Nachricht | Ukraine «Es sollte nicht um den Schutz von Staaten gehen»

Eine feministische Perspektive auf den Ukraine-Konflikt

Information

Autorin

Leandra Bias ,

Ukrainerinnen warten vor dem Einwanderungsbüro in Brüssel, nachdem sie aus der Ukraine geflohen sind. Foto: picture alliance / EPA | STEPHANIE LECOCQ

In der aktuellen Debatte um den Krieg in Europa wird die Aufrüstung der Nationalstaaten in großen Teilen der Bevölkerung befürwortet. Vor diesem Hintergrund hat sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Liandra Bias vom Friedensinstitut swisspeace darüber unterhalten, was dabei aus dem Blick gerät und warum eine feministische Perspektive deshalb wichtig ist.

Russland setzt seinen Angriff auf die Ukraine fort. Vielerorts wird jetzt nach Aufrüstung geschrien. Es wächst die Sorge vor einem Atomkrieg. Was kann in diesem akut angeheizten Klima eine feministische Perspektive bringen?

Die feministische Perspektive rückt den Fokus auf den Menschen, auf das Individuum. Wenn wir von einem Nuklearwaffenarsenal reden, dann reden wir in abstrakten Zahlen, etwa davon, dass es rund 11.000 Waffen in den USA und Russland geben soll. Aber jede einzelne dieser Waffe würde Tausende von Menschen zerstören. Es gibt nichts Schlimmeres als den Einsatz solcher Waffen oder überhaupt darüber zu diskutieren. Und in der Berichterstattung fehlt das. Wir reden allgemein in sehr militärischen, abstrakten Begriffen: Truppenbesetzungen hier, Bombardierungen da. Wir glorifizieren die Selbstverteidigung. Das Schicksal der Zivilisten und Zivilistinnen rückt völlig weg und das macht mir alles momentan große Sorgen.

Zumal Aufrüsten uns erwiesenermaßen nicht schützt. Wir waren schon einmal an diesem Punkt und es war nicht friedlicher auf der Welt. Dahin wollen wir nicht zurück. Die aktuelle Situation ist aber Teil eines längeren Prozesses. Der Westen ist schon seit der Jahrtausendwende wieder am Aufrüsten. Wir haben Rüstungsabkommen auslaufen lassen und viel zu wenig darauf gesetzt wieder zu verpflichtenden Abkommen zu kommen, die dafür sorgen, dass Länder gegenseitig abrüsten, sich gegenseitig kontrollieren und sich somit auch zusichern, dass wir in Frieden leben. Seit einem Jahr ist ein internationales Abkommen in Kraft, das Nuklearwaffen komplett verbietet. Das umfasst nicht nur die Benutzung selbst, sondern auch die Androhung, das Testen und Entwickeln. Das ist eigentlich ein großer feministischer Durchbruch. Allerdings haben die Länder mit Nuklearwaffen nicht unterzeichnet. Es kann nicht sein, dass das gerade jene Länder sind, die im UN-Sicherheitsrat über die Sicherheit und den Frieden auf dieser Erde bestimmen sollen. Das ist kein Ausweg.

Leandra Bias forscht und berät beim Friedensinstitut swisspeace in Basel. Ihre Schwerpunkte sind feministische Perspektiven auf Außen- und Friedenspolitik sowie Autoritarismus.

Richten wir also den Blick auf die Menschen. Welche Folgen hat der Krieg konkret für die Geschlechterverhältnisse?

