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Boris Kanzleiter im Gespräch mit Krunoslav Stojaković über linke Perspektiven in Bosnien-Herzegowina

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Offizielle Feierlichkeiten zum Jahrestag der Republika Srpska in Banja Luka, Bosnien und Herzegowina, am 9. Januar 2021. Foto: picture alliance / PIXSELL | Dejan Rakita

In Bosnien-Herzegowina eskaliert der Dauerkonflikt um den Fortbestand des Staates. Die politische Führung des serbischen Landesteils möchte mehr Selbstständigkeit und strebt nach einer Vereinigung mit dem Nachbarland Serbien. Der «Hohe Repräsentant» für Bosnien-Herzegowina, der deutsche CSU-Politiker Christian Schmidt, versucht das zu verhindern. Medien und Politiker*innen in der Region rufen die Bilder aus dem Krieg der 1990er Jahre in Erinnerung, warnen vor ethnischen Konflikten und fordern die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf. Im Gespräch kritisieren Boris Kanzleiter und Krunoslav Stojakovič den institutionalisierten Ethnonationalismus und fragen nach linken Perspektiven in Bosnien-Herzegowina 27 Jahre nach dem Ende des Kriegs.

Boris Kanzleiter ist seit 2016 Direktor des Zentrums für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Von 2009 bis 2016 leitete er das Büro der RLS für Südost-Europa in Belgrad.

Krunoslav Stojaković arbeitet seit 2011 für das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Belgrad, das er seit 2017 leitet.

Boris Kanzleiter: Ich habe derzeit immer wieder Déjà-vu-Erlebnisse, wenn ich nach Bosnien-Herzegowina schaue. Denn da sieht man schwerbewaffnete Spezialkräfte der Polizei mit roten Baretten, die an die Uniformen serbischer Paramilitärs der 1990er Jahre erinnern, bei einer Parade durch Banja Luka marschieren. Milorad Dodik, der serbische Vertreter im Staatspräsidium und starke Mann der Republika Srpksa, kündigte wiederholt an, dass sich der serbische Teil des Landes aus Bosnien-Herzegowina herauslösen wolle. Auf der anderen Seite belegte die US-Regierung Dodik Anfang Januar mit Sanktionen, auch Außenministerin Annalena Baerbock hat Sanktionen angekündigt. In den Medien wird gar über einen möglichen neuen Krieg spekuliert. Wie siehst Du die aktuelle Lage? Droht der Dauerkonflikt in Bosnien-Herzegowina zu eskalieren?

Die Festschreibung des ethnischen Prinzips

Krunoslav Stojaković: Falls Du mit Eskalation eine kriegerische Auseinandersetzung meinst, so halte ich eine solche Entwicklung für wenig wahrscheinlich. Aber wir haben es in Bosnien-Herzegowina durchaus mit einer brisanten Konfliktkonstellation zu tun. Im Grunde handelt es sich um eine Auseinandersetzung über die staatliche Struktur, wie sie durch das Daytoner Friedensabkommen von 1995 kodifiziert worden ist. Bosnien-Herzegowina wurde dabei in zwei ethnischen Prinzipien folgende – und mit weitreichenden Selbstverwaltungskompetenzen ausgestattete – Entitäten aufgeteilt: die serbisch dominierte Republika Srpska und die bosniakisch-kroatische Föderation, die gemeinsam Bosnien-Herzegowina bilden. Den politischen Überbau dieses Konstrukts bildet ein schwacher Zentralstaat, dessen Verfassung und Institutionen von wichtigen politischen Vertreter*innen aktiv obstruiert werden. Nicht nur große Teile der politischen Elite der Republika Srpska agitieren dabei gegen den Zentralstaat, sondern auch führende kroatische Politiker*innen wie Dragan Čović, Vorsitzender der einflussreichsten kroatischen Partei HDZ [Kroatische Demokratische Gemeinschaft]. Selbst die politische Elite der Bosniaken, denen gemeinhin unterstellt wird, das größte Interesse an einer Stabilisierung des Zentralstaats zu haben, untergräbt seine Institutionen.

