Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine Putins Krieg

Der Grund für die Invasion der Ukraine ist der Nationalismus und Militarismus eines autoritären Herrschers. Auch viele Linke haben Putin falsch eingeschätzt. Versuch einer Bestandsaufnahme.

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Imperialer Anspruch: Der russische Präsident Wladimir Putin in einer Videokonferenz zu den westlichen Sanktionen (10.3.2022). Mikhail Klimentyev / IMAGO / ITAR-TASS

Der Krieg ist zurück in Europa. Weg war er nie. Er war da, als in den 1990er-Jahren Jugoslawien in eine Kette von Bürgerkriegen zerfiel, mitsamt Kriegsverbrechen und Genozid, zu deren Ende hin sich die NATO neu erfand. Der Krieg aber, der jetzt wieder da ist, ist jener, gegen den die Charta der Vereinten Nationen geschrieben worden ist. Mit Ausnahme des Einmarschs des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei 1968 hat seit dem Zweiten Weltkrieg kein europäischer Staat mehr versucht, sich einen anderen europäischen Staat zu unterwerfen. Anders als von zu vielen Analyst*innen angenommen geht es Putin nicht nur um etwas Landnahme im Osten. Es geht um ihm die ganze Ukraine.

Daniel Marwecki ist Dozent an der Universität Hong Kong und Autor des Buches «Germany and Israel: Whitewashing and Statebuilding» (London: 2020).

Die Frage, wie sich linke Kräfte in Deutschland zu diesem Krieg zu positionieren haben, darf keine Frage sein und sie wurde von der Parteispitze der Linkspartei beantwortet, bevor sie gestellt wurde. Der «völkerrechtswidrige Angriffskrieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Russland muss die Kampfhandlungen sofort einstellen, einem Waffenstillstand zustimmen und an den Verhandlungstisch zurückkehren», so die Partei- und Fraktionsvorsitzenden. Der russische Angriff ist lupenreiner Imperialismus – Imperialismus, über den Menschen in Syrien, in Tschetschenien, in Georgien und in vielen Teilen Osteuropas in diesen Tagen deutlich weniger überrascht sind als große Teile der deutschen Gesellschaft und mit ihr der deutschen Linken.

Noch befinden wir uns im clausewitzschen «Nebel des Krieges» und fahren auf Sicht. Was will Putin erreichen? Wiederholt er mit seiner Invasion der Ukraine den verbrecherischen Fehler von Breschnew, der 1979 in Afghanistan einmarschierte und dessen Nachfolger sich zehn Jahre und Millionen tote Zivilist*innen später in ein überdehntes, zerfallendes Imperium im Endzustand zurückzog?

Der Krieg ist die Entscheidung von Putin und den wenigen Männern um ihn herum, die den Herrschaftszirkel im Kreml stellen. Russland unter Putin gebärdet sich als imperiale Großmacht: 2008 verleibte es sich Abchasien und Südossetien ein, 2014 annektierte es die Halbinsel Krim und unterstützte separatistische Kräfte in der Ostukraine, ab 2015 sorgte es dafür, dass sich in Syrien der blutrünstige Diktator Baschar al-Assad an der Macht halten konnte. Gemessen an seiner Wirtschaftsleistung ist Russland aber weit vom Großmachtstatus entfernt. Das größte Land dieser Erde hat in etwa das Bruttoinlandsprodukt von Spanien. Es ist ein weltwirtschaftlich peripherer, von Energieexporten abhängiger, aber gut gerüsteter und atomar bewaffneter Staat, von dessen inneren Krisen Putin durch Krieg abzulenken weiß.

Der Krieg zieht klare moralische Linien. Jeder Versuch, russische Sicherheitsinteressen nachzuvollziehen, jeder Versuch, Russland ökonomisch und anderweitig in Europa einzubinden – all das erscheint in Deutschland auf einmal bestenfalls als Naivität oder als zynische, interessengeleitete Ignoranz gegenüber den langgehegten imperialen Plänen Vladimir Putins.

Ein Thema, das vor allem Politiker*innen der Linkspartei in deutschen Talkshows vor Kriegsbeginn noch durchdekliniert haben, ist das der NATO-Ausdehnung gen Osten und der «berechtigten russischen Sicherheitsinteressen», die es bei dem Konflikt um die Ukraine zu berücksichtigen gelte. Es ist allerdings kein Zufall, dass in Deutschland Repräsentant*innen einer beinahe einflusslosen Partei überproportional oft auf den Talkshowsesseln der Nation saßen, denn in Deutschland herrschte über alle politischen Lager hinweg immer auch Verständnis für das bekundete Sicherheitsempfinden Moskaus.

