setzt hierbei auf einen Appell an den Patriotismus der Serb*innen und den angeblichen Verrat des Kosovo – oftmals schreckt sie auch vor dem Gebrauch äußerst fragwürdigen Vokabulars nicht zurück. Die SNS-Kampagne versucht also, jene Aktivist*innen in der Öffentlichkeit als Verräter*innen zu diskreditieren, die sich für saubere Luft und saubere Böden sowie das Überleben der Menschen in Westserbien einsetzen. Die Staatselite wiederum stellt sich selbst als die Beschützer*in des Volkes dar, die mit dem Lithium-Abbau lediglich den Wohlstand derer im Sinn hat.
Ist das Jadar-Tal also – anstelle des mythologisierten Kosovo – im Sinne der berühmten nationalistischen Redewendung zum neuen «Herzen Serbiens» geworden? Ist dies der Konflikt, im Zuge dessen die Opposition die eiserne «Stabilokratie» des von der EU gesalbten Aleksandar Vučić zu Fall bringen kann?
«Mit Rio Tinto kommt auch die Beschlagnahmung von Land. Wir werden nicht mehr in der Lage sein, unsere Herde zu füttern», sagt Predrag Đurić. Der 50-jährige Landwirt und Vater dreier Kinder lebt in dem Dorf Korenita, etwa zwei Kilometer entfernt von dem geplanten Mineneingang. Đurić besitzt 10 Hektar Land in genau jenem Gebiet, das Rio Tinto zu einer Mülldeponie umfunktionieren möchte.
«Einige Leute haben ihr Land bereits verkauft. Viele andere wollen jedoch nicht verkaufen, das wird eine harte Nuss für Rio Tinto. Falls nötig werden wir unser Land mit unserem Leben verteidigen. Es ist schon vielen zuvor nicht gelungen, die Drina zu überqueren», verweist er auf die vielen Schlachten, die in Serbiens Geschichte bereits geschlagen wurden.
Die Realität des Randes
Nach dem Sturz des Regimes von Slobodan Milošević im Jahre 2000 öffnete sich Serbien eilends der «freien Welt» und sprang kopfüber in den Strudel der Weltwirtschaft. Doch die Versprechungen von Fortschritt und Wohlstand sollten sich nicht erfüllen. Für kleine Länder, die lediglich an der Peripherie des kapitalistischen Systems existieren, bedeutet das Mantra des freien Marktes zweierlei: einen totalen Ausverkauf und eine legalisierte Ausbeutung – all dies mit Unterstützung der herrschenden Eliten.
Das damalige von den Parteien der DOS (Demokratische Opposition Serbiens) geführte Regime verscherbelte die meisten der staatlichen Unternehmen zu einem Spottpreis. Hunderttausende Bürger*innen verloren ihre Arbeitsplätze. Die natürlichen Ressourcen des Landes wurden somit zum letzten verbliebenen Gut der Politik. Danach begann der in Serbien seit zehn Jahren unangefochten regierende Aleksandar Vučić mit der Zerstörung der letzten verbliebenen unabhängigen Institutionen. Die Medien befinden sich mittlerweile fest im Griff des Vučić-Regimes, dessen Aufbau mit seinem klientelistischen Netzwerk aus 700.000 Mitglieder*innen eher an mafiöse Strukturen erinnert. Obwohl er damals mit dem Versprechen antrat, die Korruption und die arbeiter*innenfeindliche Politik der Vorgängerregierung zu bekämpfen, wurde schnell deutlich, dass Vučić ein nochmals ungleich größerer Unterstützer des Großkapitals ist. Dies trifft nicht nur im ideologischen Sinne zu, sondern schlägt sich auch in seiner effizienten antidemokratischen Politik nieder. Sein Autoritarismus und seine Verachtung für jegliche Art demokratischer Prozesse öffnen die Türen für Hinterzimmerdeals mit ausländischen Investor*innen und das Durchsetzen von Lobbyinteressen. So werden etwa Gesetzgebungsverfahren oftmals im Schnelldurchlauf durchgeführt.
