Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine Die geopolitischen Konsequenzen der Eskalation des Ukrainekonflikts

Von Ingar Solty

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Ingar Solty,

Protest vor der russischen Botschaft in Berlin, 24.2.2022 IMAGO / A. Friedrichs

Für alle Menschen, die in Europa an Frieden und Sicherheit interessiert sind, in der Ukraine, in Osteuropa, in Russland und in Westeuropa war der 22. Februar 2022 ein rabenschwarzer Tag. Noch schwärzer ist der 24. Februar, da Russland einen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland Ukraine begonnen hat, der durch nichts gerechtfertigt werden kann. Russland muss diesen Krieg sofort und ohne Bedingungen beenden, um den Weg zurück an den Verhandlungstisch freizumachen.

Mit der Bombardierung von Zielen in der Ukraine und dem Einmarsch von Bodentruppen hat Russland sein volles Aggressionspotenzial gezeigt und das Völkerrecht gebrochen. Die Leidtragenden sind die Ukrainer*innen, die sich jetzt in einer Kriegssituation wiederfinden, die höchstwahrscheinlich sehr große Fluchtbewegungen aus allen Landesteilen hervorrufen wird. Die Eskalation des Konflikts durch Russland ist unerträglich und durch nichts zu rechtfertigen. Für Frieden und Sicherheit der Menschen in der Ukraine, für die territoriale Integrität des Landes hätte es friedliche Lösungen gegeben. Es hätte perspektivisch auch bessere Lösungen für die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands gegeben – und auch für Frieden und Sicherheit in ganz Europa. Was jetzt aller Voraussicht nach passieren wird, ist weder im Interesse der ukrainischen noch der russischen noch der westeuropäischen Zivilbevölkerung – und, denn auch ihr Staat ist ein ganz wesentlicher Akteur, genauso wenig im Interesse der US-amerikanischen Zivilbevölkerung.

Am Abend des 21. Februar 2022 sprach der russische Präsident Wladimir Putin den sezessionistischen sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der ostukrainischen Donbass-Region die Anerkennung als souveräne Staaten aus. Es ist Ausdruck von Doppelmoral, wenn der russische Präsident einerseits den Donbass-Republiken heute das Recht auf Sezession zugesteht, der russische Staat aber dasselbe Recht den Tschetschen*innen mit zwei blutigen und verheerenden Kriegen (1994–1996, 1999–2009) vorenthalten hat.

Vor der Anerkennung der Donbass-Republiken hat Russland in den letzten zwei Jahren mehr als 700.000 russische Pässe an einen Teil der Bevölkerung in den Separatistengebieten ausgeteilt. Die ukrainische Regierung hat die Regierungen in Luhansk und Donezk bisher nicht anerkannt und ist seit der Machtübernahme durch den – kurze Zeit später in Wahlen bestätigten – Übergangspräsidenten Poroschenko mit Waffengewalt gegen die Abtrünnigen vorgegangen und hat sie – auch mit westlichen Waffen – auf einen Teil ihres ursprünglichen Territoriums zurückgedrängt. Der russische Staat rechtfertigt seine Handlungen nun mit der Verhinderung eines «Genozids» an der russischstämmigen Bevölkerung in der ökonomisch stark mit Russland verbundenen Ostukraine. Er tut dies, weil er den Angriffskrieg nach innen und vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen muss. Es handelt sich dabei um eine typische monströse Kriegslüge.

Zugleich reklamiert der russische Präsident damit im Namen der «Auslandsrussen» eine Art «Schutzverantwortung» für sich, wie sie zuvor, etwa in Libyen 2011, vom Westen und der NATO als Rechtfertigung für eigene kriegerische Maßnahmen und Regime-Change-Politik vorgebracht wurde.[1] Darüber hinaus kopiert die Abspaltung und staatliche Anerkennung der Donbass-Republiken das westliche Vorbild der Abspaltung und Anerkennung des Kosovo infolge des NATO-Kriegs gegen die «Bundesrepublik Jugoslawien» (Serbien-Montenegro) im Jahr 1999. Und auch die propagandistischen Kriegslügen von einem mutmaßlich unmittelbar bevorstehenden Völkermord, die jetzt Putin als Rechtfertigung anführt, ähneln sich, denn auch der Bombardierung der «Bundesrepublik Jugoslawien» (Serbien-Montenegro) ging seitens des damaligen deutschen Verteidigungsministers Rudolf Scharping (SPD) die Erfindung und Propagierung der Existenz eines serbischen «Hufeisenplans» voraus, das heißt eines vermeintlich unmittelbar bevorstehenden Genozids an der kosovo-albanischen Bevölkerung durch die serbisch-montenegrinische Regierung. Damit hat der Westen dem russischen Staat eine Blaupause für sein völkerrechtswidriges Agieren geliefert. Das rechtfertigt nichts. Aber es erklärt, wie dominant die Logik des Militärischen und das Recht des Stärkeren heute in der Politik geworden sind.