Abseits von der sicherheitspolitischen Komponente ist es bis zuletzt deutsche Regierungspolitik gewesen, Russland in Europa einzubinden. So ist es der Ära Merkel zu verdanken, dass Deutschland über die Hälfte seiner Energie aus Russland bezieht. Ging es darum, Deutschlands günstige Energieversorgung sicherzustellen und Russland durch ökonomische Einbindung auch sicherheitspolitisch von militärischen Abenteuern in Europa abzuhalten? Oder hat sich – so die sich durch die Ereignisse bestätigende Kritik seitens der Grünen – Deutschland von einem Autokraten abhängig gemacht? Und ist jetzt noch irgendetwas zu halten von der innerhalb und außerhalb der Linkspartei fest verankerten Kritik an der NATO und ihrer Osterweiterung bis an Russlands Grenzen? Mein Artikel ist der Versuch einer Bestandsaufnahme  im Lichte des Irrtums, eine Invasion der Ukraine nicht für möglich gehalten zu haben.

Die Osterweiterung der NATO: Eine von den Ereignissen überholte Debatte

Das Argument gegen die Osterweiterung der NATO lautete, dass sie Russlands «legitime Sicherheitsinteressen» verletzen würde. Die USA würden doch auch nicht akzeptieren, wenn Mexiko oder Kanada Militärbündnisse mit einem feindlich gesinnten Staat eingingen, so die Argumentation. Ferner sei die Kubakrise, in der die Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow Nuklearraketen auf Kuba stationierte, das historische Paradebeispiel. Damals drohte der dritte Weltkrieg. Sei es im Umkehrschluss also nicht legitim, dass Russland sich die Expansion der NATO an seine Grenzen verbittet?

Diese Argumentation – von der hier unterstellt wird, dass viele Linke in Deutschland ihr zumindest bis vor Kurzem noch zumindest etwas abgewinnen konnten – existiert keinesfalls nur unter Linken. Der amerikanische Marxist Adolph Reed meinte nur halb im Scherz, dass der wichtigste Fürsprecher linker Außenpolitik in den USA John Mearsheimer sei. Mearsheimer würde den Witz verstehen. Der für seinen Klartext bekannte Professor ist prominenter akademischer Vertreter der Denkschule des sogenannten Realismus in seiner modernen, strukturalistischen Machart, die wegen ihrer Entstehungsgeschichte als Handwerkszeug im Kalten Krieg über den Verdacht linker Sympathien erhaben ist.

In der universitären Disziplin der internationalen Beziehungen, deren ideologisch geprägte Theoriedebatten die in der Politik grundlegenden Weltwahrnehmungen reflektieren, nimmt der «Realismus» eine zentrale Rolle ein. Manche Exponent*innen dieser Denkschule wie Mearsheimer oder Stephen Walt argumentieren im Sinne linker NATO-Kritiker*innen, dass die Ausweitung der westlichen Militärallianz an Russlands Grenzen zwangsweise zu Verunsicherung in Moskau führen muss. Laut «Realismus» ist in einem anarchischen System das eigene Überleben das wichtigste Ziel eines Staates. Deswegen versuchen Staaten, ihre Macht auszuweiten. Der Machtgewinn des einen führt aber zu wachsender Unsicherheit beim anderen Staat – der dann wiederum versucht, auch seine Macht auszuweiten. Dieses Sicherheitsdilemma lässt sich nur managen, nicht auflösen. Um die Kriegsgefahr einzudämmen, müssen die Sicherheitsinteressen der mächtigen Akteure im System berücksichtigt werden.

Mearsheimers Vortrag «Why is Ukraine the West’s Fault?», gehalten im September 2015 an der University of Chicago, hat auf YouTube über zehn Millionen Klicks. Den dazugehörigen Artikel in Foreign Affairs hat das russische Außenministerium vor wenigen Tagen auf Twitter geteilt. So werden aus den berühmten «Realisten» von gestern die nützlichen Idioten von heute.

Linke Kritiker*innen der NATO zitieren neben Mearsheimer auch gern den Diplomaten George F. Kennan, dessen berühmtes «long telegram» die westliche Eindämmungspolitik im Kalten Krieg begründete. In seinen späten Jahren war Kennan nicht nur erklärter Gegner der NATO-Osterweiterung, vielmehr war er bereits gegen die Gründung der NATO als solche, weil sie, seiner Meinung nach, den Konflikt mit dem Sowjetblock unnötig militarisieren würde. Kennans Politik des containment hatte allerdings schnell das Nachsehen gegenüber der Politik des rollback, die direkt in den Vietnamkrieg führte (und, nach dem Kalten Krieg, in die Kriege in Afghanistan und im Irak).