Die von Dir erwähnte Parade in Banja Luka am 9. Januar symbolisiert den vermeintlichen Gründungsakt der Republika Srpska, ihre Einbettung in die Tradition der am 9. Januar 1992 proklamierten Republik des serbischen Volkes Bosnien-Herzegowinas, der der vom Haager Kriegsverbrechertribunal verurteilte Kriegsverbrecher Radovan Karadžić vorstand. Das Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas hat diesen Feiertag als verfassungswidrig eingestuft, weil er die nichtserbische Bevölkerung diskriminiere. Die Venedig-Kommission, eine Einrichtung des Europarates, kam zu einem ähnlichen Urteil. Dessen ungeachtet wird aber seit inzwischen 30 Jahren der 9. Januar offiziell als Tag der Republika Srpska begangen, was einiges über die Autorität zentralstaatlicher Institutionen aussagt.

Worüber wir meines Erachtens aber mehr reden sollten, ist nicht so sehr dieser oder jener Alleingang bzw. diese oder jene Provokation nationalistischer Politiker*innen. Wir sollten stattdessen über die tiefgreifenden, strukturellen Fehlentwicklungen des Staates Bosnien-Herzegowinas reden: seine Verfasstheit mitsamt den Grundlagen des Daytoner Friedensabkommens, die neben einer faktisch neokolonialen Institution wie dem Hohen Repräsentanten auch das ethnische Prinzip festgeschrieben haben; die desaströse soziale und ökonomische Situation des Landes; seine Beziehungen zu den Nachbarstaaten, aber auch zu Russland, der EU und der NATO. Ein immenses Problem stellen aber auch die extrem hohen Auswanderungsraten dar, und zwar aus beiden Teilentitäten.

Der Theaterdonner konkurrierender Eliten

Boris Kanzleiter: Ja, das ist eine zweite Dimension des Déjà-vu. Statt auf die sozialen Zusammenhänge und auf Machtstrukturen in der Gesellschaft zu blicken, werden die Probleme in den dominanten Diskursen wie in den 1990er Jahren auf «ethnische Konflikte» zwischen «Serben, Kroaten und Muslimen» verkürzt, in denen eine Seite als «böse» und die andere als «gut» beschrieben werden. Was dagegen gänzlich fehlt, ist eine Perspektive auf die miserable Bilanz der sozial-ökonomischen Entwicklung der vergangenen 27 Jahre. Tatsächlich ist es doch so, dass es unter dem Konstrukt des 1995 abgeschlossenen Friedensabkommens von Dayton nicht gelungen ist, eine positive wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Gang zu setzen. Im Gegenteil: Die industrielle Infrastruktur, die vor dem Krieg existierte, wurde nicht wiederaufgebaut. Es herrscht eine hohe Arbeits- und Perspektivlosigkeit, gerade junge Menschen verlassen massenhaft das Land. Gleichzeitig hat sich eine kleine Elite von Privatisierungsgewinnler*innen und Superreichen etabliert, die sich zum Großteil aus den Kriegsprofiteuren der 1990er Jahre zusammensetzt. Diese Eliten kontrollieren auch die Medien und die klientelistisch aufgebauten ethnischen Parteien. Sie beherrschen Manipulationstechniken auf allen Ebenen. Was nach außen als «ethnischer Konflikt» repräsentiert wird, ist eigentlich der Theaterdonner konkurrierender Eliten, die sich über die nationalistische Rhetorik legitimieren, aber in Wirklichkeit damit nur ihre Machtpositionen erhalten wollen.

