Seit einigen Monaten gibt es einen neuen Schwerpunkt in den Feuilletons der internationalen Presse: «Trump erklären». Was wurde nicht bereits alles geschrieben, welche historischen Analogien bemüht, welche zukünftigen Weltuntergangsszenarien entworfen – sicher konnte Kristoff Kerl nicht ahnen, dass seine Dissertation, mit der er im Sommer 2015 in Köln promoviert wurde, binnen eines Jahres eine geradezu atemberaubende Aktualität erlangen würde. Und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich, weder im Titel noch im Text seines 2017 erschienen Buches auf wohlfeile Parallelen einlässt. Nein, Kristoff Kerl hat eine dezidiert historische Arbeit geschrieben, genauer gesagt eine kulturwissenschaftlich inspirierte Diskursanalyse, immer auf der Höhe der Feinheiten einer Rassismus- und Geschlechtssensiblen Sprache. Und im Zentrum seiner Überlegungen steht ein höchst konkreter historischer Kriminalfall, der bis heute unter Historikern als die «vielleicht entsetzlichste Manifestation von Antisemitismus in der US-amerikanischen Geschichte» gilt:
Im Sommer 1915 wurde der jüdische Fabrikleiter Leo Frank aus einem Gefängnis entführt und gelyncht. Er war in einem spektakulären Prozess zunächst zum Tode verurteilt, dann zu lebenslanger Haft begnadigt worden, weil man ihn für schuldig am Tod einer jungen angloamerikanischen Fabrikarbeiterin befunden hatte. Der entscheidende Zeuge der Anklage war ein zunächst ebenfalls unter Verdacht stehender afroamerikanischer Kollege der Ermordeten. Der Fall aus Atlanta erregte überregional Aufmerksamkeit, die durch eine sensationslüsterne Presse zusätzlich angeheizt wurde. Die Details des Verfahrens und die Kämpfe der Gegner und Verteidiger von Leo Frank sind Gegenstand zahlreicher zeitgenössischer, historischer wie kultureller Deutungsversuche gewesen, so dass es sich der Autor leisten kann, den Fall selbst auf gerade einmal sechs Seiten knapp zu schildern – vielleicht etwas zu knapp, doch dazu später.
Stattdessen geht es Kristoff Kerl um die Funktion des Falles als Kristallisationspunkt in der Geschichte der US-amerikanischen Judenfeindschaft, und zwar sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht: Hier, in der diskursiven Produktion, die sich um den Fall des unglücklichen Fabrikleiters rankte, ist der historische Moment festzumachen, in dem sich die verschiedenen, frei flottierenden Elemente antisemitischen Wissens zu einer kohärenten Weltanschauung verdichteten, um in der Folge, befördert durch die spezifische Berichterstattung in den Medien, eine ungeheure Wirkungsmacht auf dem ganzen Kontinent zu entfalten. Um diese seine Kernthese zu begründen, ist der Autor tief in die, wie er es nennt, Genealogie der Judenfeindschaft in den Vereinigten Staaten eingedrungen und hat sich durch eine wahrlich beeindruckende Menge gedruckten Rassismus und Antisemitismus gearbeitet. Auf diese Weise gelingt es ihm, in einem einführenden Kapitel jene zentralen Diskursstränge herauszuarbeiten, die sich dann, während des öffentlichen Dramas um «Leo Frank», so folgenschwer verknüpfen sollten. Diese werden in den drei folgenden Abschnitten ausführlich analysiert und eingeordnet, und zwar sowohl in ihrer Verbindung zur sozioökonomischen Entwicklung in den Südstaaten als auch vor dem Hintergrund der jeweiligen historiographischen Debatten zum Thema.
