Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte Alain Brossat & Sylvia Klingberg: Revolutionary Yiddishland, London/New York 2016.

Einblick in ein revolutionäres Jiddischland, eine mehr als verlorene Welt, die daran scheiterte, ihre Hoffnungen, ihre Utopien, ihre politischen Programme und Strategien zu verwirklichen.

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Autor

Frank Jacob,

Bei einigen Büchern vergehen Jahrzehnte, bis sie ins Englische übersetzt werden, aber es lohnt sich, auf diese Übersetzungen zu warten, denn sie offerieren neue Einsichten in Themen, die auch nach so langer Zeit noch von Wert sind.

Revolutionary Yiddishland von Alain Brossat und Sylvia Klingberg, bereits 1983 in französischer Sprache erschienen (Le yiddishland révolutionnaire), ist ein solches Buch, das nun endlich auch einer breiteren Leser*innenschaft zur Verfügung steht. Es gibt einen Einblick in ein «revolutionäres Jiddischland, eine mehr als verlorene Welt, die eigentlich verleugnet wird», nachdem sie daran «scheiterte, ihre Hoffnungen, ihre Utopien, ihre politischen Programme und Strategien zu verwirklichen» (S. xi). Diese Welt überlebte schließlich auch nur in der Form von Erinnerung, d. h. in erster Linie den Beschreibungen der Menschen, die in diesem «revolutionären Jiddischland» gelebt, die es erlebt hatten. Die Beschreibungen der ehemaligen Revolutionär*innen, die in Brossats und Klingbergs Interviews konserviert wurden, sind besonders wichtig, da sie gleichfalls eine Art Sammlung von Primärzeugnissen bereitstellen. Die militanten Elemente, die sehr stark aus dem Milieu der osteuropäischen Schtetl stammten, kämpften für eine kommunistische Weltordnung, weil sie an die Möglichkeit einer solchen glaubten, bis sie bitter von den harschen Realitäten eines nationalistischen Zionismus enttäuscht wurden und ein Teil des vergessenen Erbes innerhalb der historischen Tradition Israels wurden.

In ihrer Einleitung (S. 1-28) präsentieren die beiden Autor*innen unterschiedliche Formen von Radikalismus, die in Osteuropa am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierten. Was das jüdische Proletariat Osteuropas einzigartig macht, ist die Tatsache, dass es «verschwunden» ist. Allerdings, bevor die Arbeiterklasse des Jiddischlands sowie letzteres selbst im Zuge der historischen Entwicklung ausgelöscht wurden, organisierten sich deren Mitglieder in verschiedenen Organisationsformationen, etwa dem Bund (S. 23-26), der Poale Zion (S. 26-28) sowie den kommunistischen, sozialistischen und später auch trotzkistischen Parteien der Region (S. 4 und 28).

Den Zusammenhang zwischen Radikalismus und Raum sowie die insgesamte Beschaffenheit des revolutionären Jiddischlandes erläutern Brossat und Klingberg im ersten Kapitel (S. 29-54) in Form einer Diskussion der Kindheit späterer polnischer und litauischer Radikaler sowie der «sozialen und kulturellen Umgebung», in der diese aufwuchsen (S. 29). Das zweite Kapitel (S. 55-94) befasst sich mit der Zwischenkriegszeit und den entsprechenden Lebenswirklichkeiten und Problemen, mit denen sich die anfangs vorgestellte Generation junger Revolutionär*innen konfrontiert sahen. Für junge jüdische Radikale war das Eintreten in eine sozialistische oder kommunistische Organisation nicht nur ein Ausdruck ihres Glaubens an eine Utopie, sondern ging für viele von ihnen mit der Möglichkeit, Zugang zu einer besseren Ausbildung und zu intellektuellem Kapital zu erhalten, einher (S. 67). Eine Alternative zur Fortsetzung des Lebens in Osteuropa stellte für sie die Emigration nach Paris oder in die USA (S. 80 f.) dar, wodurch ihre revolutionären Aktivitäten andernorts fortgeführt und das «revolutionäre Jiddischland» transnantionalisiert wurden.

