Nachricht | Osteuropa - Ukraine Warum sehen wir in Russland keine Massendemonstrationen gegen den Krieg?

Eine Frau demonstriert in Moskau gegen den Krieg in der Ukraine. Die Demonstrant*innen werden kurz darauf verhaftet (28. Februar 2022).  Imago / NurPhoto / Daniil Danchenko

Innerhalb weniger Tage fanden in verschiedenen Ländern der Welt Antikriegsdemonstrationen mit Tausenden Teilnehmer*innen statt. Westliche Beobachter*innen fragen sich, warum es in Russland keine größeren Proteste gibt. Unterstützen die Russ*innen wirklich die militärische Invasion der Ukraine? Wir wollen versuchen, diese Frage verständlich zu beantworten.

Seit den großen Protesten von 2011/12 wurden in Russland nach und nach Maßnahmen ergriffen, um das Demonstrations- und Versammlungsrecht der Bürger*innen immer weiter einzuschränken. Die Anmeldeverfahren für öffentliche Veranstaltungen wurden komplizierter, die zur Verfügung stehenden Orte für legalen Protest weniger und die Geldstrafen für Teilnehmer*innen unangemeldeter Kundgebungen und deren Organisator*innen höher.[1]

Keine der letzten großen Protestaktionen in Russland konnte offiziell angemeldet werden. Es waren Volksversammlungen oder auch Spaziergänge im Stadtzentrum, und alle endeten mit Massenverhaftungen und oft auch mit Strafverfahren gegen einzelne Teilnehmer*innen.

Darüber hinaus wurden 2021 die wichtigsten Organisationen, die Einfluss auf die russische Opposition hatten, fast vollständig zerschlagen. Dies gilt natürlich insbesondere für den FBK [den von Alexej Nawalny gegründeten «Stiftung zum Kampf gegen die Korruption»; Anm. d. Übers.] und die mit ihm verbundenen Strukturen. Auch wenn die Positionen innerhalb der russischen Protestbewegung sehr unterschiedlich sind, muss man zugeben, dass die Aktivitäten des FBK in Bezug auf die organisatorischen Strukturen eine große Rolle gespielt haben.

Es ist durchaus verständlich, warum die Proteste in den letzten Tagen so klein ausgefallen sind: Als Organisator*in eines Protests trägt man eine noch größere rechtliche Verantwortung als die Teilnehmer*innen, und zur «Protestorganisator*in» kann man allein schon durch einen Aufruf zur Kundgebung in sozialen Netzwerken werden. Die Zahl derjenigen, die bereit sind, die Verantwortung für die Organisation einer Demonstration zu übernehmen, ist deshalb sehr klein, zumal dieser Protest von vielen mit einem Verrat an der Heimat gleichgesetzt wird.

Und trotzdem gibt es in St. Petersburg, wo der Protest am stärksten war, die Bewegung Vesna (Frühling). Auf ihrer Webseite heißt es: «‹Vesna› sind junge aktive Bürger*innen Russlands, die durch die Werte Freiheit und Gleichheit vereint sind.» Auf den Seiten eben jener Bewegung werden aktuelle Informationen über den Zeitpunkt und Ort von Protestaktionen veröffentlicht. Das ist natürlich gefährlich und die Mitglieder dieser Bewegung sind sich der Risiken offensichtlich auch bewusst.

Neben dem öffentlichen Protest gibt es in Russland jedoch längst auch andere Praktiken des Widerstands. Je komplizierter der Genehmigungsprozess für öffentliche Veranstaltungen in all den letzten Jahren geworden ist, desto kreativer agierte die Zivilgesellschaft beim Umgehen dieser Verbote: Menschen verbreiten in sozialen Netzwerken Hunderte von Fotos mit Flugblättern, sprühen Graffitis und tragen Slogans gegen den Krieg auf ihrer Kleidung und auf ihren Corona-Masken. Zudem wurden an allen erdenklichen Orten in russischen Städten Aufkleber mit Parolen gegen den Krieg verklebt.

Das Ziel dieser Aktionen ist der direkte Dialog. So steht beispielsweise im Manifest der Gruppierung «Feministischer Widerstand gegen den Krieg»: «Wir haben für unseren Aufruf gegen den Krieg das allgemein bekannte virale Format des Kettenbriefs gewählt. Leiten Sie einen Brief mit einem Bild über WhatsApp an Ihre älteren Verwandten weiter, senden Sie ihn an die Nachbarschaftsgruppenchats und Gruppen bei Odnoklassniki [soziales Netzwerk, das heute vor allem von älteren User*innen genutzt wird; Anm. d. Übers.]. Diese Aktion ist weder ironisch noch lustig gemeint. Nehmen Sie sie ernst. Sie kann eine wirklich virale und informative Wirkung haben, wenn wir uns anstrengen.»

Der Soziologe Grigoriy Yudin, der übrigens am 24. Februar 2022 auf dem Puschkin-Platz in Moskau festgenommen wurde, stellt fest, dass die Menschen in Russland größtenteils versuchen würden, sich von der Politik fernzuhalten. Und unter den Bedingungen eines Krieges, unter denen es sehr schwierig sei, sich vom Informationsfluss zurückzuziehen und nicht den Emotionen nachzugeben, würden die Menschen dazu neigen, sich mehr auf ihre Regierung zu verlassen. Denn Krieg sei in jedem Land eine Zeit des Zusammenrückens, und es ist immer sehr schwer, «an der Berechtigung des Krieges, den dein Land gerade führt, zu zweifeln».