Mearsheimer ist Demokrat und Zentrist. Putin und sein Herrschaftssystem sind ihm explizit zuwider. Seine Erklärungen leiten sich aus der von ihm so angenommenen anarchischen Natur des internationalen Systems ab, nicht aus der Innenwelt der dieses System ausmachenden Staaten. Anders verhält es sich bei den rechtsextremen Putin-Fans, ob in den USA oder Europa, die in der Figur, die Putin darzustellen versteht, eine Art Krieger gegen das «woke» liberale Establishment sehen. Mit dieser Begeisterung für Putins Hypernationalismus, Militarismus und Chauvinismus haben Linke und Progressive gleich welcher Couleur nichts zu tun. Es entbehrt aber nicht einer gewissen Ironie, dass manche Linke, ob in Deutschland oder in den USA, gelegentlich klingen wie kalte Geostrateg*innen, wenn es um Russland geht. Da werden einem imperialen Akteur wie Russland auf einmal Sicherheitsinteressen zugesprochen, die es zu berücksichtigen gälte. Die Ukraine wird so zu einem Pufferstaat, Spielball fremder Mächte.

Putins Krieg

Diese ganzen Debatten aber, die von vielen Linken, von «Realisten» wie Mearsheimer, von kriegsmüden Konservativen oder Progressiven geführt wurden, um vor Kriegsbeginn die Krise um die Ukraine zu erklären und zu entschärfen, erscheinen heute in einem anderen Licht. Vladimir Putin hat in zwei Reden vor Kriegsbeginn seine Haltung erklärt. Der Ukraine sprach er nationale Eigenständigkeit ab, erklärte sie zu einer artifiziellen Nation. Sie sei, log er, von «Nazis» regiert, die einen «Genozid» im Donbass verübten. Wolodymyr Selenskyj, der demokratisch gewählte Premierminister der Ukraine, ist bekannterweise jüdisch. Die Rede vom «Genozid» ist eine bizarre Propagandalüge, um das eigene Volk für den Krieg einzuspannen. In seiner Kriegserklärung an die Ukraine missbrauchte Putin die Erinnerung an die Millionen Opfer des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, indem er seine Invasion ausdrücklich in den Kontext des «Großen Vaterländischen Krieges» stellte. Natürlich hat Putin in seinen Reden auch von der Osterweiterung der NATO gesprochen, über das, in dem er – ob gerechtfertigt oder nicht, ist egal – eine Demütigung und einen Verrat seitens des Westens sieht.

Putin greift die Ukraine an, weil er sie angreifen wollte. Der Zeitpunkt fällt vermutlich nicht zufällig in die Amtszeit von Joe Biden und nicht die seines Vorgängers. Donald Trump, unfähig, die Demütigung hinzunehmen, hätte entweder gleich mit Atomwaffen gedroht oder seine Drohnen und Spezialeinheiten auf Putins Kopf angesetzt, wie er es bereits bei dem iranischen General Qassem Soleimani getan hatte. Putin erlaubt sich den Angriff auch, weil die amerikanische Regierung und die weiteren NATO-Staaten im Vorfeld hatten verlauten lassen, dass man die Ukraine nicht verteidigen werden würde. Über die Ukraine wollen die USA keine direkte Konfrontation mit einem nuklear bewaffneten Russland riskieren. Hier zeigt sich, was Russlands wirkliche Sicherheitsgarantie ist. Und das ist nicht die Bündnisneutralität seiner Nachbarn, sondern der Besitz von Atomwaffen.

Der imperiale Anspruch Putins auf die Ukraine ist seit 2014 offensichtlich. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine faktisch ausgeschlossen, da sie die NATO in einen direkten militärischen Konflikt mit der russischen Nuklearmacht gebracht hätte. Hier aber stellt sich die Frage nach westlicher Verantwortung vielleicht schon. Denn wenn die Ukraine keine reelle Beitrittsperspektive hatte – hätte man diese Perspektive dann nicht auch explizit ausschließen können? Oder zumindest Russland ein langes Moratorium für den ukrainischen Beitritt anbieten können? Wäre, nach der faktischen Anerkennung des Westens von Russlands illegaler Krim-Annexion, diese doch eher symbolische Konzession an Putin nicht das Mindeste gewesen, was man hätte tun sollen, um die Kriegsgefahr vielleicht zu verringern? Die Archive werden irgendwann hoffentlich beantworten, ob die Regierung von Biden das Putin nicht hinter verschlossenen Türen vielleicht vorgeschlagen hat. Falls nicht, so ließe sich dies als unterlassene Hilfeleistung im Namen des Prinzips der Bündnisfreiheit auslegen.