Rio Tinto führt in Serbien bereits seit dem Jahr 2004 Probebohrungen durch. Jedoch wurde erst lange nach der Machtübernahme der Regierung Vučić im Jahr 2017 eine Absichtserklärung mit dem Konzern unterzeichnet. Daraufhin wurde eine Arbeitsgruppe für die Umsetzung des «Jadar-Projektes» eingesetzt, der viele einflussreiche Personen angehören – Repräsentant*innen des Konzerns, der Regierung und vieler Staatsunternehmen ebenso wie etwa Mike Shiraev, zweiter Sekretär der australischen Botschaft in Serbien oder Stephen Ndegwa, Vorsitzender der dortigen Niederlassung der Weltbank. In den letzten Monaten gelangten zahlreiche mit dem Projekt in Zusammenhang stehende Dokumente an die Öffentlichkeit und konnten einige Tatsachen verdeutlichen: Zum einen wird die Umsetzung des Projektes von Botschaften westlicher Länder forciert und die Regierung somit unter Druck gesetzt, zum anderen scheint die dafür benötigte Umweltverträglichkeitsstudie lediglich eine reine Formalität darzustellen, genau wie die erzwungene Ankündigung Vučićs, dass die Öffentlichkeit mittels eines Referendums über das Projekt entscheiden wird.
Vučić jedoch überlässt nichts dem Zufall. Ende November wurden im oppositionslosen Parlament in einem Dringlichkeitsverfahren Änderungen am Referendumsgesetz verabschiedet. Expert*innen gehen davon aus, dass die Änderungen staatliche Manipulationen an diesen Abstimmungen wesentlich erleichtern werden. Ebenfalls geändert wurde das Enteignungsgesetz. Zukünftig sollte es der Regierung erlaubt sein, das Eigentum der Bürger*innen mithilfe eines Notfallverfahrens zu konfiszieren, um Projekte von angeblicher nationaler Bedeutung umzusetzen – wie etwa die Investitionsvorhaben von Konzernen wie Rio Tinto.
Nachdem die Bevölkerung hiergegen jedoch an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden unter anderem mit Straßenblockaden demonstrierte, machte Vučić einen Rückzieher. Die Gesetzesänderungen wurden zurückgezogen oder abgeändert, wie von den Expert*innen der Protestbewegung gefordert. Es war einer der seltenen Momente, in denen der serbische Präsident als Reaktion auf den Druck der Bevölkerung offen nachgab und damit ungewollt ein Fehlverhalten zugab. Aber sowohl er als auch die Umweltaktivist*innen sind sich bewusst, dass dies nur eine erste Schlacht in einem langen Krieg war, der noch bevorsteht.
Der Westen will immer nur das Beste
Auch in den Ländern seiner Aktionär*innen erfährt Rio Tinto große politische Unterstützung. So setzt sich das Vereinigte Königreich bereits seit langer Zeit für das Projekt ein, während der US-Sonderbeauftragte für den Balkan, Matthew Palmer, der serbischen Opposition zu verstehen gegeben hat, die Regierung in dieser Frage nicht zu bekämpfen. Mit Bechtel arbeitet zudem bereits eine der größten US-amerikanischen Baufirmen an dem Projekt. Das Unternehmen ist dafür bekannt, dort zu bauen, wo die US-Armee zuvor verbrannte Erde hinterlassen hat. Und auch Deutschland ist mittlerweile auf den Lithium-Zug aufgesprungen.
«Wenn die ganze Welt daran Interesse hat, sind wir auch daran interessiert. Das ist ganz klar. Serbien ist hier wirklich im Besitz etwas sehr Wertvollen…Hierbei geht es nicht nur um deutsche Interessen, es handelt sich um ein Thema, das alle EU-Staaten angeht. Der Umweltschutz ist schließlich in ganz Europa ein wichtiges Thema», gab die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel im Zuge ihrer Balkan-Abschiedsreise nach einem Treffen mit Präsident Vučić im September zu Protokoll.
In der Tat ist Serbien mit den Lithium-Vorkommen im Besitz einer sehr wertvollen Ressource. Aber auch Deutschland verfügt im Oberen Rheintal über eine der größten Lithiumablagerungen der Welt. Zudem wäre der Abbau von Lithium aus Thermalwasserquellen weniger umweltbelastend als dessen Ausbeutung und Veredelung in Serbien. Ob es in Deutschland überhaupt jemals zu einem Abbau kommen wird, ist laut Expert*innen jedoch äußerst fraglich – im Gegensatz zu Serbien hat die lokale Bevölkerung hierbei zumindest ein gewisses Mitspracherecht.
