Kommentar | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine Das Ende des Minsker Abkommens

Einfrieren oder Eskalation des Konflikts?

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Passantin vor einem Fotomahnmal der Kämpfe zwischen ukrainischem Militär und Separatisten
Der Krieg ist im Osten der Ukraine ständig präsent: Passantin vor einem Fotomahnmal der Kämpfe zwischen ukrainischem Militär und Separatisten (Sjewjerodonezk im von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teil der Region Luhansk, 23.2.2022). picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Vadim Ghirda

Während in den letzten Wochen eine Reisediplomatie vieler Staatschefs und Außenminister*innen zu beobachten war, wie aufgrund der Pandemie schon lange nicht mehr, ist diese seit Montagabend vermutlich erst einmal beendet. Russlands Präsident kündigte in einer fast einstündigen Ansprache an die Nation die Anerkennung der beiden Separatistenrepubliken im Osten der Ukraine an. Die Beschlüsse sind unterschrieben und eine offiziell so benannte Friedensmission, also russische Armeeeinheiten, soll in die völkerrechtlich klar zur Ukraine gehörenden Gebiete entsandt werden. Ein neuerlicher Bruch des Völkerrechts durch Russland.

Fabian Wisotzky ist Referent für Mittel- und Osteuropa bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Damit scheint sich das Möglichkeitsfenster zu schließen, in neuen Verhandlungen über die beiden Konflikte – erstens den zwischen Russland und der NATO über eine europäische Sicherheitsarchitektur und zweitens den um die Ukraine – zu einer Lösung zu kommen. Ob damit der Status quo erhalten bleibt oder es zu einer weiteren militärischen Eskalation kommen wird, werden die nächsten Tage zeigen. Die Ankündigung Vladimir Putins am Dienstagabend, dass die Anerkennung der Separatistenrepubliken sich nicht allein auf das de facto unter der Kontrolle der Separatisten stehende Gebiet bezieht, sondern auf das gesamte Gebiet der Donezker und Luhankser Regionen, beinhaltet ein gefährliches Eskalationspotenzial. In den zurückliegenden Tagen haben dort die Gefechte wieder zugenommen, eine Ausdehnung über die Kontaktlinie hinaus ist nicht ausgeschlossen.

Die Hoffnungen von 2019 auf Frieden sind verflogen

Nach der Wahl Volodymyr Selenskyjs zum Präsidenten der Ukraine im Jahr 2019 war es zu neuerlichen Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gekommen, um den Krieg in der Ostukraine friedlich beizulegen. Dieser auch von der linken Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Prozess zeigte anfangs erste Erfolge, am deutlichsten sichtbar in den Gefangenenaustauschen im Dezember 2019 und April 2020 und in einer Waffenruhe, die 2020 vereinbart wurde und relativ lang anhielt. Aber spätestens seit Herbst 2020 stockte dieser Prozess. Stattdessen war das Jahr 2021 von einer Verschärfung der Spannungen gekennzeichnet. Die Gründe: einerseits problematische Entwicklungen in der Ukraine wie die Sanktionen gegenüber als prorussisch geltenden Fernsehsendern und dem Oppositionspolitiker und Oligarchen Medvechuk, andererseits die weitere Ausgabe von russischen Pässen an die Menschen im Donbass und ein erster Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine. Im Oktober 2021 setzte dann die ukrainische Armee erstmals eine Bayraktar-Drohne an der Konfliktlinie ein. Die letzten Hoffnungen auf eine Entspannung in den Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine, aber auch auf eine innerukrainische Regulierung des Konflikts waren verflogen.