Krunoslav Stojaković: Es ist in der Tat nicht einfach, mit linken Analysen und Kommentaren in den medialen Mainstream vorzudringen. Dadurch bleiben gesellschaftspolitische Entwicklungen, die dem gängigen Narrativ nationaler Spannungen entgegenstehen, zumeist unbekannt. Das bedeutendste Beispiel in diesem Kontext waren die sozialen Proteste im Jahr 2014, die einen klaren sozioökonomischen Hintergrund hatten und sich dabei auch dezidiert gegen das nationalistische Narrativ richteten. Zudem waren sie in ihrer Form und organisationspolitischen Perspektive sehr innovativ und übten über Bosnien-Herzegowina hinaus auch auf progressive Akteure in Kroatien und Serbien Einfluss aus. Ihren Ausgang nahmen die Proteste in der Industriestadt Tuzla, in der wir als Rosa-Luxemburg Stiftung ja auch ein Büro unterhalten. Arbeiter*innen eines lokalen Chemieunternehmens, das in mehreren Privatisierungswellen nahezu vollkommen ruiniert wurde, hatten schon seit Jahren versucht, ihre Firma vor dem Bankrott zu retten, indem sie die Produktion in ihre eigenen Hände nahmen. Um auf ihre äußerst schwierige Lage aufmerksam zu machen, organisierten sie Anfang 2014 einen Demonstrationszug vor dem Gebäude der Kantonsregierung in Tuzla, dem sich alsbald Studierende, Aktivist*innen, aber auch viele Arbeiter*innen aus anderen Fabriken und Arbeitslose anschlossen. Mehrere tausend Menschen nahmen an diesen Protesten teil, die in der Folge auf viele Städte in der Föderation Bosnien-Herzegowina übergriffen und zu einer veritablen sozialen Bewegung anwuchsen. Die Forderungen waren durchweg sozioökonomischer Natur, das nationalistische Narrativ wurde explizit abgelehnt. Überall im Lande entstanden daraufhin sogenannte Bürgerplena, auf denen Tausende Bürger*innen über die Forderungen und Strategien entscheiden sollten. Leider blieb diese Bewegung in Bosnien-Herzegowina fast ausschließlich auf die muslimisch-kroatische Föderation beschränkt. In Banja Luka verstanden es Milorad Dodik und die um ihn herum versammelte politische Elite, die Proteste als Angriff auf die Integrität der Republika Srpska darzustellen. Trotz Sympathien für die Protestbewegung in der Bevölkerung blieb sie hier deshalb stecken. Wie angespannt die Situation in der Republika Srpska aber selbst war und ist, zeigten die Proteste gegen die Ermordung eines jungen Mannes in Banja Luka, die sich Ende 2018 ebenfalls zu einer Tausende Menschen umfassenden Bewegung entwickelten.

Demographische Studie zeigen, dass die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas in den nächsten 50 Jahren auf 1,5 Millionen schrumpfen könnte – 1991 waren es noch 4,5 Millionen Einwohner*innen! Eine der Hauptursachen liegt dabei in der Arbeitsmigration, gerade auch nach Deutschland. Hier wäre eine linke Positionierung wichtig, die einen sozial- und wirtschaftspolitischen Neuaufbau Bosnien-Herzegowinas zum Ziel haben sollte. Eine kürzlich erschienene, groß angelegte Untersuchung hat nämlich ergeben, dass die Mehrheit der Bevölkerung den nationalistischen Eliten, religiösen Führern und deren Partikularinteressen die Schuld an dieser Misere zuschreibt. Es gibt also durchaus den Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft aller Ethnien in Bosnien-Herzegowina; was fehlt, ist ein politisches Subjekt, dass eine solche Alternative formulieren könnte. Und damit sind wir wieder bei der ethnisch fundierten Konstruktion des Staates, wie sie im Friedensvertrag von Dayton festgeschrieben worden ist.

Die notwendige Überwindung des institutionalisierten Ethnonationalismus

Boris Kanzleiter: Ja, hier läge neben der Thematisierung der katastrophalen sozio-ökomischen Situation aus meiner Sicht ein zweiter wichtiger Punkt für eine Positionierung. Denn es kann aus linker Perspektive nicht um die Unterstützung irgendeiner der drei nationalistischen bzw. national-religiösen Akteure gehen, die sich selbst allesamt als explizit antikommunistisch und rechts definieren. Stattdessen müsste die Überwindung des institutionalisierten Ethnonationalismus im Mittelpunkt stehen, und es sollte um gleiche Rechte für alle in einem geeinten, säkularen und demokratischen Bosnien-Herzegowina gehen. In diesem Sinne müsste Dayton überwunden werden.

Tatsächlich ist es aber leider so, dass die ethnonationalen Diskurse eher vertieft werden. Du hast ja schon auf die Forderungen der kroatisch-nationalistischen HDZ nach einer eigenen ethnonational definierten Entität rund um Mostar hingewiesen. Sehr viel schwerwiegender finde ich aber, dass es unter konservativen und rechtsgerichteten Kräften in der EU und in den USA offenbar sogar Unterstützung für neue Grenzziehungen auf der Grundlage ethnonationaler Ordnungsprinzipen zu geben scheint. In einem «Non-Paper», das Kreisen um den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und dem slowenischen Regierungschef Janez Janša zugeschrieben wird, wurde im vergangenen Jahr die Schaffung eines Großkroatiens unter Einschluss von Teilen Bosniens, eines Großserbiens unter Einschluss der Republika Srpska sowie eines Großalbaniens unter Einschluss des größten Teils des Kosovos sowie Teilen Nordmazedoniens vorgeschlagen. Dieses Papier zirkulierte offenbar in den höchsten Kreisen der EU-Kommission und im Europäischen Parlament. Ich halte es daher für falsch, zu viele Hoffnungen auf die Europäische Union zu setzen. Dort haben nationalistische Kräfte, die in ihrer Denkweise den ethnonationalen Akteuren in Bosnien-Herzegowina nahestehen, mittlerweile leider sehr viel zu sagen. So ist beispielsweise der EU-Erweiterungskommissar, Olivér Várhelyi, ein enger Vertrauter Viktor Orbáns. Übrigens gewährte Ungarn Dodik kürzlich auch einen umfangreichen Kredit.

Die Fehlkonstruktion des Hohen Repräsentanten

Boris Kanzleiter: Für genauso problematisch halte ich eine positive Sicht auf die Institution des Hohen Repräsentanten, der ebenfalls mit dem Dayton-Abkommen inthronisiert wurde und in Bosnien-Herzegowina die «Internationale Gemeinschaft» repräsentieren soll. Das Amt wurde seit 1995 von verschiedenen westlichen Diplomaten bekleidet; derzeitiger Amtsinhaber ist der CSU-Politiker Christian Schmidt. Der Hohe Repräsentant kann demokratisch gewählte Amtsträger*innen entlassen und Gesetze erlassen. Im Grunde kann man das Amt als «neokolonial» beschreiben. Zu seiner Legitimation wird oft betont, dass das Amt eigentlich ein Anachronismus sei, aber eben notwendig, um den Frieden zu sichern. Tatsächlich scheint es mir aber so zu sein, dass die Existenz der Hohen Repräsentanten mehr Probleme schafft, als sie löst. So rufen die kroatischen und bosnisch-muslimischen Kräfte sowie viele internationale Nichtregierungsorganisationen den Hohen Repräsentanten immer wieder dazu auf, endlich effektiv gegen Milorad Dodik und die serbischen Nationalist*innen vorzugehen, die Schmidt ihrerseits nicht anerkennen. Tatsächlich aber nutzt das Dodik eher, weil er sich vor diesem Hintergrund wunderbar als Beschützer inszenieren kann, der an der Macht bleiben muss, um die Sicherheit der Serb*innen zu gewährleisten.

Der Hohe Repräsentant ist auch vor dem historischen Hintergrund der Intervention der Großmächte in Bosnien-Herzegowina problematisch. Nach Jahrhunderten der Osmanischen Herrschaft wurde Bosnien-Herzegowina 1878 auf dem Berliner Kongress unter österreichisch-ungarische Verwaltung gestellt. Die Herrschaft der Habsburger wurde vor dem Ersten Weltkrieg von vielen Menschen als äußerst repressiv erlebt. Im Zweiten Weltkrieg besetzte dann die Wehrmacht das Land und bekämpfte die antifaschistischen Partisan*innen. Vor diesem Hintergrund ist es geschichtsvergessen, dass mit Wolfgang Petritsch, Christian Schwarz-Schilling, Valentin Inzko und jetzt Christian Schmidt gleich vier der bislang acht Hohen Repräsentanten aus Österreich und Deutschland kamen. Das nutzt den serbischen Ethno-Nationalisten, die ja gerade in diesen beiden Mächten historische Feinde sehen.

Linke Perspektiven in Bosnien-Herzegowina

Krunoslav Stojaković: Schon die Konstellationen während des Kriegs in den 90er Jahren waren bestimmt durch direkte Interventionen der Nachbarstaaten Bosnien-Herzegowinas. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich auch der kroatische Staatspräsident Franjo Tuđman, wäre er nicht verstorben, auf der Anklagebank des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag wiedergefunden hätte – zusammen mit Slobodan Milošević, mit dem er eine Aufteilung des Landes zwischen Serbien und Kroatien vereinbart hatte. Vor diesem Hintergrund verwundert es weniger, dass Milorad Dodik derzeit als Befürworter einer dritten, kroatischen Teilentität auftritt, die von kroatisch-sezessionistischen Kräften um Dragan Čović eingefordert wird. Nationalistische Kräfte aus Kroatien und Serbien arbeiten in dieser Hinsicht zusammen.