Fehl am Platz wirkt hingegen das bereits diskutierte Argument, das von der jüngsten Geschichte überholt wurde und deswegen, wenn überhaupt, nur für zukünftige Historiker*innen von Interesse sein wird. Nämlich jenes, dass die NATO – die über Atomwaffen verfügt – mit dem Ende des Kalten Krieges ihre Existenzgrundlage überlebt habe und sich folglich hätte auflösen sollen. Statt der NATO eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur unter Einbindung Russlands – das ist aktuell nur noch ganz ferne Zukunftsmusik.

Das Problem mit kontrafaktisch erzählter Geschichte ist ohnehin, dass sich gegensätzliche Positionen mit ihr begründen lassen. Natürlich kann man sich vorstellen, dass es ohne die NATO-Osterweiterung nicht zur Sicherheitskrise im westlich-russischen Verhältnis gekommen wäre. Die Wucht der Ereignisse spricht aber auch für das gegenteilige und ebenso kontrafaktische Narrativ: Wäre die Ukraine direkt nach dem Kalten Krieg in die NATO aufgenommen worden, hätte Russland eine Invasion nicht riskiert und in Europa wäre heute Frieden.

Es ist auch heute nicht falsch und vielleicht sogar ein gutes Gegengift gegen zu viel Kriegseuphorie auf den Zuschauerrängen, auf die Doppelmoral der NATO-Staaten hinzuweisen. Mit seinem Versuch, einen regime change in Kiew zu erzwingen, wiederholt Putin absichtlich genau das, was die USA 2003 im Irak unternommen haben. Das Ergebnis damals war Bürgerkrieg, Staatszerfall und Aufstand. Am Ende stand der Abstieg einer Supermacht. Wer sich aber mit dem Aufzeigen der Doppelmoral schon zufriedengibt, argumentiert zynisch. Putin und seinesgleichen weisen nämlich gern auf Verbrechen des Westens hin, um ihre eigenen zu legitimieren.

Schließlich aber lautet die Wahrheit, dass viele politische Kräfte in Deutschland, von konservativ bis links, Putin falsch eingeschätzt haben. Das offenbart nicht zuletzt eine nationale und eurozentrische Sicht auf die Welt. Denn man muss schon genau weggeguckt und weggehört haben, als Putin in Syrien Bomben auf die Zivilbevölkerung werfen ließ. Putin hat einen impliziten westlichen Konsens aufgehoben, an dem er teilhatte: dass wir die Gewalt, die wir nach außen richten, nicht nach innen kehren würden. Aber genauso wie die koloniale Gewalt der Europäer*innen im Ersten Weltkrieg auf Europa zurückschlug, so kehrt der Krieg auch jetzt wieder nach Europa zurück.

Putins Invasion hat eine neue Zeit in Europa geschaffen. Es ist kaum fassbar: Russland ist in Deutschland wieder der Feind. Dass das so ist, ist die Schuld von Vladimir Putin. Keine deutsche Regierung kann hinnehmen, dass ein Land in Europa andere Länder einfach überfällt. Mit der Regierungserklärung von Olaf Scholz vom Sonntag, dem 27. Februar 2022, ist Deutschland in eine neue außenpolitische Zeit eingetreten. Militärische Stärke, Energieunabhängigkeit, ein sicherheitspolitisch von den USA weniger abhängiges Europa – es ist eine Abkehr von den alten Leitlinien der deutschen Politik. Manchmal, frei nach Lenin, passieren Jahrzehnte eben in Wochen. Über Nacht hat Putin aus der NATO in Osteuropa das gemacht, wofür kaum ein Linker sie je halten wollte: zu einem antiimperialen Verteidigungsbündnis.

Der Krieg zieht klare Linien. Das bedeutet nicht, dass progressive Kräfte jetzt die Militarisierung Deutschlands bejubeln müssen. Im Gegenteil. Aber um eine glaubwürdige und kritische außenpolitische Kraft zu werden, braucht auch die Linke jetzt eine Zeitenwende.