Ein solch anspruchsvoller Aufbau hat deutliche Vorteile: Zum einen wird die streng diskursanalytische Untersuchung unterfüttert mit historischem Basiswissen zur Geschichte der Südstaaten, was auch NichtexpertInnen erlaubt, die Argumentation des Autors nachzuvollziehen. Und die Diskussion des Forschungstandes zu spezifischen Einzelfragen im Umfeld des Falles Leo Frank ermöglicht der Leserin, den originären Beitrag der Interpretation Kerls einzuordnen. Allerdings birgt diese kluge Gliederung in beiden Punkten auch die Gefahr einer gewissen Redundanz, denn gerade weil die einzelnen Themenfelder so eng verknüpft sind, wiederholen sich manche Feststellungen geradezu zwangsläufig.
Konkret geht es um die Vorstellung des «Juden» als Aggressors gegen eine als bedroht empfundene, anglo-amerikanische bzw. Südstaaten-Männlichkeit, die sich vor allem auf drei Feldern manifestierte: So wurden «Juden» nach und nach in eins gesetzt mit der Figur des Carpetbeggars, also des aus dem Norden stammenden Ausbeuters, sie wurden verantwortlich gemacht für den Niedergang der Yeomen, der freien, patriarchal agierenden Landbesitzer, die zugleich als Fundament der republikanischen Demokratie galten, und sie waren schließlich die Instigatoren der Korruption geordneter Geschlechterverhältnisse durch die Einführung weiblicher Lohnarbeit und der Verwischung der «Rasse»-Grenzen. Kurzum, «Juden» waren an all jenen Phänomenen schuld, die die Geschichte der Südstaaten in den Jahrzehnten der Reconstruction und der Entstehung des New South kennzeichneten, am Niedergang der alten Ordnung durch eine rapide Industrialisierung und Urbanisierung, mit ihren bekannten sozialen und kulturellen Verwerfungen.
All dies jedoch ist uns aus Europa auf unheimliche Art vertraut, so dass das eigentlich Faszinierende an dem von Kristoff Kerl ausgebreiteten Material gerade in der scheinbaren Natürlichkeit liegt, mit der sich die antisemitischen Vorstellungen an die Spezifik der Südstaaten anschmiegen und – auch hier – eine unglaubliche Überzeugungskraft entwickeln. Dies ist der Punkt, an dem die Rolle der Sexualisierung von Rassismus bzw. Antisemitismus ins Spiel kommt, die in Europa und in den USA in dieser Form tatsächlich eine neue Komponente des antijüdischen Denkens bzw. Fühlens ist und die Kerl für das Verfahren und die Agitation gegen Leo Frank-Fall überzeugend herausarbeitet. Vielleicht hätte man hier, um die physische Dimension des Hasses noch eindrücklicher zu betonen, doch etwas ausführlicher auf die «Realgeschichte» des Falles eingehen sollen, auf die einleitend kurz erwähnten massenpsychotischen Aspekte des Anti-Frank-Wahns: das Lynchen, aber vor allem die mehrfache Leichenschändung bis hin zum Postmortem-Devotionalienhandel, in denen sich die antisemitische Wut im wahrsten Sinne des Wortes materialisierte.
Ich bin davon überzeugt, dass Arbeiten wie die von Kerl unverzichtbar sind für ein Verständnis der ungeheuren und wohl auch universellen Sprengkraft, die der Konnex von Sex und Rassismus in sich birgt. Man denke nur an die äußerst erfolgreiche Flut pornographisch-antisemitischer Propaganda im Deutschland der 1930er Jahre, aber auch an Beispiele aus jüngster Zeit, in denen sich Sexualität, Rassismus und – auch dies finden wir schon in Atlanta 1913-15 – Vorstellungen von einer fremd- und interessengesteuerten «Lügenpresse» zu einer explosiven Mischung verbinden. Insofern hat Kristoff Kerl ein wichtiges Buch geschrieben: wichtig für die Antisemitismusforschung und die Geschlechtergeschichte, wichtig aber auch für aktuelle Debatten in den USA und in Europa.
Kristoff Kerl: Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er-1920er Jahre, Köln 2017: Böhlau Verlag (374 S., 60 €).
Die Besprechung erschien 2017 im Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften sehepunkte .