Insgesamt hat die Einmischung dieser beiden Nachbarstaaten einen sehr negativen Effekt auf die ohnehin komplizierte Gemengelange Bosnien-Herzegowinas. Die politische Rückendeckung aus Serbien ist für Milorad Dodik ebenso entscheidend, wie jene aus Kroatien für Dragan Čović. Das bedeutet aber auch, dass diese beiden Politiker, sollten Belgrad und Zagreb irgendwann den Daumen senken, der Vergangenheit angehören dürften.

Zu den regionalen Akteuren gesellen sich weitere internationale Akteure, vor allem EU, NATO, die USA, Russland und die Türkei. Während letztere als Interessenvertretung der bosnischen Muslime auftritt und das bosniakische Establishment um Bakir Izetbegović unterstützt – Erdogan war letztes Jahr bei den Hochzeitsfeierlichkeiten von Izetbegovićs Tochter höchstpersönlich anwesend –, streben bedeutende Teile der bosniakisch-kroatischen Elite eine NATO-Mitgliedschaft an. Željko Komšić, der kroatische Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium, wird nicht müde zu behaupten, eine NATO-Mitgliedschaft habe absolute Priorität. Demgegenüber lehnen die serbischen Vertreter*innen diese strikt ab und wissen dabei Russland an ihrer Seite. Russische Unterstützung findet Dodik auch in Sachen Nichtanerkennung des Hohen Repräsentanten Christian Schmidt. Je schärfer der Ton in der Auseinandersetzung zwischen NATO und EU auf der einen Seite und Russland auf der anderen im Kontext der Ukraine-Krise wird, desto härter werden auch die Auseinandersetzungen zwischen den ethnonationalen Verbündeten beider Blöcke in Bosnien-Herzegowina sein.

Dieser Kontext indiziert bereits deutlich, mit welch komplexem Gefüge wir es in Bosnien-Herzegowina zu tun haben. Ein für die politische Linke wichtiger Einstiegspunkt könnte die kritische Aufarbeitung und Forderung der Überwindung jener Bestandteile des Daytoner Friedensabkommens sein, die dem ethnischen Element eine prioritäre Rolle in der Staatskonstruktion zuweisen. An erster Stelle müsste hier eine Überwindung der Entitäten zugunsten eines Staatsbürgerkonzepts erfolgen, das seine Bürger*innen nicht mehr nur als Angehörige einer der drei konstitutiven Ethnien definiert, sondern als mündige Subjekte, die aktiv das politische Leben im Lande gestalten. Die fortwährende Dominanz nationalistischer Parteien im öffentlichen Leben ist schließlich ein direktes Resultat ihrer durch Dayton zugewiesenen Rolle. In der politikwissenschaftlichen Debatte in Bosnien-Herzegowina wird dieser Umstand mit dem Begriff des «Ethnodeterminismus» beschrieben. Das Argument, eine Änderung des Status quo sei nicht möglich, weil die Abschaffung der Entitäten oder des Büros des Hohen Repräsentanten unweigerlich zu neuen kriegerischen Auseinandersetzungen führen würde, verkennt, dass die Prävalenz des ethnischen Prinzips ja eine direkte Folge von Dayton ist; erst ihre Überwindung hin zu einer staatsbürgerlichen Konstitution würde die Bedingungen schaffen, die Triebkräfte dieser Kriegsgefahr abzubauen.

Zum Abschluss möchte ich noch erwähnen, dass die Herausbildung einer politischen Linken in Bosnien-Herzegowina nur dann eine Möglichkeit darstellt, wenn die Aufteilung des Landes in Entitäten und entlang ethnischer Kriterien überwunden wird. Gegenwärtig ist es beispielsweise für Gewerkschaften kaum möglich, über die Entitätsgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten, gemeinsame Arbeitskämpfe sind illusorisch. Die ökonomische Macht liegt ebenso in den Händen der nationalen Eliten, wie die Verfügungsgewalt über die Ressourcen im öffentlichen Dienst. Wer sich gegen diese wendet und ihre exklusive Legitimität in Frage stellt, läuft Gefahr, nicht nur seine eigenen materiellen Grundlagen zu verlieren, sondern womöglich diejenige weiterer Familienmitglieder.