Das Interesse Deutschlands kommt hierbei nicht von ungefähr. Aus einem von dem Enthüllungsportal BIRN veröffentlichten Dokument, das von der EU-Mission in Serbien an das serbische Außenministerium verschickt wurde, geht hervor, dass Rio Tinto bereits Kontakte zu den deutschen Autoherstellern Daimler, VW und BMW aufgenommen hat.
Bislang ist die EU zur Deckung ihres Lithiumbedarfs fast vollständig von Importen abhängig. Dies soll sich zukünftig – nicht zuletzt aufgrund wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen – mithilfe eines ambitionierten Plans ändern. Die EU-Kommission rechnet bis zum Jahr 2030 mit einer Steigerung der Lithium-Nachfrage um das Achtzehnfache. Deren Vizepräsident Maroš Šefčovič ließ im März verlauten, dass es Europas Ziel sei, bis zum Jahr 2025 hinter China zum weltweit zweitgrößten Produzenten von Lithium-Ionen-Akkus zu werden.
In einem weiteren geleakten Dokument der Generaldirektion für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU befürwortet die EU die Investition Rio Tintos ausdrücklich. Die Umweltverträglichkeitsstudie soll demnach im ersten Quartal 2022 genehmigt werden. Das Dokument bestätigt außerdem Gespräche zwischen der EU-Kommission und der serbischen Regierung über eine strategische Partnerschaft bezüglich der Produktion von Rohstoffen und Batterien. Diese sei demnach an die serbische Beteiligung am EU-Beitrittsprozess und damit an die Möglichkeit der Integration in europäische Produktionsketten geknüpft.
Die Rio Tinto-Managerin Marnie Finlayson gab kürzlich zu Protokoll, dass das «Jadar-Projekt» das Potential besäße, jährlich 58.000 Tonnen Lithiumkarbonat für die Herstellung der Batterien zu produzieren. Somit wären die dortigen Minen innerhalb der nächsten 15 Jahren die größte Lithiumquelle Europas. Bekanntgegeben wurde dies im Rahmen der Unterzeichnung eines Kooperationsvertrages mit dem europäischen Batterienhersteller «Inobat». Das Unternehmen betreibt ein Forschungs- und Entwicklungszentrum sowie eine Pilotanlage in der Slowakei. In Planung sind zudem der Bau mehrerer Batteriefabriken, unter anderem in Serbien.
Doch woher rührt das hartnäckige Beharren der EU auf Serbien als Rohstofflager der europäischen Produktionsindustrie? Zwar wird immer wieder behauptet, Serbien besäße die größten Lithiumreserven – richtig ist dies jedoch nicht. Noch größere Reserven finden sich in Deutschland und Tschechien, weitere bedeutende Vorkommen wurden in Frankreich, Finnland, Österreich, Spanien und Portugal entdeckt. Zudem wurde Lithium noch nie erfolgreich aus dem Mineral Jadarit gewonnen und eine Technologie, mithilfe jener dies möglich wäre, ist ebenfalls noch nicht bekannt.
Der wahre Grund ist – wie immer – das Auslagern umweltschädlicher Produktionsstätten in die europäische Peripherie, den Rand. Die Politiker*innen hoffen hierbei auf eine Profitmaximierung bei gleichzeitig minimalen ökologischen Auswirkungen in ihren Heimatländern – dies könnte schließlich Stimmen kosten. Der Traum der liberalen serbischen Eliten, Teil der «zivilisierten westlichen Welt» zu werden, wirkt schon seit geraumer Zeit eher wie ein fiebriger Albtraum. Aus diesem rastlosen Delirium erwächst langsam die Erkenntnis, dass Serbien zwar sehr wohl ein Teil der restlichen Welt ist. Der vorgesehene Platz des ehemaligen jugoslawischen Teilstaates ist jedoch nicht im Speisesaal, sondern vielmehr an einem Stehtisch im Gang, wo lediglich die Reste serviert werden. Das Gerede über «europäische Werte» ist hierbei schlicht als Lockmittel für die selbstgefälligen Intellektuellen der Länder der europäischen Peripherie gedacht, um ihnen die Kolonialisierungsversuche des Großkapitals schmackhaft zu machen.