Die Frage ist, welche Kriegsziele Russland verfolgt. Es hat sich gezeigt, dass das russische Vorgehen nicht allein auf die Stationierung russischer «Schutztruppen» im Donbass ausgerichtet war. Das hätte paradoxerweise den Konflikt gerade durch die Überlegenheit russischer Waffengewalt eingefroren, weil die USA und die NATO signalisiert haben, für die Ukraine nicht in einen offenen Krieg mit der Atommacht Russland zu treten. US-Präsident Joe Biden hatte zuvor bereits erklärt, dass man Russland sanktionieren und an die Ukraine Waffen und Geld schicken werde, aber keine eigenen Truppen.

Der russische Präsident hat in seiner jüngsten Rede in der Nacht vom 23./24. Februar 2022 als russische Kriegsziele die «Entmilitarisierung» und die «Entnazifizierung» der Ukraine erklärt. Außerdem sollen die Verantwortlichen für Gewalttaten im Kontext des ukrainischen Bürgerkriegs, darunter die Täter der Angriffe auf das Gewerkschaftshaus in Odessa, gefasst werden, so die Erklärung.

Die Luftangriffe in allen Teilen des Landes dienen offenbar dazu, militärische Infrastruktur zu zerstören, treffen aber auch zivile Infrastruktur. Es ist fraglich, welchen Zweck dies erfüllen soll: Geht es um kurzfristige Ziele im Krieg gegen die Ukraine oder um längerfristige wie die Zerstörung von Infrastruktur, die der Ukraine im Falle einer Westbindung als Aufmarschgebiet für NATO-Truppen dienen könnte? Letzteres wäre zweifellos kurzsichtig, weil Russland mit den verschiedenen NATO-Osterweiterungsrunden sehr viele andere direkte Grenzen mit NATO-Staaten hat, vom Baltikum bis nach Südosteuropa. Die Annahme ist also naheliegend, dass es um unmittelbare Kriegsziele geht und die Vorbereitung von ungehindert agierenden Spezialkräfteoperationen auf ukrainischem Territorium.

Nichtsdestotrotz ist auch klar: Mit der Formel «Entnazifizierung» weckt Putin nicht nur populare und populäre Erinnerungen an den «Großen Vaterländischen Krieg» und die Befreiung Europas vom deutschen Faschismus durch die Rote Armee und suggeriert eine Wiederholung der Geschichte, in der russische Truppen gegen den Faschismus nach Westen zogen, sondern er lässt sich offenbar die Option auf eine noch viel weiträumigere Operation mit Bodentruppen, ja sogar auf «Regime Change» in Kiew offen. Zwar ist die Zahl der bislang mobilisierten Streitkräfte von 120.000 bis 150.000 russischen Soldaten wohl zu gering für einen solchen Krieg. Die USA hatten etwa im Golfkrieg 1990/91 mit einem viel kürzeren Grenzverlauf 400.000 Truppen mobilisiert. Aber da das Aufmarschgebiet unmittelbares Grenzland ist, ist ein entsprechend schnelles Nachrücken durchaus denkbar und ein solcher Regime-Change-Krieg nicht auszuschließen.

Denkbar ist auch, dass die Zerstörung der militärischen Infrastruktur in erster Linie die Separatisten der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk unterstützen soll. Zwar hatte der russische Präsident in der – zweifellos inszenierten und von langer Hand geplanten – Sitzung im russischen Sicherheitsrat die von Einzelnen vorgetragenen Forderungen in diese Richtung zurückgewiesen. Außerdem wurde in den russischen «Genozid»-Argumentationen immer von einer Bevölkerungszahl von vier Millionen «Schutzbedürftigen» gesprochen, die derjenigen in den jetzigen Grenzen der «Volksrepubliken» entspricht. Aber trotzdem ist nicht auszuschließen, dass die Donbass-«Volksrepubliken» jetzt – mit russischer Unterstützung – Vorstöße unternehmen, die gegen das ukrainische Militär und die mit ihm verbündeten rechtsextremen Asow-Milizen gerichtet sind, um verlorene Gebiete – Mariupol usw. – zurückzuerobern. Das wäre das Ende des ohnehin äußerst brüchigen Waffenstillstands im ukrainischen Bürgerkrieg seit 2014.

