Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Türkei Ein neues Bündnis gegen Erdoğan

Bürgerliche Oppositionsparteien bündeln ihre Kräfte

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Zozan Baran,

Mit einem neuen Wahlbündnis wollen türkische Oppositionsparteien Präsident Erdoğan nach 19 Jahren an der Macht ablösen. Welche Rolle kann die Linke dabei spielen? (Plenarsaal der Großen Nationalversammlung der Türkei) Foto: Yıldız Yazıcıoğlu, über Wikimedia Commons

Die ökonomische Misere der Türkei ist nur zu offensichtlich: eine beispiellose Geldentwertung, hohe Inflationsraten und infolgedessen unerträgliche Lebensbedingungen. Doch die schmerzlichen Erfahrungen haben möglicherweise auch ihr Gutes: Die Zustimmung zur AKP, die lange unerschütterlich schien, ist einigen Umfragen zufolge auf einen historischen Tiefpunkt gesunken. Die Oppositionsparteien wiederum scheinen Morgenluft zu wittern. Nachdem sie endlich eine Gelegenheit sehen, die AKP-Regierung abzulösen, drängen vor allem die größte Oppositionspartei CHP, die MHP-Abspaltung İyi Parti («Gute Partei») und die HDP auf vorgezogene Neuwahlen.

Die Chancen stehen gut, dass die Türkei nach zwei Jahrzehnten bald eine neue Regierung bekommt, die zumindest einen Teil der Schäden behebt, die die AKP in Politik, Kultur und Gesellschaft angerichtet hat. Da keine der Oppositionsparteien eine absolute Mehrheit zu erwarten hat, muss sich die Türkei nach zwei Jahrzehnten wohl auf eine weitere Reihe von Koalitionsregierungen einstellen.[1]

Anders als in den 1990er Jahren können Parteien heute jedoch als Block oder Bündnis zur Wahl antreten. Dadurch erhalten Verhandlungen zwischen den Oppositionsparteien noch größere Bedeutung. Wenn das Bündnis als Ganzes mindestens zehn Prozent der Wahlstimmen erhält, ziehen alle beteiligten Parteien ins Parlament ein. Bei den letzten Parlamentswahlen 2018 und den Kommunalwahlen 2019 schlossen sich vier Oppositionsparteien [2] zu einem solchen Wahlbündnis, dem Bündnis der Nation (Millet Ittifakı), zusammen. Dadurch konnten sich CHP-Kandidat*innen in zwei der größten Städte, Istanbul und Ankara, gegen die AKP durchsetzen.

Zozan Baran ist Aktivistin und unabhängige Wissenschaftlerin, sie kommt aus der Türkei und ist kurdischer Abstammung. Sie erlangte ihren BA in Politikwissenschaften an der Boğaziçi-Universität und ihren MA in Soziologie an der Freien Universität Berlin. Sie lebt zurzeit in Berlin und arbeitet mit einem vergleichenden Ansatz über politische Regime und Bewegungen.

Dieses Bündnis wird bei der nächsten Wahl wahrscheinlich in erweiterter Form neu aufgelegt, um der AKP-MHP-Koalition den letzten Stoß zu versetzen. Seit den letzten Wahlen haben sich zwei weitere Bündniskandidaten formiert: zum einen die Zukunftspartei (Gelecek Partisi) von Ahmet Davutoğlu, Erdoğans Chefberater in dessen Zeit als Ministerpräsident (2003-2009), danach Außenminister (2009-2014) und schließlich Ministerpräsident der kurzlebigen 62. Regierung (2014-2016); zum anderen die Partei für Demokratie und Fortschritt (DEVA Partisi), gegründet und angeführt von einer weiteren ehemaligen AKP-Größe, Ali Babacan, zunächst Staatsminister für Wirtschaft (2002-2007), dann Außenminister (2007-2009) und schließlich stellvertretender Ministerpräsident und Staatsminister für Wirtschaft, Bankenwesen und Finanzen. Diese beiden Parteien werden dem Bündnis der Nation bei den nächsten Wahlen wohl beitreten, auch wenn Babacan Gerüchten zufolge zögert, weil er befürchtet, dass sich dadurch die AKP-MHP-Wählerschaft wieder konsolidieren könnte.