Der Feminismus zeigt auch auf, dass im Krieg alle leiden, dass niemand aus einem Krieg gewinnt. Es geht hier nicht nur um Frauen, auch wenn sie momentan oftmals alleine auf der Flucht sind und dabei spezifischen Gefahren ausgesetzt sind, um ihre Liebsten bangen müssen. Es geht auch darum, dass Militarismus mit Nationalismus einhergeht. Dabei wissen wir, dass Nationalstaaten auf der Geschlechtertrennung aufgebaut sind. Männer sollen verteidigen, Frauen sollen reproduzieren, alle sollen sich diesem Nationalstaat unterwerfen. Genau diese Optik gewinnt wieder enorm an Kraft und die einzelnen Menschenrechte werden zweitrangig. Und in diesem Sinne sind natürlich auch die Männer Opfer. Männer, die zu Schachfiguren werden von Herrschenden wie z.B. Putin. Wir hören von russischen Soldaten, die in der Ukraine festgenommen werden und nicht einmal wissen, warum sie in diese Stadt geschickt wurden. Sie wurden mit Propaganda gefüttert und müssen jetzt ihr Leben lassen oder sind zumindest einer unglaublichen Bedrohung und Belastung ausgesetzt, obwohl sie dazu absolut nichts zu sagen hatten. In der Ukraine wurde die Ausreise von allen Männern verboten, die über 18 Jahre alt sind. Das ist gegen conscientious objection (dt. Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen), also gegen das Menschrecht, sich zu verweigern, Gewalt anzuwenden. Das ist unmenschlich. Wir sind nicht geboren, um zu töten und auf einander loszugehen.

Der Nationalstaat spielt hier also eine zentrale Ordnungsrolle.

Ja, das gilt auch, wenn wir die allgemeine Aufrüstung betrachten. Es ist ja auch ganz klar eine Ressourcenfrage, das heißt, Ressourcen werden umverteilt, hin zur Militärindustrie, weg von der Care-Ökonomie. Das ist aus feministischer Perspektive ein Sicherheitsaspekt. Denn wir stellen immer die Frage: Von welcher Art von Sicherheit reden wir denn? Und für wen? Wir setzen eben nicht staatliche Grenzen oder staatliche Bedürfnisse und Interessen ins Zentrum, sondern die Menschenrechte, die Grundbedürfnisse für ein friedliches, sorgloses Leben aller. Also das Bedürfnis, beispielsweise, frei von struktureller Diskriminierung zu sein, frei von racial profiling, frei von häuslicher oder sexualisierter Gewalt.

Es gibt sehr viele Menschen, die eigentlich im «Frieden» leben, aber es handelt sich um einen oberflächlichen Frieden. Sie haben keine Sicherheit in ihrem Alltag, sondern fürchten sich vor ganz vielen verschiedenen Arten der Gewalt. Als Feministinnen definieren wir Gewalt als ein Kontinuum. Das heißt, Gewalt gibt es einerseits durch Waffen in einem Krieg, aber andererseits auch im eigenen Haus, in der eigenen Community, bei Protesten und in Occupy-Camps. Deshalb reicht es nicht für einen Frieden zu streiten, der nur ein Waffenstillstandsabkommen meint. Frieden muss ein viel umfassenderes Konzept sein. Wenn also Ressourcen von der Care-Ökonomie, bei der ja ohnehin seit Jahren gekürzt wird, jetzt noch weiter abgezogen werden, dann wird es für viele wieder an Mitteln fehlen, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Wieder einmal  werden es die Frauen sein, die das auf ihre Schulter nehmen. Das erschwert ihnen wiederum die politische Teilhabe, weil sie schlicht nicht die Zeit und die Ressourcen haben, neben der unglaublichen Care-Belastung sich auch sonst noch politisch einzubringen. Wieder einmal werden diese Stimmen, die schon jetzt nicht gehört werden, noch weniger Chancen darauf haben.

Die UN-Resolution 1325 «Frauen, Frieden, Sicherheit» aus dem Jahr 2000 zielt ja auch deshalb unter anderem auf die stärkere Partizipation von Frauen in der Konfliktschlichtung und den Friedensverhandlungen. Können wir davon etwas sehen?