Die russische Regierung weiß, dass die USA und die NATO nicht bereit sind, für die Ukraine in einen Konflikt mit einer anderen Atommacht zu treten. Als Nicht-NATO-Mitglied gilt auch kein Bündnisfall nach NATO-Artikel 5. Zugleich ist es fraglich, welche Interessen Russland an einem solchen offenen Krieg mit dem ukrainischen Militär haben sollte. Die Perspektive «Regime Change» könnte darauf ausgerichtet sein, den prorussischen Führer der «Oppositionsplattform – Für das Leben», Viktor Medwedtschuk, zum Präsidenten zu machen und damit eine Kraft zu installieren, die außenpolitisch ähnlich orientiert ist wie früher die «Partei der Regionen», die unter Präsident Janukowitsch bis 2014 das Land regierte. Eine solche Strategie wäre aber einigermaßen selbstschädigend, um nicht zu sagen: verrückt. Zwar lag Medwedtschuks Oppositionspartei bis zu seinem – im Mai 2021 vom ukrainischen Nationalen Sicherheitsrat erklärten – Hausarrest wegen der Unzufriedenheit mit der ökonomischen Entwicklung und der Korruptionsskandale des (ursprünglich gegen Korruption angetretenen) Präsidenten Selenskij in einigen Wahlumfragen vorne.

Das jetzige russische Vorgehen und die russische Gewalt stärken in der ukrainischen Bevölkerung aber selbstredend die Überzeugung, dass man zur eigenen Sicherheit die EU- und NATO-Mitgliedschaft anstreben müsse. Gab es sie bislang nicht, so wird es nach diesem Krieg dauerhafte Mehrheiten für eine solche Perspektive geben, zumal in der Ostukraine die Gegner*innen einer solchen Entwicklung nicht mehr ins Gewicht fallen werden, sie wären vermutlich nicht mehr Teil der Ukraine. Das bedeutet aber auch, dass eine dauerhafte Neutralität oder gar Ostbindung der Ukraine nur mit formeller, auch militärischer Kontrolle des Landes durch Russland denkbar wäre. Im Übrigen stünden einer solchen Ukraine eine ganze Reihe von dann umso stärker westorientierten NATO-Staaten mit Grenzen zu Russland gegenüber, die jetzt schon – wie das Baltikum – immer wieder Aufmarschgebiete für NATO-Truppen gewesen sind.

So oder so: Das russische Vorgehen ist der bisherige Schlusspunkt in den Entwicklungen seit 2014. Nach der Euromaidan-Protestbewegung in Kiew – die nicht, wie teilweise kolportiert, von außen/vom Westen gesteuerten wurde –, dem Sturz der bisherigen, ostukrainisch orientierten Janukowitsch-Regierung, dem Aufstand in der Ostukraine und dem Beginn des ukrainischen Bürgerkriegs (gegen die zu «Terroristen» erklärten Anführer des Donbass-Aufstands) sah der 2015 ausverhandelte Friedensprozess «Minsk-II» vor, dass die beiden Parteien einen Waffenstillstand vereinbaren und aufrechterhalten, dann in einen Dialog miteinander treten und schließlich relativ weitreichende Autonomierechte des Donbass in einem vereint bleibenden Land aushandeln, um dadurch auch den von Russland tolerierten, wenn nicht geförderten Zufluss von russisch-nationalistischen Kämpfern und Waffen zu stoppen.

Dem Normandie-Format, einem diplomatischen Gremium unter Beteiligung der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs, wohnte das Versprechen inne, dass ukrainische und russische Sicherheitsinteressen nicht über die Köpfe der Ukrainer*innen in Washington und Moskau hinweg entschieden werden würden und dass die Europäer*innen in einem «gemeinsamen Haus Europa» für ihre eigene Sicherheit sorgen könnten. Aus friedenspolitischer Perspektive hätte das wünschenswerte Ergebnis dieses Formats die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands sein können, die beinhaltet hätte, dass sich Russland zur Einhaltung des vom russischen Staat gebrochenen Budapest-Memorandum von 1994 bekennt und die Sicherheit der Ukraine garantiert. Am Ende hätte das Europa stehen können, dessen Aufbau nach 1991 verpasst wurde: eine atomwaffenfreie Zone intraeuropäischer Kooperation als Alternative zur NATO und zu den verschiedenen NATO-Osterweiterungsrunden 1999 (Polen, Tschechien, Ungarn), 2004 (Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Slowakei und die baltischen Staaten), 2009 (Albanien, Kroatien), 2017 (Montenegro) und 2020 (Nordmazedonien), die Russland als Bedrohung seiner eigenen Sicherheit ansieht.