Es fragt sich natürlich, wie zwei AKP-Abspaltungen nun eine Schlüsselrolle in der Opposition spielen können; und noch mehr fragt sich, wie diese Parteien sich mit dem politischen Hauptgegner der AKP, der CHP, verständigen wollen. Im Folgenden möchte ich zeigen, durch welche Ambivalenzen das Bündnis der Nation geprägt ist. Da die İyi Parti (und möglicherweise auch andere Mitglieder des Bündnisses) die Aufnahme der HDP ablehnt, wird diese – zumindest offiziell – wahrscheinlich nicht beitreten. Daher beschränkt sich diese Analyse auf die Bündnisparteien, die ein Spektrum von Mitte-Links (CHP) über Mitte-Rechts bis zu rechten Parteien abdecken. Mit diesem Fokus auf die Koalitionspartner einer möglicherweise demnächst gewählten neuen Regierung ergeben sich auch Ausblicke auf eine türkische Politik nach der AKP und Erdoğan.

Nach meiner Überzeugung eint die Parteien des Bündnisses trotz aller Differenzen der gemeinsame Wunsch nach einer Ablösung Erdoğans. In diesen Wunsch lässt sich selbstverständlich leicht einstimmen. Allerdings drängt sich nicht nur die Frage auf, ob Erdoğan geschlagen werden kann, sondern auch die, was danach kommt. Und natürlich interessiert auch, welche Strategie die Opposition in diesem Wahlkampf überhaupt verfolgt. An der Stelle treten bereits die ersten Ambivalenzen zutage: Alle vier Parteien schieben die Schuld ausschließlich Erdoğan zu, wollen aber interessanterweise nicht über die sozioökonomische, politische Grundlage seiner Macht sprechen – was wiederum nachvollziehbar ist, wenn sie alles daransetzen, mit seinen ehemaligen Parteikolleg*innen zusammenzuarbeiten. Tatsächlich erinnert mich die aktuelle politische Stimmung schmerzlich an das erste Jahrzehnt der AKP-Regierung: ein Sammeln großer Massen und Intellektueller aus dem gesamten politischen Spektrum, bis zur Euphorie gesteigerter Optimismus, widersprüchliche Aussagen über Demokratie, Minderheitenrechte und soziale Rechte (hier genügt es, an die zwiespältigen Bemerkungen der İyi Parti über die HDP zu erinnern).

DEVA und Gelecek sind selbstredend besonders bemüht, das erste Jahrzehnt der AKP an der Macht als goldenes Zeitalter zu verkaufen. So können sie sich von den Verbrechen freisprechen, die sie ausschließlich Erdoğan anlasten. Die anderen Bündnispartner, die İyi Parti und die CHP, akzeptieren das nur allzu bereitwillig, um ihre eigene Annäherung an die AKP-Abspaltungen zu rechtfertigen.

Auf den ersten Blick sieht alles gut aus: Die Oppositionsparteien kommen zusammen, lassen ihre Differenzen hinter sich und bündeln ihre Kräfte, um Erdoğan zu besiegen. Dann stellen sich aber gleich zwei Fragen: Kann das Bündnis der Nation ein hegemoniales Projekt hervorbringen, wie es der AKP 2002 bis 2012 gelungen ist? Und falls ja, wie wird dieses Projekt aussehen und was hat es den unteren Klassen zu bieten? Dies sind offensichtlich große Fragen, die sich in einem Artikel nicht erschöpfend abhandeln lassen. Wir können aber ein klareres Bild von den Oppositionsparteien gewinnen. Im Folgenden möchte ich die politischen und ideologischen Positionen der vier Parteien mit Blick auf ihr offizielles Programm skizzieren.