Durch einen erneuten Aufmarsch seiner Truppen entlang der ukrainischen Grenze hatte Russland Gespräche mit den USA und der NATO erzwungen, in denen, so die Erklärung Putins, die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigt werden sollten. Die beiden veröffentlichten Vertragsentwürfe sahen dabei einen Rückzug der NATO-Strukturen in Osteuropa auf den Stand von 1997 (also dem Stand vor der NATO-Osterweiterung) vor sowie den Ausschluss des NATO-Beitritts ehemaliger Sowjetrepubliken, explizit der Ukraine und Georgiens. Dass die NATO diese Maximalforderungen wohl kaum erfüllen würde, dürfte auch im Kreml klar gewesen sein. Aber es kam immerhin zu Verhandlungen. Die Gespräche in verschiedenen Formaten prägten seit Anfang Januar die Schlagzeilen.

Dabei waren all diese Gespräche überschattet von russischen Militäraufmärschen entlang der ukrainischen Grenze, Manövern im Schwarzen Meer oder in Belarus, aber auch dem Verlegen US-amerikanischer und anderer NATO-Einheiten in die osteuropäischen NATO-Mitgliedsstaaten sowie Waffenlieferungen an die Ukraine. Aber die Hoffnung glomm noch, dass man in einen neuen Prozess, ähnlich den KSZE-Verhandlungen, einsteigen könnte, um durch Deeskalation sowie Abrüstung die Option aufrechtzuerhalten, eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa zu schaffen, die den Sicherheitsinteressen aller Seiten Rechnung trägt.

Die Anerkennung der «Volksrepubliken Luhansk und Donezk»

Seit Montagabend erwartet dies wohl kaum jemand mehr. Dmitrij Peskov, der Pressesprecher Putins, hatte nach der Abstimmung in der Staatsduma, durch die Putin zur Anerkennung der beiden Separatistenrepubliken aufgefordert worden war, letzte Woche noch erklärt, dass diese Anerkennung dem Minsker Abkommen widerspreche. Es wurde von russischer Seite auch betont, dass die Erfüllung des Abkommens von Minsk weiterhin das Ziel der russischen Politik sei. Die Hoffnung, dass die Abstimmung in der Duma nur ein weiteres Druckmittel auf Deutschland und Frankreich gewesen sein könnte, damit deren Regierungen Kiew im Normandie-Format zur Umsetzung des Minsker Abkommens im Sinne Moskaus bewegen, ist dahin. Moskau ist mit der Anerkennung der Separatistenrepubliken aus den Minsker Abkommen ausgestiegen. Der Konflikt in der Ostukraine ist also nicht mit diplomatischen Mitteln gelöst worden. Weil die beiden Konflikte eng miteinander verwoben sind und die friedliche Regulierung des Konflikts im Donbas gescheitert ist, wird es wohl kaum zu einer weiteren Verhandlung über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur kommen. Dabei wäre diese Aufgabe auch schon so einer Quadratur des Kreises gleichgekommen.

Selbst die Linken in Europa sind nicht einer Meinung, was die europäische Sicherheitsordnung angeht. So sprachen sich zum Beispiel Mitglieder von Razem aus Polen für eine stärkere Unterstützung der Ukraine aus. Da selbst die Linke in Europa in vielen Fragen unterschiedliche Positionen vertritt (sei es zur Sicherheitspolitik in Europa oder zum Verhältnis zu Russland), wundert es nicht, dass dies auf die Gesellschaften im Allgemeinen zutrifft. Der Ausstieg Russlands aus dem Abkommen von Minsk und der Bruch des Völkerrechts durch die angekündigte Entsendung russischer Truppen in die Ukraine dürften nun Stimmen stärken, die einer weiteren Aufrüstung das Wort reden. Das Eintreten für Deeskalation und Abrüstung wird wohl nicht einfacher werden, aber umso notwendiger auf allen Seiten.