«Deutsche Unternehmen sind in Serbien zunehmend aktiv, seit dem Jahr 2000 wurden über 3,5 Milliarden Euro investiert. Zehntausende Arbeitsplätze wurden auf diese Weise geschaffen. Besonders in der Autoindustrie wird Serbien immer attraktiver für ausländische Investor*innen. Der Schlüssel für den Fortschritt der serbischen Wirtschaft wurde im Weißbuch des Rates der ausländischen Investor*innen bestätigt», erklärte erst kürzlich der deutsche Botschafter Thomas Schieb nach dem gemeinsamen Besuch der Eröffnung einer Fabrik für Abgassysteme für die Automobilindustrie mit Präsident Vučić. Hierbei handelte es sich um das deutsche Unternehmen «BAS Boysen Abgassysteme», das der Botschafter als Symbol der «exzellenten wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder» bezeichnete.
Mit der Unterstützung des Lithiumabbaus stärkt die EU mit der Vučić-Regierung wissentlich ein Regime, das sich mit Wahlen an der Macht hält, die eher einer Farce als einem demokratischen Prozess gleichen. Selbst die europäischen Diplomat*innen in Serbien wissen genau, dass diese Wahlen letztlich nichts anderes als eine Zurschaustellung des Autoritarismus des serbischen Präsidenten darstellen. Somit hat sich die EU an zwei der unbeliebtesten und ungerechtesten Projekte des Landes gebunden. Während der ehemalige Informationsminister der Milosevic-Regierung derzeit als Präsident die zerbrechlichen demokratischen Strukturen in einem Land zerstört, das sich noch immer von den Kriegen der neunziger Jahre erholt, kann das Rio-Tinto-Projekt dieses Land, in dem es außer Land und Wasser kaum noch etwas gibt, für immer verwüsten.
Was kommt und wer profitiert davon?
Im westserbischen Jadar-Tal, wo der Jadarit-Abbau stattfinden soll, leben mehr als 4.000 Menschen. Die Ufer des Jadar bilden ein unterirdisches Wasserbecken, das für die Wasserversorgung der weiteren Umgebung von großer Bedeutung ist. Mehr als 140 geschützte Pflanzen und Tierarten sind dort beheimatet, 50 Orte mit kulturhistorischem Erbe liegen im Tal.
Serbische Expert*innen – insofern sie nicht auf der Gehaltsliste Rio Tintos stehen – stehen dem Projekt des Unternehmens deshalb äußerst kritisch gegenüber. Der Bergbaugigant wiederum hat schon lange zuvor damit begonnen, Expert*innen diverser Fakultäten serbischer Universitäten einzustellen, so etwa der Fakultäten für Bergbau und Geologie, Maschinenbau oder dem Bauingenieurswesen.
Der amtierende Dekan der forstwirtschaftlichen Fakultät der Universität Belgrad, Ratko Ristić, bestätigt die «äußerst invasiven Auswirkungen» der Mine. Diese würden auf über 1.290 Hektar Land spürbar werden. So sollen 203 Hektar Wald sowie 316 Hektar an landwirtschaftlichen Nutzflächen komplett umgewandelt werden, mit katastrophalen Auswirkungen für die gesamte Region, deren Haupteinnahmequelle immer noch die Landwirtschaft ist. Auch würden durch die Bergbau- und Veredelungsaktivitäten des «grünen Projekts» etwa 7.000 Tonnen organischer Kohlenstoff freigesetzt. Zudem würde ein beträchtlicher Teil des Landes mit Mülldeponien überzogen, um große Mengen an Arsen, Nickel, Kadmium und Blei entsorgen zu können.
Auch Zvezdan Kalmar vom Zentrum für Ökologie und nachhaltige Entwicklung (CEKOR) warnt eindringlich vor den Auswirkungen der Mine. So sieht das Projekt den monatlichen Verbrauch von über 110 Tonnen Sprengstoff sowie riesiger Wassermengen (20.000 Kubikmeter pro Tag) und Schwefelsäure (300.000 Tonnen pro Jahr) vor. Jeden Tag würden außerdem 25.000 Kubikmeter Abwasser in den Jadar oder die Drina geleitet.