Die Oppositionsparteien im politischen Spektrum

Wenn wir das Links-Rechts-Spektrum zur Grundlage nahmen, finden wir die İyi Parti auf der rechten Seite. Die Partei betont die nationale und religiöse Identität und ist im gesamten politischen Spektrum am deutlichsten migrationsfeindlich. Sie strebt einen starken Staat sowohl gegenüber der Wirtschaft als auch in Politik und Kultur an.[3] Die Parteivorsitzende Meral Akşener begann ihre politische Karriere in der Partei des Rechten Weges (DYP) und war von 1996 bis 1997 Innenministerin in der Koalitionsregierung des Islamisten Necmettin Erbakan. Auch wenn sie in der internationalen Presse wegen ihrer Ablehnung des Militärmemorandums vom 28. Februar als Verteidigerin der Demokratie gelobt wird, war sie in den 1990er Jahren eine Schlüsselfigur im Krieg gegen die kurdische Bewegung. Es sei nur daran erinnert, dass im Zuge dieses Krieges Tausende Kurd*innen vertrieben, ihre Häuser und Lebensgrundlagen zerstört und politische Gegner*innen systematisch gefoltert wurden. Akşener trat 2001 aus der DYP aus, schloss sich Erdoğan und Gül an, als diese sich von der Nachfolgeorganisation der Wohlfahrtspartei abspalteten, trat aber schließlich in die MHP ein. 2017 gründete sie die İyi Parti, nachdem sie erfolglos gegen den MHP-Vorsitzenden Bahçeli kandidiert hatte und 2016 aus der Partei ausgeschlossen worden war.

Die İyi Parti ist eine der populistischen Rechtsparteien der vergangenen Jahre und hätte, wenn die Türkei nicht bereits unter einer anderen autoritären Partei leiden würde, vermutlich mehr Aufmerksamkeit als Bedrohung statt als «Retterin der Demokratie» auf sich gezogen. Seit ihrer Gründung verbreitet sie eine migrationsfeindliche Stimmung und verfolgt eine nationalistisch-religiöse konservative Agenda, die als beispielhaft für die türkisch-islamistische Ideologie gelten kann. Man könnte es als Tragödie der Türkei bezeichnen, dass solche Parteien oft als demokratisch gefeiert werden, wenn sie vermeintlich den Status quo herausfordern: Wir brauchen uns nur zu erinnern, dass Erdoğan vor zwei Jahrzehnten in ähnlicher Weise gefeiert wurde.

Als nächstes im politischen Spektrum kommen die zwei AKP-Abspaltungen Gelecek und DEVA. Beide können mit ihrem gemäßigten Kulturkonservatismus und ihrer stark anti-etatistischen, neoliberalen Wirtschaftspolitik als Mitte-Rechts-Parteien angesehen werden.[4] Ihre wirtschaftsfreundlichen Positionen erschließen sich auch aus dem Werdegang der Parteigründer*innen. Das gilt besonders für Gelecek: Der Gründungsrat setzt sich zu einem Drittel aus Geschäftsleuten zusammen. Bei der DEVA kommen 28 Prozent der Gründungsmitglieder aus der Wirtschaft. Laut Umfragen genießen beide Parteien keine große Unterstützung in der Bevölkerung. Während sich der Anteil der DEVA zwischen zwei und vier Prozent bewegt, bleibt die Gelecek meist unter zwei Prozent. Auch wenn sich diese Anteile für ein mögliches Wahlbündnis als entscheidend erweisen könnten, liegt der wahre Nutzen darin, dass sie die AKP-Wählerschaft spalten. Möglicherweise möchte CHP-Chef Kılıçdaroğlu die beiden an Bord haben, um die Unterstützung der religiösen Wähler*innen zu gewinnen. Allerdings gelten Babacan und Davutoğlu eher als Technokraten denn als religiös. Westliche Medien preisen insbesondere Babacan als den verlässlichen Architekten des Wirtschaftswunders im ersten AKP-Jahrzehnt.

Die CHP schließlich ist die einzige Mitte-Links-Partei im Bündnis der Nation. Ihr Programm lässt mehr Raum für klassenbasierte Organisationen und sozialstaatliche Maßnahmen. Zugleich bildet sie das größte Rätsel unter den vier Parteien. Es fällt tatsächlich schwer, sie historisch unter den sozialdemokratischen Parteien einzuordnen. In dieser Hinsicht ähnelt sie stark der Demokratischen Partei der USA. Auch bei der CHP kam es in den 1960er Jahren zu einer Annäherung an die Linke. Erste Vorstöße in diese Richtung gab es allerdings schon in den 1950er Jahren, als sich die Student*innenbewegung gegen die Demokratische Partei der Türkei wandte, die damals an der Macht war und politische Gegner*innen massiv unterdrückte.[5] Diese Annäherung forcierte in den 1970er Jahren der erste linkspopulistische Vorsitzende der CHP, Bülent Ecevit, so dass die Partei allmählich ein sozialdemokratisches Profil ausbildete.