Im Anschluss an die detaillierte Vorstellung der Zwischenkriegszeit und der Determinanten des jüdischen Radikalismus in dieser Zeitperiode, befassen sich die Autor*innen im dritten Kapitel mit dem Spanischen Bürgerkrieg (S. 95-130). Unter den internationalen Freiwilligen, die den Faschismus bekämpften, waren auch viele Juden, die dem Aufruf der kommunistischen Propaganda folgten und Teil der internationalen Brigaden wurden (S. 98). Brossat und Klingberg stellen allerdings auch klar: «Es war Spanien […] das […] der Ausgangspunkt der langsamen Arbeit des Zweifels, des Schwindels und des unterirdischen Hinterfragens [war]» (S. 115). Die jüdischen Freiwilligen, besonders als Teil der Lincoln Brigade (USA) und der Dombrowski Brigade (Polen) sowie der exklusiv jüdischen Botwin Kompanie, die in Spanien formiert worden war, konnten die Welt nicht verändern. Nach dem Krieg verstreuten sie sich wieder. Diejenigen, die immer noch an eine kommunistische Zukunft glaubten, gingen schließlich in die Sowjetunion und wieder andere wurden Teil der jüdischen Emigration nach Palästina (S. 127-130).

Obwohl, wie die Autor*innen unterstreichen, «das Bild des Juden im Angesicht des Nationalsozialismus, das die Geschichte bewahrt hat, nicht das des Widerstandskämpfers, sondern das des Opfers, der langen Konvois nach Auschwitz oder Treblinka, der Gaskammern und Krematorien ist» (S. 131), nahmen viele jüdische Radikale auch in den Jahren nach dem Spanischen Bürgerkrieg am Kampf gegen den Faschismus in Europa teil. Dieser Kampf wird im vierten Kapitel sehr detailliert und eindrücklich geschildert (S. 171-176). Das fünfte Kapitel (S. 177-240) kehrt danach noch einmal zu den Tagen der Russischen Revolution zurück und zeigt, welche Rolle jüdischen Radikalen innerhalb der Geschichte der Sowjetunion zufiel. Dabei wird vor allem auf die Auswirkungen der Revolution und den anschließenden Russischen Bürgerkrieg (1918-1924) eingegangen, welcher eine klare Zäsur für das „traditionelle jüdische Leben“ (S. 184) in Osteuropa bedeutete. Das letzte Kapitel mit dem Titel «Ich bin der Niederlagen müde» (I Am Tired of Defeats, S. 241-282) geht den Spuren der Leben der einstigen jüdischen Revolutionär*innen in Israel nach, wo deren Lebensgeschichten nicht den nationalistischen Ideen des neuen Staates entsprachen und so schnell in Vergessenheit gerieten.

Was vom «revolutionären Jiddischland» bleibt, sind die Geschichten und Erinnerungen, die unter anderem in Brossats und Klingbergs Buch zusammengetragen und wiedergegeben wurden. Es ist dadurch auch eine wichtige Sammlung von Interviews mit Zeitzeug*innen, die heute unwiederbringlich verloren wären, hätten sie nicht Eingang in die Forschung und Publikation der beiden Wissenschaftler*innen gefunden. Das Buch stellt damit einen wertvollen Zugang zum Leben und Wirken von Frauen und Männern zur Verfügung, die selbst alle das «revolutionäre Jiddischland… [und damit eine] archetypische tragische Persönlichkeit unserer Geschichte» (S. 283) darstellen. Darum ist es umso wichtiger, die Erinnerung und das Gedenken an diese Persönlichkeiten am Leben zu erhalten, ihre Geschichten zugänglich und ihr Erbe präsent zu halten. Eine Mission, deren erste Schritte von Revolutionary Yiddishland erfolgreich gegangen wurden, da dessen Autor*innen einen flüchtigen Blick in eine vergessene Welt vorsichtig wiederhergestellt haben. Diese Welt verdient es, erinnert zu werden und das nicht nur für ihr Leid, sondern ebenso für ihre Ideen und Hoffnungen auf eine neue und bessere Welt.
 


Alain Brossat & Sylvia Klingberg: Revolutionary Yiddishland: A History of Jewish Radicalism, transl. by David Fernbach, London/New York 2016: Verso (320 S., £10.99).
 

Die Besprechung erschien erstmals im Januar 2020 in der englischsprachigen Fachzeitschrift Journal for the Study of Radicalism.