Rio Tinto bestreitet jegliche ernsthaften Gefahren für die Umwelt, jedoch wurde bis zum heutigen Tag noch keine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt. Eine vom Bauministerium im Auftrag des Unternehmens durchgeführte erste Studie zur Änderung des Raumordnungsplans in Loznica beinhaltet allerdings bereits ernsthafte Warnsignale. So warnt die Studie unter anderem vor einem Rückgang der Wasserqualität, der «Verschlechterung des natürlichen Lebensraumes», Auswirkungen auf Migrationsrouten, einer «Fragmentierung der Bevölkerung», einer Anhäufung von verschiedenen Arten von Abfällen sowie vor chemischen Veränderungen der Böden, die zu deren völliger Unfruchtbarkeit führen könnten.
Die für die Erzveredelung genutzte Technologie wurde noch nicht bekanntgegeben. Dies ist jedoch kein Wunder – die Gewinnung von Lithium aus dem Mineral «Jadarit» wurde noch nie erfolgreich durchgeführt. Zu allem Überfluss würde man dieses Vorhaben ausgerechnet Rio Tinto anvertrauen, einem Unternehmen, das keinerlei Erfahrung im Lithiumabbau vorzuweisen hat und dessen allgemeiner Ruf so katastrophal ist, dass eine durchschnittlich verantwortungsbewusste Person es höchstens mit dem Hüten einer Schafherde beauftragen würde – und selbst dies nur schweren Herzens.
Erste Abbauversuche haben bei einigen Bürger*innen bereits Schäden verursacht. So erhielten fünf Anwohner*innen aus der Gegend um Loznica Kompensationszahlungen von Rio Tinto, nachdem ihre Felder im Zuge von Erkundungsarbeiten mit unterirdischem Wasser kontaminiert wurden. Ein Laborbericht bescheinigte dem ausgetretenen Wasser eine erhöhte Konzentration an Bor, Natrium und anderen chemischen Elementen. Das Unternehmen bestätigte zwar den Wasseraustritt, behauptete aber, es habe sich nur um eine «kleine Anzahl» von Maschinen gehandelt. Die Anwohner*innen erhielten Reparationszahlungen im Wert von 2.000 Euro pro Person.
Es stellt sich die Frage, inwiefern Serbien letztlich davon profitiert, ein weiteres ausländisches Unternehmen seine natürlichen Ressourcen ausbeuten zu lassen – die Bürger*innen hätten jedenfalls nichts davon. Schätzungen zufolgewird Rio Tinto in den ersten zehn Jahren des Lithiumabbaus 4 Milliarden Euro verdienen. Der serbische Staat hingegen erhält davon lediglich 300 Millionen Euro. Gegner*innen des Projekts weisen darauf hin, dass allein die in dieser Region ansässige landwirtschaftliche Produktion mithilfe geringer Investitionen jährlich etwa 80 Millionen Euro in die Kassen des Landes spülen könnte.
Auf der anderen Seite existieren bereits erste Warnungen, dass die Zukunft der Lithiumbatterien möglicherweise gar nicht so rosig aussieht wie angenommen. Auf der ganzen Welt wird beim Antrieb von Elektroautos mittlerweile vermehrt auf Natrium-Ionen-Akkus und Graphen-Akkus gesetzt. Laut einiger Expert*innen erbringen erstgenannte eine ähnliche Leistung, dies jedoch bei geringeren Produktionskosten. Mit CATL (u.a. Lieferant für Elon Musk`s Tesla) hat bereits der weltweit größte Hersteller von Batterien für Elektroautos angekündigt, ab dem Jahr 2023 in der Massenproduktion auf die Natrium-Ionen-Batterien zu setzen.
Vor den für April 2022 angesetzten Wahlen ist von Vučić allerdings keine Entscheidung zu erwarten – trotz des Drucks hochrangiger Diplomat*innen und mächtiger Unternehmen. Und so wird die Umweltfrage in diesem Land, in dem sich die Oppositionsparteien gegenseitig an die Gurgel gehen und die Bürger*innen allen Politiker*innen misstrauen, nicht nur zu einem einenden überideologischen Element, sondern auch zu einem supranationalen Faktor. Rio Tinto mutierte zum berüchtigten Feindbild aus der Unternehmens- und Finanzwelt. Die Proteste gegen den Konzern mobilisieren mittlerweile derart viele Menschen, dass sie im Stande sind, selbst das eiserne Regime der Serbischen Fortschrittspartei zu gefährden.