Als der aktuelle CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu 2010 an die Parteispitze aufstieg, wurde erwartet, dass er sich Ecevit als Vorbild nehmen würde. Die Hoffnung war, dass er den strammen Säkularismus mäßigen, mehr Nachdruck auf sozioökonomische Themen legen und so auch Unterstützung aus den religiösen Unterschichten gewinnen würde. Es lässt sich kaum davon sprechen, dass er sich seither sichtbar in Richtung Sozialdemokratie bewegt hätte. Allerdings hat er die Haltung seiner Partei zum Säkularismus fraglos aufgeweicht. Tatsächlich ist schwer zu sagen, ob die CHP im strengsten Sinne immer noch eine kemalistische Partei ist. In meiner Wahrnehmung handelt es sich um eine eklektische Verbindung von Sozialdemokratie, Neoliberalismus, einer aufgeweichten Version des Kemalismus und Mitte-Rechts-Ideologien. Das überrascht nicht, denn die Partei hat in ihrer Geschichte bereits zahlreiche ideologische Wandlungen durchgemacht, in denen nur bestimmte Varianten des türkischen Nationalismus eine Konstante bilden.

Das heutige Parteiprogramm stammt von 2008. Mit dem Wechsel des Parteivorsitzes im Jahr 2010 erwarteten viele weitreichende politische und ideologische Veränderungen. Dennoch blieb das offizielle Programm unberührt. Allerdings ist es in der türkischen Politik üblich, dass das politische Programm für die tatsächliche Politik wenig Bedeutung hat, und das galt für die CHP immer noch mehr als für andere Parteien. Vielleicht hat sie ihr Programm deshalb seit 2008 nicht überarbeitet, auch wenn es laut einigen Berichten nach Inkrafttreten der neuen Verfassung Bestrebungen in diese Richtung gab.

Zurück zur «Normalität»?

Das Bündnis der Nation umfasst zwar mit Ausnahme von Parteien links der Sozialdemokratie das ganze politische Spektrum, doch mit der CHP als stärkster Partei im Bündnis ist angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftslage und der Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Arbeiter*innenklasse wohl eine mehr oder weniger sozialdemokratische Agenda zu erwarten. Dennoch stellt sich die Frage, wie sozialdemokratisch die nächste Regierung aus einer zögerlichen CHP, zwei strammen Verfechtern freier Märkte und einer etatistischen Partei überhaupt sein kann. Noch verwirrender ist, dass sich das Bündnis wirtschaftspolitisch nicht recht positioniert und kaum über Schuldzuschreibungen an Erdoğan hinausgeht.

Immerhin haben die Parteien des Bündnisses eine klarere politische Agenda, die sie alle zu teilen scheinen. Sie versprechen, als erstes zu einer umfassenden parlamentarischen Demokratie zurückkehren und die Gesetze über das Präsidialsystem zurücknehmen zu wollen. Die İyi Parti hat ein verbessertes parlamentarisches System vorgeschlagen, das möglicherweise vom ganzen Bündnis getragen wird: Neben der Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie verspricht sie Gewaltenteilung, Transparenz in der Staatsverwaltung, Schutz von Minderheiten, strengere Gesetze zur Vorbeugung von Femiziden und eine meritokratische Umstrukturierung der Verwaltung. Kılıçdaroğlu hat erklärt, welche sechs Schritte nach der Regierungsübernahme zuerst zu unternehmen sind, um allen Bürger*innen Gleichheit und Meinungsfreiheit zu garantieren. Sowohl Gelecek als auch DEVA haben sich wiederholt öffentlich von der aktuellen AKP-Regierung distanziert, was als Zusicherung an ihre potenziellen Koalitionsparteien verstanden werden kann.