Die aktuellen Entwicklungen in Osteuropa haben mindestens sechs mittel- bis langfristige geopolitische Konsequenzen, die besorgniserregend sind.

Erstens: Die Ukraine ist durch das Zerren aus West und Ost, das lange vor 2014 und lange vor der Krim-Annexion durch Russland begann, endgültig zerrissen. Auch der Minsk-II-Prozess, der auf einen innerukrainischen Waffenstillstand, Dialog zwischen Kiew und den Sezessionsgebieten und einen Autonomiestatus in einem territorial geeinten Staat abzielte und der von der Regierung in Kiew mit Verweis auf die «Illegitimität» der «Volksrepubliken» blockiert wurde, ist damit Geschichte. Das Gleiche gilt für das Normandie-Format, das heißt die Verhandlungen zwischen der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland, die als Versuch gewertet werden können, als Europäer*innen selbst und ohne die USA über unser eigenes Schicksal zu entscheiden.

Zweitens: Mit der nun endgültigen Spaltung der Ukraine gehen in einem weiteren osteuropäischen Land mit junger Nationalstaatlichkeit die gelebte Multiethnizität und Multikulturalität nun dauerhaft verloren, sodass sich wohl auf beiden Seiten die nationalistische Homogenisierungspolitik verschärfen wird, die Familien und ihre jeweilige multiethnische, multilinguale und auch geschichtspolitisch und ideologisch diverse Geschichte – zwischen Stolz auf das nationalistisch-nazikollaborationistische Erbe einerseits und Stolz auf das sowjetische Erbe und den Sieg im «Großen Vaterländischen Krieg» über den Faschismus andererseits – zerreißt. Dass bei dieser Politik auf beiden Seiten wohl auch Antisemitismus und Antiziganismus in irgendeiner Form eine Rolle spielen werden, ist naheliegend. Wer sich an die furchtbare Homogenisierungspolitik in Mittel- und Osteuropa vor (und unter anderen Vorzeichen auch noch nach) 1945 erinnert, den lehrt diese Aussicht das Fürchten.

Drittens drohen damit auch Spillover-Effekte in anderen jungen Nationalstaaten in Osteuropa (wie etwa in Ungarn mit den dortigen großungarischen Träumen in Bezug auf die Auslandsungarn in Rumänien, der Slowakei usw.). Denn wenngleich es auch in den russisch-sezessionistischen Gebieten Abchasien und Südossetien keine formelle Einverleibung durch den russischen Staat gab und diese wohl auch jetzt nicht zu erwarten ist (die Krim mit der Schwarzmeerflotte hatte für Moskau eine ganz andere machtpolitische Bedeutung als die Donbass-Republiken), sind in dieser spezifischen Form der Neugrenzziehung durch Sezessionen Spillover-Effekte in anderen Regionen der postsowjetischen Staaten, ebenso wie in der restlichen Welt, zu befürchten, die viel Gewalt und zivilgesellschaftliches Leid mit sich bringen dürften.

Viertens: Die Rede Putins vom 21. Februar zeigt, dass man auch in Russland die Hoffnung auf das «gemeinsame Haus Europa» aufgegeben hat. Die im Januar 2022 erhobenen Forderungen der russischen Regierung an den Westen, zurückzukehren zur Situation nach 1991 und dem Versprechen der USA, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, keine Truppen und auch keine Atomwaffen (mit fünfminütiger Reaktionszeit) an der russischen Grenze zu stationieren, waren angesichts der Kräfteverhältnisse im Westen und der in fünf NATO-Osterweiterungsrunden vom Westen geschaffenen Fakten illusorisch. In den letzten 25 bis 30 Jahren ist mit der NATO-Osterweiterung, dem NATO-Krieg gegen Serbien-Montenegro, dem Irakkrieg und dem Libyenkrieg einerseits und der Krim-Annexion, der Legitimierung der Separatistengebiete im Donbass und dem aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine andererseits – von beiden Seiten so viel Porzellan zerschlagen worden, dass das gegenseitige Vertrauen nachhaltig erschüttert worden ist. Die falsche Politik muss nun die Zivilbevölkerung in der Ukraine, in Osteuropa, in Russland, in Westeuropa und in den USA ausbaden.