Die Ukraine ist hier ein sehr spannendes Beispiel. 2016 hat sie inmitten eines Krieges einen Nationalen Aktionsplan erlassen, um diese Resolution umzusetzen. Die Resolution hat drei Pfeiler: die Partizipation von Frauen in Friedensprozessen, den Schutz vor geschlechterspezifischer Gewalt und die Prävention. Mit Partizipation ist – aus meiner Perspektive – leider die Inklusion von Frauen ins Militär gemeint, aber eben auch allgemein in alle Entscheidungsfindungsprozesse. Nun ist es aber so, dass in der Ukraine nur auf die Militarisierung gesetzt wurde, also auf die Rekrutierung der Frauen in die Armee, und das mit großem Erfolg. Heute hat die Ukraine weltweit einen der größten Frauenanteile in der Armee. Das ging erwiesenermaßen auf Kosten der Care-Ökonomie, weil die Militarisierung mit einer neoliberalen Sparpolitik gekoppelt war. Momentan verlagert sich in der Ukraine das Care-Last noch viel mehr auf die Frauen in den Privathaushalten.

Unsere Partnerorganisation «Friedensfrauen weltweit» hat Frauen im Donbas nach ihren Sicherheitsbedürfnissen gefragt und dabei wurde sehr klar, dass es eben Grundbedarfe sind, wie eine Gesundheitsinfrastruktur, Sozialversicherung, gute Schulen, gute Ernährung. Eben grundlegende Bedingungen für eine würdige Existenz. Genau da ist der Zusammenhang zwischen Sicherheit und Care. Wenn aufgerüstet wird, dann fehlt es an diesen Ressourcen. Und entsprechend wird damit auch die politische Teilhabe schwieriger gemacht.

Welche politischen Leitlinien ergeben sich daraus?

Das ist ganz klar: wir kommen hier nur raus, wenn wir endlich das umsetzen, was die feministische Friedensbewegung seit 1915 - mitten im ersten Weltkrieg - gefordert hat. Sie hat sich für Abrüstung eingesetzt und für politische Mitbestimmung. Auch die große UNO-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking und die daraus hervorgegangene Aktionsplattform zielt genau darauf ab. Wir finden zu Frieden von allen nur, wenn wir die Menschenrechte von allen schützen und wenn wir die Waffen niederlegen. Leider wurde das bisher nicht ausreichend gehört. Insofern müssen wir uns dafür engagieren, dass die Interessen aller Menschen in die Entscheidungen eingespeist werden, dass die Zivilbevölkerung mitentscheiden kann. Damit meine ich nicht nur die Frauen, sondern alle, die marginalisiert werden, die gerade nicht gehört werden, die eben nicht zur Elite gehören, die aber sehr wohl tangiert werden von den Entscheidungen, die diejenigen treffen, die die Macht haben und die zu Waffen greifen oder solche androhen können. Ein Beispiel in Bezug auf Nuklearwaffen: diese werden nämlich meistens in Gebieten getestet, in denen indigene Gruppen wohnen. Wenn sie mitreden könnten, dann hätten wir vielleicht eine andere Sicherheitspolitik.

Die Leitlinie muss also sein: es sollte nicht um den Schutz von Staaten gehen. Das führt uns zu Zerstörung, zu Krieg, zur gewaltvollen Abwehr von Migrant*innen und es führt nicht zu einem friedlicheren, würdigeren Leben für alle.

In diesem Sinne braucht es eine Stärkung der Diplomatie und des Multilateralismus. Die Rechte feiert Putin nicht nur, weil er die perfekte Projektionsfläche für die gute alte Ordnung von starken Männern und Werten bietet. Sondern auch, weil es dank ihm gerade eine einmalige Gelegenheit gibt, den Multilateralismus weiter zu schwächen, als weich und naiv abzukanzeln. Die UN hat viele Schwächen, aber wir können nicht zurück in ein Zeitalter, wo es gar keine Räume für Diplomatie und Dialog gab, wo einzig die Stärke zählte. Wir müssen die UN reformieren, nicht dezimieren.