Die ehemaligen AKP-Politiker*innen in diesen Parteien präsentieren sich in der Tat als Persönlichkeiten des goldenen Zeitalters, die aus der AKP ausgeschlossen wurden, weil sie Erdoğans Ein-Mann-Herrschaft nicht akzeptieren wollten. Diese Darstellung ist natürlich eine grobe Verfälschung dessen, was in der AKP-Periode passiert ist und wie es zur gegenwärtigen Situation gekommen ist. Vermutlich würde niemand abstreiten, dass Erdoğans Persönlichkeit und Machthunger eine Rolle gespielt haben. Allerdings war er kein Einzeltäter. Ganz im Gegenteil, Ahmet Davutoğlu stand hinter der «aktiven» neoosmanischen Außenpolitik der AKP, die die Türkei in Konflikt mit ihren Nachbarn brachte und in mehrere militärische Auseinandersetzungen in der MENA-Region führte. Babacan ist nicht weniger unschuldig. In den vom Spiegel als Wirtschaftswunderzeit beschriebenen Jahren brachte die AKP eine massive Privatisierungswelle in Gang, die eine der Ursachen für die heutige Geldentwertung und schmerzliche Verarmung der Bevölkerung ist.

Warum nehmen CHP und İyi Parti diese Falschdarstellung so bereitwillig hin? Selbstverständlich sind sie genauso darauf angewiesen wie die Führungsspitzen von DEVA und Gelecek, wenn sie im Bündnis mit diesen an die Macht kommen wollen. Meiner Ansicht nach gibt es aber noch einen weiteren Grund. Was die CHP und die İyi Parti als Alternative zur AKP anbieten, ist im Grunde immer das Gegenteil dessen, wofür die AKP oder Erdoğan steht. Das gilt zwar auch für Davutoğlu und Babacan, doch sie versprechen darüber hinaus eine Rückkehr zum goldenen Zeitalter: Sie glauben, sie repräsentieren die erfolgreiche erste Dekade der AKP und können, wenn sie ihre Kräfte mit der Opposition bündeln, diese goldenen Zeiten zurückbringen. Da es der Opposition an Alternativen mangelt, muss ihnen diese Perspektive wie ein Rettungsanker erscheinen. So kann das Bündnis auch der Großbourgeoisie und der internationalen Gemeinschaft beruhigende Signale senden, da dort ebenfalls die Vorstellung verbreitet ist, 2002 bis 2012 sei das goldene Zeitalter der türkischen Demokratie gewesen.

Das nationale Großkapital scheint sich Teilen der Opposition zugewandt zu haben, da ein Sturz der AKP immer wahrscheinlicher aussieht. TÜSIAD, der säkulare türkische Unternehmer*innenverband, hat zu seinem 50-jährigen Bestehen Ende Oktober einen «Bericht Zukunftsgestaltung» veröffentlicht. Das Timing war durchaus bedeutsam, da die aktuelle Krise gerade einen neuen Höhepunkt erreicht und die Opposition neues Selbstvertrauen geschöpft hatte, nachdem einige Umfragen darauf hingedeutet hatten, dass das Bündnis der Nation die AKP-MHP-Koalition endlich bei den Wahlen schlagen könnte. Entsprechend kann der Bericht nach Ansicht des Berliner Wirtschaftsprofessor Ümit Akçay als Wirtschaftsfahrplan für die Oppositionsparteien verstanden werden. Er enthält unter anderem einige sozialdemokratische Maßnahmen. Dies sollte jedoch nicht als ein Signal der Bourgeoisie an die Opposition verstanden werden, wie weit sie mit ihrer Politik gehen kann, sondern eher als Warnung vor einer Mobilisierung der Bevölkerung. Da der CHP-Parteivorstand die gegenwärtige Mobilisierung gegen die Währungskrise als Provokation ansieht, fragt man sich, ob die Warnung des TÜSIAD überhaupt nötig war.

Doch wie steht es um eine linke Alternative, die eine andere Antwort bietet, der Arbeiter*innenklasse eine Stimme gibt und eine unabhängige Bewegung in der Bevölkerung repräsentiert, die sich sowohl vom Oppositionsversprechen auf Rückkehr zum goldenen Zeitalter des Neoliberalismus als auch von der «zögerlichen Entwicklungspolitik» der Regierung abgrenzt? Ganz offensichtlich teilt auch die linke Opposition die allgemeine Unzufriedenheit mit der Erdoğan-Regierung. Dennoch können wir dem Bündnis der Nation nicht darin zustimmen, dass alles Erdoğans Schuld sei. Meines Erachtens muss klar sein, dass die Türkei vor einer echten wirtschaftlichen Herausforderung steht, der eine tiefergehende Akkumulationskrise zugrunde liegt, die nicht auf Erdoğans ideologische und falsche Entscheidungen zurückgeführt werden kann. Daher ist eine linke und egalitäre Alternative nötiger als alles andere. Eine solche würde das Minimalprogramm einer Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie, einer Verfassungsreform, der Transparenz und des Schutzes von Grundrechten teilen, muss aber darüber hinausgehen. Vielleicht ist die große Frage, wie verhindert werden kann, dass sich die letzten zwanzig Jahre wiederholen.

Wahlen sind bekanntermaßen eine grundlegende Plattform, über die der Öffentlichkeit verschiedene politische, ideologische und programmatische Positionen nähergebracht werden. Die Linke kann diese Plattform als unabhängige Kraft nutzen. Wie die linken Parteien auf dieses dringende Erfordernis reagieren, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Hier möchte ich mit einem Gedanken schließen, den ich bei der Vorbereitung dieses Beitrags hatte: Die gegenwärtige Euphorie und der Optimismus erinnern mich unheilvoll an die ersten Jahre der AKP-Regierung. Damals kam es mir merkwürdig vor, dass alle Zeichen eines zukünftigen Autoritarismus einfach ignoriert wurden. Ich frage mich, ob das heute wieder der Fall ist. Und ich frage mich, ob die Linke einen schrecklichen Fehler begehen und sich einreden wird, dass der Feind unseres Feindes unser Freund ist und sich mit dem Bündnis der Nation zusammenschließen wird?


[1] Bevor 2002 die AKP gewählt wurde, waren ein ganzes Jahrzehnt lang Koalitionsregierungen an der Macht gewesen. Unterschiedliche Koalitionen aus Mitte-Rechts-Parteien, Sozialdemokrat*innen und Islamist*innen galten als Grund für die ökonomische und politische Instabilität des Landes in den 1990er Jahren. Dies wurde auch von der AKP angeführt, um ihre Ein-Parteien-Regierung gegenüber brüchigen Koalitionsregierungen als stabil und stark anzupreisen.

[2] Neben der CHP und der İyi Parti noch die AKP-Vorgängerpartei Saadet Partisi (SP) und eine nach Wahlstimmen irrelevante Mitte-Rechts-Partei, die Demokratische Partei (DP). Ich konzentriere mich hier auf die zwei großen Mitglieder des Bündnisses und die beiden neuen Parteien. Aus meiner Sicht bietet die Analyse dieser vier ein besseres Verständnis des Bündnisses als eine Analyse der kleineren Mitglieder, weil letztere relativ unbedeutend sind und sich politisch-ideologisch eindeutiger positionieren: Die DP ist eine klassische Mitte-Rechts-Partei und die SP eine islamistische Partei.

[3] Ich versuche hier, einen kurzen Überblick über ihr politisches Programm zu geben. Wenn nicht anders angegeben, habe ich die Informationen aus dem Parteiprogramm entnommen. Bedauerlicherweise liegt das Programm nicht auf Englisch oder Deutsch vor. Eine kurze Einführung findet sich hier.

[4] Mit ihren Standpunkten kann man sich in den jeweiligen Parteiprogrammen vertraut machen: DEVA und Gelecek.

[5] Die DP der 1950er Jahre war und ist einer der Bezugspunkte für die AKP. Dieser Rückbezug diente einerseits dazu, sich von der islamistischen Vorgängerpartei abzugrenzen, aus der die AKP hervorgegangen ist. Anderseits sollte der Umgang der säkularen Staatseliten mit der AKP parallelisiert werden mit dem damaligen Coup gegen die DP. Drei der prominentesten Köpfe der DP waren nach dem Staatsstreich gehängt worden. Weiteres dazu hier.