In einem neuen Zeitalter der Großmachtrivalität droht ein neuer «Eiserner Vorhang», der von beiden Seiten gestählt wird, der mitten durch Europa verläuft und der die gefährliche Blockbildung in «West» (bis zur Ukraine) einerseits und ein von China und Russland angeführtes Bündnis «Ost» vertieft. Auch das gemeinsame Statement der chinesischen und russischen Regierung anlässlich der Eröffnung der Olympischen Spiele in Beijing 2022 deutet darauf hin, dass man sich in Moskau und Beijing auf einen solchen neuen Kalten Krieg einstellt, gleichwohl die chinesische Regierung am 22. Februar ihr Bedauern über die Eskalation in der Ukraine äußerte, ein Zurückkehren zum Dialog anmahnte und betonte, mit allen Konfliktbeteiligten weiterhin zusammenarbeiten zu wollen, am 24. Februar aber im russischen Vorgehen keinen Angriff sah. Damit aber wird auch das globale Wettrüsten weitergehen, das nicht nur reale Kriegsgefahren mit sich bringt, sondern auch Ressourcen bindet, die zur Bearbeitung der globalen Menschheitsfragen – des Hungers und der sozialen Frage, der laufenden Klimakatastrophe – dringend gebraucht werden.

Fünftens: Russland hat mit seinem Angriff endgültig das «Budapester Memorandum» von 1994 zerstört, in dem sich Russland im Gegenzug für den ukrainischen (sowie kasachischen und belarussischen) Verzicht auf (sowjetische) Atomwaffen dazu verpflichtet hatte, die territoriale Integrität der Ukraine (und der der anderen beiden Staaten) zu respektieren. In der Ukraine werden infolgedessen auch die teilweise agrarischen Westoligarchen gestärkt werden, die aus finanziellem Eigeninteresse eine stärkere Bindung an die EU und den Westen wollen, weil sie im Gegensatz zu den binnenwirtschaftlich- bzw. russlandorientierten, industriellen Ostoligarchen durch eine solche nichts zu verlieren, sondern viel zu gewinnen haben.

Womöglich und verständlicherweise wird, wie gesagt, der Anteil der Bevölkerung steigen, der einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft stellen will. Bis 2014 war nur ein kleiner Teil der Bevölkerung dafür, in den letzten Jahren stieg die Zustimmung für einen Beitritt zur NATO und ist spätestens jetzt eine Mehrheitsmeinung. Die ukrainische Verfassung sowie die NATO-Statuten stehen bzw. standen einer solchen Mitgliedschafts-Perspektive bislang zwar im Weg: Die ukrainische Verfassung schrieb dem Land bis 2019 einen neutralen Status vor[2] und die NATO nimmt Länder, die sich im Konfliktfall befinden, nicht auf. Nichtsdestotrotz dürfte dies die Richtung sein, in die die dominanten Westeliten und die Bevölkerung der (West-)Ukraine angesichts der Eskalation des Konflikts drängen werden.

Eine solche Perspektive ist aus (west-)ukrainischer Sicht natürlich absolut nachvollziehbar. Die osteuropäischen Staaten haben genauso wie Russland legitime Sicherheitsinteressen, die auch auf historischen Erfahrungen fußen. Gerade in Deutschland, das die osteuropäischen Länder im 20. Jahrhundert mehrfach – 1917 ff., 1939, 1941 – überfallen, geteilt und kolonisiert hat und auch maßgeblich an der dreifachen polnischen Teilung im 18. Jahrhundert beteiligt gewesen ist, müssen sie sensibel behandelt werden. Dazu gehört aber eben auch die Erkenntnis, dass die kleinen osteuropäischen Länder ihre eigenen Sondererfahrungen mit Russland gemacht haben, das von den polnischen Teilungen bis zum Hitler-Stalin-Pakt (und dem polnischen Trauma Katyn) ebenfalls offensiv nach Westen agierte und Teile reannektierte, die man mit dem einseitigen Friedensschluss von Brest-Litowsk mit erheblichen Gebietsabtretungen 1917 durch Lenin verloren hatte. Die Sicherheitsinteressen nicht nur Russlands sind legitim, sondern – das müsste spätestens jetzt klar sein – auch die Sicherheitsinteressen der osteuropäischen Staaten, von denen jetzt eines von russischem Boden aus angegriffen wird.