Scheiterten Politiker*innen in Serbien in früheren Zeiten an der Lösung der Krise im Kosovo, wird deren Patriotismus heute daran gemessen, ob sie den Lithiumabbau in Westserbien unterstützen. Eine Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes, durchgeführt von einem anglo-australischen Unternehmen, das – neben anderen Verbrechen – in der Zeit des Zweiten Weltkriegs mit Unterstützung von Francisco Franco die Kriegsmaschinerie Hitlers belieferte.
Es scheint, dass Serbien endlich die Chance hat, den Teufelskreis zu durchbrechen, der durch die Nachkriegstransition verursacht wurde, in das Land in Liberale und Nationalisten spaltete. Hinter dieser Spaltung verbirgt sich seit drei Jahrzehnten ein hitziger Klassenkampf, der zu Armut führt, die natürlichen Ressourcen zerstört und die am besten ausgebildeten Menschen zum Verlassen des Landes zwingt. Anders als die Kosovo-Frage hat die ökologische Frage das Potenzial, sich politisch zu emanzipieren. Sie zwingt die Menschen dazu, ihre Prioritäten zu überdenken - und damit werden alle Fragen der nationalen Identität überflüssig.
Sobald Themen wie sauberes Wasser, sauberes Land und saubere Luft auf der Tagesordnung stehen – ebenso wie die gerechte Verteilung der öffentlichen Ressourcen, die allen Bürger*innen Serbiens gehören und nicht nur der sich mehr oder weniger geschickt einschmeichelnden politischen Oligarchie – ist auch die Klassenfrage nicht weit entfernt. Damit einher gehen auch Themen wie menschenwürdige Arbeit, gewerkschaftliche Organisation und der Schutz der nationalen Interessen vor den Angriffen der Machtvollen.
Der Umweltschutz ist der fehlende Stein im Mosaik der großflächigen Veränderungen. Dies lässt sich am besten an der aggressiven Reaktion der Serbischen Fortschrittspartei auf die Umweltaktivist*innen ablesen – wenn eine Person in der Lage ist, politische Gefahren zu erkennen, dann ist es sicherlich Aleksandar Vučić, der von Meinungsumfragen geradezu besessen scheint. Ebenfalls auf dem Sterbebett liegt die Dichotomie «gelbe Diebe-radikale Schar» (žuti lopovi-radikalska stoka), wie sich an den schamlosen monatelangen (von der Volkspartei angeführten) Angriffen der «alten Opposition» auf Aleksandar Jovanović Ćuta, Gesicht des «ökologischen Aufstandes», erkennen lässt.
Aus Angst um ihre Monopolstellung innerhalb der serbischen Opposition fahren die Überreste der Demokratischen Partei (DS) beinahe in «Vučic-Manier» ohne jegliche Scham Attacke um Attacke auf die aufkommende dritte Wahloption. Diese setzt sich aus einer Koalition aus Ćutas «ökologischem Aufstand», der Bewegung «Ne Davimo Beograd» und der Partei Nebojša Zelenovićs zusammen, dem einzigen DS-Überbleibsel, dem die Wähler*innen noch ein gewisses Maß an Respekt entgegenbringen. Nachdem es den halbtoten Überresten des ehemaligen Regimes der Demokratischen Opposition Serbiens in den zehn Jahren nach Vučićs Wahl nicht gelungen ist, sich neu zu formieren, ergibt sich für die Bürger*innen nun scheinbar erstmals eine ernstzunehmende demokratische Alternative.
In diesem Sinne sollten es sich die deutschen Grünen gründlich überlegen, wen sie das nächste Mal zur Unterstützung dieses sogenannten grün-linken Bündnisses aussenden. Sollte das Jadar-Tal wirklich zu einer Art neuem Kosovo werden – und damit zum neuen Herzen Serbiens – sollte Viola von Cramon als lautstarke Befürworterin der Unabhängigkeit des Kosovo das nächste Spiel möglicherweise auf der Auswechselbank verbringen. Ihr Erscheinen wäre jedenfalls eine erneute Steilvorlage für die Propagandamaschinerie des Regimes. Die große Frage ist daher, ob die neue deutsche Regierung der ehemaligen jugoslawischen Republik wohlgesonnen ist. Oder, besser gesagt, wie groß das Verlangen der Deutschen nach dem wunderbaren serbischen Lithium ausfällt.
Übersetzung von Lennart Zipf.