Keine Illusionen über die Ziele der russischen Politik

In seiner fast einstündigen Ansprache an die Nation stellte Vladimir Putin nicht etwa die humanitäre Lage der Bevölkerung vor Ort an den Anfang, sondern die Geschichte der Ukraine. Bereits in seinem im Juli 2021 veröffentlichten Artikel «Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer» hatte er der Ukraine den Status des kleinen Bruders Russlands zugewiesen, der sich nicht aufgrund des Drucks von außen zu einem «Anti-Russland» entwickeln solle. In seiner Ansprache an die Nation hat sich die Tonlage Putins nochmal gesteigert: Die Ukraine sei gänzlich von Russland geschaffen worden, genauer vom bolschewistischen Russland. Die eigene Staatlichkeit sei nur ein Geschenk Russlands – zum Nachteil Russlands – gewesen. Und auch nach der Unabhängigkeit habe die Ukraine von Gaslieferungen Russlands profitiert, die mehr wert gewesen seien als alle Zahlungen aus dem Westen. Doch trotz all dieser «Ungerechtigkeiten, dieser Täuschungen und der offenen Ausplünderung Russlands» habe sich die Ukraine in ein Anti-Russland verwandelt. Die NATO dränge in die Ukraine – dies sei eine Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands. Deshalb habe Russland nun handeln müssen.

Die russische Geschichtspolitik ist nicht erst seit dem letzten Jahr imperial ausgerichtet. Dass sie sich dabei auch auf die Errungenschaften der Sowjetunion im Kampf gegen den Faschismus beruft, sollte Linke nicht davon abhalten, hinter die Fassade zu schauen. Es braucht also neben der Kritik der europäischen oder ukrainischen Geschichtspolitik auch gerade von der Linken eine kritische Analyse der russischen Geschichtspolitik, die nicht mit der Erinnerungskultur der russischen Gesellschaft in eins gesetzt werden kann. Denn Geschichtspolitik wird von der gegenwärtigen Regierung zur Legitimation aggressiven staatlichen Handelns und zur Verschärfung von Konflikten genutzt.

Das Ende der Verhandlungen – der Beginn neuer Kampfhandlungen?

Bei der Betrachtung all dieser Verhandlungen und Rhetorik darf eines nicht vergessen werden: Es leben Menschen im Konfliktgebiet, die seit acht Jahren unmittelbar unter den Kriegshandlungen leiden. Die OSZE-Beobachtungsmission verzeichnete in den letzten Tagen eine starke Zunahme der Verstöße gegen die Waffenruhe – oder um es weniger technisch auszudrücken: Schusswechsel an der Grenze und auch den Beschuss von zivilen Einrichtungen. Ein Blick auf die Karte zeigt dabei, die Konfliktlinie verläuft nicht durch ein Niemandsland, sondern durch dicht besiedeltes Gebiet, entlang von Großstädten. Das heißt, jegliche Eskalation, jeder Beschuss kann auch zu zivilen Opfern führen und tat es in den letzten Tagen auch. Eine Deeskalation ist also dringend geboten im Sinne der Menschen vor Ort, die zum Spielball der großen Politik geworden sind.

Ob es zu einer weiteren Eskalation kommt, ist nicht klar. Nach der Rede Putins rätselten noch einige Analysten, aber auch Linke aus Russland und der Ukraine darüber, ob die Anerkennung der Separatistenrepubliken auch die unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung stehenden Teile der Donezker und Luhansker Gebiete einbezöge. Am Dienstagabend hat Putin klargestellt, die Anerkennung der Separatistenrepubliken umfasst nicht nur das de facto unter der Kontrolle der Separatisten stehende Gebiete, sondern darüber hinaus die gesamten Donezker und Luhansker Gebiete Ein Versuch der Separatisten, mit militärischen Mitteln den derzeitigen Verlauf der Grenze zu verändern, ist also nicht ausgeschlossen.

Die Ukraine hat bis jetzt noch nicht weiter militärisch auf Russlands Anerkennung der Separatistenrepubliken und die Ankündigung von Truppenentsendungen reagiert. Es kam zwar zur Einberufung der Reservisten in der Ukraine, aber zu keiner Offensive gegen die Separatistenrepubliken. In seiner ersten Ansprache an die Nation nach der Ankündigung von Putin vertrat Selenskyj die Position, dass der Konflikt von ukrainischer Seite nur mit friedlichen Mitteln zu lösen sei. Abzuwarten ist, ob er diese deeskalierende Position unter dem Druck der nationalistischen Opposition beibehalten kann. Die westlichen Partner der Ukraine sollten Selenskyj für diesen Kurs den Rücken stärken, etwa über das Angebot eines Wiederaufbauprogramms für die von der ukrainischen Regierung kontrollierten Regionen oder über weitere Wirtschaftshilfen. Diese sollten an die Bedingung geknüpft sein, nicht gewaltsam auf die Anerkennung der Separatistenrepubliken zu reagieren.

Und die Linke?

In der Ukraine ist die Linke seit Langem in einer defensiven Position. Das nationale Meisternarrativ in der Ukraine ist seit 2014 eindeutig nationalistisch und antikommunistisch ausgerichtet. Das 2015 in der Ukraine verabschiedete Dekommunisierungsgesetz verbietet die öffentliche Bezugnahme auf viele linke historische Vorbilder und Symbole, etliche Straßen wurden umbenannt. Auch wird die Linke als prorussisch diffamiert. Dabei versuchen die Linken und progressive Kräfte in der Ukraine, für eine kritische und differenzierte Wahrnehmung der ukrainischen Geschichte zu streiten. Die linke Organisation Socialnyj Ruch rief im aktuellen Konflikt zur Deeskalation auf. Taras Bilous, eines ihrer Mitglieder, schlug beispielsweise die Entsendung von UN-Friedenskräften in die Konfliktregion vor. Es ist zu befürchten, dass mit einer weiteren Eskalation die nationalistischen und extrem rechten Kräfte noch größeren Zulauf erhalten werden. Ihre Positionen spiegeln nicht die Mehrheitsmeinung in der Ukraine wider, aber sie sind ein lautstarker Teil der Zivilgesellschaft, der die Regierung immer wieder mit Protesten auf den Straßen unter Druck setzt.

Die weitere Stärkung der Rechten durch die derzeitige Eskalation schränkt auch die Räume für die Linke ein, soziale Probleme zu thematisieren. Dabei wäre dies nun umso nötiger. Denn sowohl in der Ukraine als auch in Russland wird sich die materielle Situation der Menschen verschlechtern. Dies zeichnete sich in der Ukraine bereits in den letzten Wochen ab. Die Angst vor einem Krieg belastet die gesamte Gesellschaft. Ausländische Investitionen bleiben aus und die Griwna fällt im Kurs, was die Kaufkraft der Ukrainer*innen senkt. Dasselbe trifft auf Russland zu, wo der Rubelkurs infolge der Anerkennung der Separatistenrepubliken einbrach, was die ohnehin hohe Inflation in Russland noch anheizen wird.

Deeskalation jetzt

Die nächsten Tage werden zeigen, ob zumindest eine weitere Eskalation vermieden werden kann. Dass es zu einem Einfrieren des Konflikts kommt, ist durch die Anerkennung der gesamten Gebiete der Oblasti Donezk und Luhansk als Gebiet der Separatistenrepubliken seitens Russlands unwahrscheinlich geworden. Zudem wurden Verhandlungen zwischen den USA und Russland, zum Beispiel das für diesen Donnerstag geplante Treffen in Genf des US-amerikanischen Außenministers Blinken mit seinem russischem Amtskollegen Lawrow, abgesagt. Eine friedliche Beilegung des Konflikts in der Ostukraine und eine von allen Seiten akzeptierte Sicherheitsarchitektur in Europa sind nun in weite Ferne gerückt. Für die Menschen vor Ort ist zu hoffen, dass es zumindest zu keiner weiteren militärischen Eskalation in diesem Krieg kommt, der seit acht Jahren andauert und bereits Tausende Opfer gefordert hat.