Nichtsdestotrotz wäre ein NATO-Beitritt der Ukraine mit Blick auf Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Hoffnung auf ein atomwaffenfreies Europa eine Katastrophe, denn er würde im schlimmsten Fall bedeuten, dass sich in der jetzigen Ukraine die westlichen NATO-Atommächte und die Atommacht Russland direkt gegenüberstehen. Die bündnispolitische Souveränität der Ukraine wird vom Westen zu Recht angeführt. Die Sicherheit der Ukraine (oder anderer osteuropäischer Staaten, wie der baltischen) war und ist nicht ohne ukrainische Beteiligung in Moskau oder Washington auszuhandeln. Aber: Es ist anzumerken, dass es auch der Westen, wenn es seinen geopolitischen Interessen entgegenlief, mit der bündnispolitischen Souveränität oft nicht ernstnahm – etwa wenn das revolutionäre Kuba gegen US-amerikanische Invasionen wie die in der Schweinebucht vom April 1961 im Folgejahr die Sowjetunion als ihre Schutzmacht gegen US-imperialistische Gewaltpolitik ersuchte oder wenn der venezolanische Staat sich in der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre bündnispolitisch China, Russland und dem Iran annäherte, worauf die USA mit Destabilisierungs-, Regime-Change-Politik und Invasionsplänen (von Präsident Donald Trump) reagierten.

So unwahrscheinlich nach der derzeitigen Eskalation die Perspektive einer kollektiven europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands und mit wechselseitigen Sicherheitsgarantien geworden ist, umso alternativloser scheint diese Perspektive trotzdem zu sein, wenn man die frontale Konfrontation zwischen der NATO und einem russisch-chinesischen Wirtschafts- und Militärblock mit all ihren Konsequenzen auch für die großen Menschheitsprobleme – von der Friedens- über die soziale Frage bis hin zur Klimakatastrophe – verhindern will.

Sechstens: Deutschlands Versuch, durch den Verzicht auf (Offensiv-)Waffenlieferungen an die Ukraine und die Betonung des Normandie-Formats eine Vermittlerrolle spielen zu können, ist leider ebenfalls gescheitert. Im Ergebnis bekommen auch die USA das, was sie als geopolitische Hauptziele lange verfolgt haben: zum einen die Schwächung Russlands – durch Sanktionen, durch das (potenzielle) Ende von Nord Stream 2 (Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck von Bündnis 90/Die Grünen hat es, den US-Forderungen für den Fall einer «russischen Invasion» nachgebend, auf Eis gelegt) und durch US-Energieexporte nach Westeuropa – und zum anderen die energie- und damit geopolitische Abhängigkeit Deutschlands und Westeuropas von den USA. Diese Abhängigkeit ist eines der effektivsten Druckmittel, Deutschland und die westeuropäischen NATO-Staaten zu der von den USA avisierten transatlantischen Arbeitsteilung im imperialen «Management» des globalen Kapitalismus zu bringen, in der «wir» den USA mit mehr «militärischem Engagement» von Osteuropa über den Mittleren Osten bis nach Nordafrika den Rücken freihalten sollen, damit sie ihre schwindenden Machtressourcen voll und ganz auf ihren Systemkonflikt mit China richten können. Die Aussicht auf eine «strategischen Autonomie» Europas ist damit deutlich geschwächt.


[1] Tatsächlich ging auch dem deutschen Überfall auf Polen 1939 die gleiche Argumentation voraus, man müsse die «Auslandsdeutschen», also die deutsche Minderheit in Polen, vor antideutschen Pogromen schützen.

[2] Die Verfassungsänderung bezieht sich auf die Präambel, die nun eine Orientierung auf die EU und die NATO beinhaltet. Sie wurde im Herbst 2019 vorangetrieben durch den damaligen Präsidenten Poroschenko, der sich damit einen Auftrieb in seinem Wahlkampf erhoffte. Da sich die Änderung nur auf die Präambel bezieht, wird sie unter Verfassungsjurist*innen in der Ukraine kontrovers diskutiert. Manche argumentieren, sie hätte einen genauso wenig bindenden Status wie der in der US-Verfassung niedergelegte «pursuit of happiness». Der neue Präsident Selenskij bezieht sich seit einem Jahr direkt auf die Präambel und untermauert damit den Anspruch, eine NATO-Mitgliedschaft anzustreben. Diese Hinweise verdanke ich Ivo Georgiev, dem Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew.