Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte Lars Fischer: The Socialist Response to Antisemitism in Imperial Germany, New York 2010.

Die Sozialdemokraten hätten mehr oder minder die Analyse der Antisemiten zur «Judenfrage» geteilt. Dies ist starker Tobak und muss gut begründet werden – wird es aber nicht.

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Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Linken, nicht nur der deutschen, ist fraglos bis heute ein wichtiges politisches Thema, das gerade hierzulande leider nur allzu gern skandalträchtig instrumentalisiert wird. Nicht zuletzt um dieser Oberflächennutzung entgegenzuwirken, ist man auf entsprechende historische Analysen angewiesen, von denen es für die Zeit des Kaiserreichs einige gibt.

Den diesbezüglichen Forschungsstand hat vor kurzem Shulamit Volkov noch einmal präzise zusammengefasst: Das deutsche Kaiserreich war eine antisemitisch geprägte Gesellschaft; antijüdische Bemerkungen und Ressentiments finden sich sowohl in den Texten als auch und vor allem in privaten Äußerungen führender Sozialdemokraten (während man über die Haltung der «Massen» sehr viel weniger weiß); in der Praxis jedoch war es die SPD, die sich den Antisemiten deutlicher als alle anderen Parteien entgegenstellte, auch wenn es bis zur Jahrhundertwende dauern sollte, bis alle Ambiguitäten aus den öffentlichen Stellungnahmen der Partei verschwunden waren.

Lars Fischer nun, der Moderne Europäische Geschichte am Kings College in London unterrichtet, hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Konsens einer profunden Revision zu unterziehen, und er tut dies mit einem sympathisch klar definierten Anspruch: Letztlich geht es ihm darum, so schreibt er in einem ausführlichen Vorwort, zu erklären, wie «es geschehen konnte», wie sich also der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft so verankerte, dass er am Ende die bekannten mörderischen Konsequenzen zeitigte. Um diese Frage zu beantworten, hat er sich mit der SPD ein auf den ersten Blick erstaunliches Objekt ausgesucht. Aufbauend auf seiner Dissertation zu Franz Mehring, einer der kontroversesten und am deutlichsten antisemitischen Figuren in der intellektuellen Führungsriege der wilhelminischen SPD, unterzieht er verschiedene Texte führender Sozialdemokraten –  neben Mehring vor allem Marx, Bernstein, Bebel, Wilhelm Liebknecht und Kautsky - einem streckenweise faszinierenden «close reading» (seine Interpretation des Marx’schen Textes «Zur Judenfrage» gehört m. E. zu den spannendsten Kapiteln des Buches). Er verwebt so theoretische Ausführungen, Briefe, private Äußerungen und Parteitagsdiskussionen zu einem Gesamtbild, dessen Grundierung er schon in der Einleitung klar benannt hat: Die Sozialdemokraten hätten in mehr oder minder klarer Ausprägung die Analyse der Antisemiten zur «Judenfrage» geteilt, wie diese von einem «Deutschland ohne Juden» geträumt und sich lediglich in den Lösungsvorschlägen von den Antisemiten unterschieden.

Dies ist starker Tobak und muss gut begründet werden – wird es aber nicht. Denn wie bei allen Büchern, die sich um eine zentrale These drehen, fällt alles unter den Tisch, was dieser entgegensteht. In diesem Fall, und das ist kein geringes Problem, ist dies vor allem der historische Kontext: Die Sozialistengesetze, die politischen Lager, die proletarische Zielgruppe und, last but not least, die ideologische Ausgangsposition, die bekanntlich besagte, dass sich alle Nebenwidersprüche, die Juden- wie die Frauenfrage, in der klassenlosen Gesellschaft auflösen würden – wobei, in beiden Fällen, Vertreibungs- oder Vernichtungsphantasien weit und breit nicht zu erkennen sind. Zudem vermisst man eine Bewertung der politischen Praxis einer Partei, die schon in den frühen 1880er Jahren in den Berliner Strassen den Antisemiten offensiv entgegentrat, die wie keine andere – auch nicht die Linksliberalen – jüdische Kandidaten aufstellte und die ab 1900 eine so klare Gegenposition vertrat, dass sie, allen Ambivalenzen einzelner Persönlichkeiten zum Trotz, deshalb zum Kern der anti-antisemitischen Opposition im Sinne eines kulturellen Gegen-Codes inmitten eines zutiefst antisemitischen Umfeld werden konnte.

All dies jedoch interessiert den Autor im Grunde nicht, geht es ihm doch im Kern um einen ganz anderen Punkt: Selbst wenn Sozialdemokraten Antisemitismus verurteilten, so taten sie es aus den falschen Gründen – nämlich nicht aus moralischen, sondern aus rein instrumentellen, parteitaktischen oder wahlkampfstrategischen. Dabei legt er den Finger auf zwei Wunden, die zwar bekannt, aber dennoch erwähnenswert sind: Erstens die Vorstellung seitens führender Sozialdemokraten, man könne sich des Antisemitismus wie eines «Durchlauferhitzers» bedienen, der einem die verwirrten, aber antikapitalistischen Massen am Ende schon in die Arme treiben würde – und zweitens die Agitation gegen «jüdische Kapitalisten», deren Langzeitwirkung bis heute spürbar ist. Wenn man also der SPD etwas vorwerfen möchte, und dies haben schon vor ihm viele zu recht getan, dann sind es diese Instrumentalisierungen und letztlich vor allem die Unterschätzung der Virulenz des Antisemitismus als politischer Massenbewegung.

Nicht vorwerfen jedoch kann man historischen Akteur:innen, dass sie anders dachten, als wir es heute in Kenntnis der nachfolgenden Entwicklungen tun – und genau dieser Argumentation bedient sich Fischer immer und immer wieder. Sowohl der historische als auch der politische Erkenntnisgewinn einer solchen Interpretation bleibt rätselhaft: Denn auch wenn dem Autor dieses, im übrigen sehr elegant und selbstbewusst geschriebenen, streckenweise etwas redundanten Buches zuzustimmen ist, dass es darum gehen muss, die verschiedenen Grautöne des Phänomens Antisemitismus sichtbar zu machen, so hat man doch wenig davon, wenn am Ende alle Katzen grau sind: Wenn «alle» irgendwie antisemitisch und damit verantwortlich waren, dann war es letztlich keiner mehr, und wir stehen wieder da, wo wir vor Jahren, und viel zu lange, standen: vor unsichtbaren Tätern, Strukturen und Verhältnissen. Um es klar zu sagen: Nicht die deutsche Arbeiterbewegung war verantwortlich für Faschismus und Massenmord, sondern sie musste erst zerschlagen werden, bevor die von bestimmten Interessengruppen ins Amt gehievte und dann von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragene NSDAP ihr mörderisches antisemitisches Programm in die Tat umsetzen konnte.
 


Lars Fischer: The Socialist Response to Antisemitism in Imperial Germany, New York 2010 [2007]: Cambridge University Press (276 S., £ 24,99).
 

Die Besprechung erschien 2010 in der geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift Historische Zeitschrift(291).