Nun erinnern sich viele Menschen an den Anfang der 1990er-Jahre, als das ihnen vertraute Land und die ihnen vertraute Ordnung vor ihren Augen auseinanderbrachen. Nur wenige einfache Bürger*innen erwarteten damals eine solche Entwicklung der Ereignisse. Trotz der Berichte in der westlichen Presse über das Zusammenziehen von russischen Truppen an den Grenzen zur Ukraine wurde im russischen Fernsehen verkündet, die Berichte seien eine Provokation. Der Westen würde sich auf keine Schritte einlassen, um die Sicherheit Russlands zu gewährleisten.

Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Konfrontation zwischen Russland und der NATO eine wirklich langjährige Vorgeschichte hat und dass die grundsätzliche Legitimierung des derzeitigen Vorgehens darauf aufgebaut wird. Dies rechtfertigt das Vorgehen der russischen Seite nicht, muss aber bei der Analyse der Ansichten der russischen Gesellschaft berücksichtigt werden.

Sprache formt die Wahrnehmung: In Russland wird das aktuelle Geschehen nicht Krieg, sondern Spezialoperation genannt. Laut neuesten Umfragen des staatlichen russischen Meinungsforschungsinstituts VZIOM wird die sogenannte Spezialoperation Russlands von 68 Prozent der Russ*innen eher unterstützt. Gleichzeitig glauben 26 Prozent, dass das Ziel der Operation darin besteht, «die russischsprachige Bevölkerung der beiden selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu schützen». Eine*r von fünf Befragten stimmt der Äußerung zu, dass das Ziel der Operation darin besteht, den Aufbau von NATO-Militärbasen auf dem Territorium der Ukraine zu verhindern. Ein gleich großer Anteil der Befragten glaubt, dass die Operation durchgeführt wird, um eine Entmilitarisierung der Ukraine zu erreichen (20 Prozent). Gleichzeitig sei jedoch jede*r fünfte Befragte (22 Prozent) gegen die Durchführung dieser Spezialoperation.

Wir wissen jedoch nicht, wie viele Russ*innen Einwände erheben würden, wenn bei der Befragung das aktuelle Vorgehen als Krieg bezeichnet worden wäre. Ich glaube, dass der Prozentsatz derjenigen, die sich dagegen aussprechen würden, viel höher wäre.

Einfache Leute aus Russland hatten schon immer Angst vor Umwälzungen, da sich das Land sehr oft im Epizentrum solcher Ereignisse befunden hat. Daher versammelten sich die meisten Bürger*innen am 24. Februar nicht auf öffentlichen Plätzen, sondern an Geldautomaten und vor Apotheken. Sie haben diese Gewohnheit seit dem Zusammenbruch der UdSSR entwickelt und in den letzten 30 Jahren viele Male praktiziert. Und das ist auch eine Art Antwort – die Menschen sind sich der Zukunft nicht sicher, sie vertrauen dem, was geschieht, nicht.

Laut Mobilisierungstheorien müssen Protestierende an ihre Fähigkeit glauben, etwas verändern zu können, um eine erfolgreiche soziale Bewegung zu organisieren. Dieser Glaube der Zivilgesellschaft in Russland an sich selbst ist seit Langem untergraben, daher sind diejenigen, die heute offen protestieren, sehr mutige Menschen, die viel riskieren. Leider kann jedoch die aktuelle militärische Aggression nicht auf den Plätzen in den Städten beendet werden, so gern wir es auch wollten. Die Militärmaschinerie hat zu viele Ressourcen, um sie niederzuschlagen. Von den einfachen Menschen in Russland kann nicht verlangt werden, wozu selbst westliche Sanktionen derzeit nicht in der Lage sind.

Es bleibt zu hoffen, dass die Kriegsparteien zu einem Kompromiss finden und sich gegenseitige Sicherheitsgarantien geben. Nicht durch den Aufbau militärischer Macht und der Sprache der sogenannten Realpolitik, sondern durch die Hinwendung zur Weltgemeinschaft kann verhindert werden, dass Russland und seine Bevölkerung für immer zu Ausgestoßenen hinter einem neuen Eisernen Vorhang werden.

In Solidarität mit den Menschen in der Ukraine.

Anonym aus Russland (Übersetzer: Robert Leichsenring)

1. März 2022, 15 Uhr


[1] Die Möglichkeiten zur Anwendung und Durchsetzung des «Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten» der Russischen Föderation wurden erweitert und die Mindeststrafe für Verstöße gegen die Regelungen zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen von 500 auf 10.000 Rubel (pro Teilnehmer*in) erhöht. Es wurden neue Regelungen zur Beteiligung von Minderjährigen an unerlaubten Aktionen erlassen und Aktionen von Einzelpersonen mit öffentlichen Veranstaltungen gleichgesetzt. In der juristischen Praxis tauchte außerdem der Begriff der «kollektiven öffentlichen Veranstaltung in versteckter Form» auf.

Es wurde eine neue Strafrechtsnorm verabschiedet, die Haftstrafen für wiederholte Verstöße gegen das Verfahren zur Durchführung öffentlicher Veranstaltungen vorsieht. Der Artikel trägt den Spitznamen «Dadinskij-Paragraf», nach Ildar Dadin, der als Erster mithilfe dieses Paragrafen verurteilt wurde.

Laut einem gemeinsamen Bericht des Menschenrechtszentrums Memorial und OVD-Info (ein Projekt des Menschenrechtszentrums Memorial) verschlechtert sich die Situation in Bezug auf die Durchführung öffentlicher Veranstaltungen. Es wird immer schwieriger, Genehmigungen für Aktionen zu erhalten, regionale Behörden lehnen die Durchführung von Veranstaltungen sehr oft aus formalen Gründen ab. Gleichzeitig akzeptieren die staatlichen Behörden unangemeldete Aktionen selbst dann nicht, wenn sie friedlich verlaufen und keinen Schaden anrichten.

Quellen: