Nachricht | Golfstaaten - Corona-Krise - Westasien im Fokus Soziale Krise und Menschenrechtsverletzungen

Die Covid-19-Pandemie in Saudi-Arabien

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Covid-19 und sinkende Ölpreise haben in Saudi-Arabien zu einer wirtschaftlichen und sozialen Krise geführt. Arbeiter*innen und Migrant*innen leiden am stärksten unter den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung (die Große Moschee von Mekka unter Covid-19-Beschränkungen, Juli 2021). CC BY-SA 4.0, Foto: AhmadElq, Wikimedia Commons

Die Covid-19-Pandemie zeitigte verheerende soziale und wirtschaftliche Auswirkungen auf die meisten der ohnehin fragilen Volkswirtschaften im Nahen Osten und Nordafrika (MENA-Region). Auch einkommensstarke Golfstaaten wie Saudi-Arabien standen vor bedeutenden wirtschaftlichen Herausforderungen. Als die Pandemie ausbrach, ergriff die Regierung einige Sofortmaßnahmen, um eine weitere Ausbreitung der Krankheit einzudämmen und die wirtschaftlichen Verwerfungen abzuschwächen. Die Gesundheitskrise fiel jedoch mit einem beträchtlichen Rückgang der globalen Rohölpreise zusammen, was einen zweistelligen Rückgang des nominalen und realen BIP nach sich zog (UN in KSA, November 2020). Darüber hinaus brachte die Pandemie eine Reihe von Reforminitiativen und die Saudi Vision 2030 zum Stillstand. Diese wirtschaftspolitische Strategie zielt darauf, Saudi-Arabiens Abhängigkeit vom Erdölexport zu verringern.

Die Hygienevorschriften führten zu Jugendarbeitslosigkeit und allgemeiner Unzufriedenheit

Sowohl der Pilgertourismus als auch die herkömmliche Tourismusbranche erlitten in der Covid-19-Krise heftige Einbußen. Im Januar 2020, etwa zwei Monate vor Ausbruch der Pandemie, hatte Saudi-Arabien erstmalig Touristenvisa ausgestellt. Im Zuge der Pandemie brachen die jährlichen Tourismuseinnahmen seit Anfang 2020 um 61,5 Prozent ein. Zu den erlassenen Sofortmaßnahmen gehörte auch ein umfassendes Verbot internationaler Flüge. Obwohl es im Dezember 2021 wieder aufgehoben wurde, schadete dieses Verbot Saudi-Arabiens Plänen, seine Wirtschaft durch den Ausbau des Tourismus auf eine breitere Grundlage zu stellen.

Aliki Kosyfologou hat in Politikwissenschaft und Soziologie promoviert. Ihre interdisziplinären Forschungsinteressen umfassen Politikanalyse, Gesellschaftstheorie, Gendertheorie, Feminismus und Kultur.

Sie hat in der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) gelebt und dort Feldstudien durchgeführt. Aktuell arbeitet sie als freie Wissenschaftlerin und sozialpolitische Beraterin. Sie hat zahlreiche Studien zu den sozialen und genderspezifischen Auswirkungen der Austeritätspolitik in Europa und insbesondere Griechenland verfasst, unter anderem die folgenden Studien der Rosa-Luxemburg-Stiftung: «The gendered aspects of the austerity regime in Greece: 2010-2017» [Die geschlechtsspezifische Dimension des Austeritätsregimes in Griechenland: 2010-2017], «Women’s status in a struggling Greek economy: The terrifying fall of a society’s progress» [Der Status der Frau in der um Aufschwung kämpfenden griechischen Wirtschaft: Der erschreckende Untergang des Fortschritts einer Gesellschaft]  «Über die Fragilität der Gleichheit in Zeiten der Pandemie».

Übersetzung von Camilla Elle & Max Hauer für Gegensatz Translation Collective.

Im September 2021 führte das Land eine allgemeine Impfpflicht für öffentliche Bereiche wie Arbeitsstätten, Schulen, Universitäten und die öffentliche Verwaltung ein. Damit erließ die Regierung eine der strengsten Impfvorschriften der Region. Doch selbst in einer absoluten Monarchie hat die Durchsetzung solcher Vorschriften ihren Preis. Die Impfpflicht sorgte bei vielen gesellschaftlichen Gruppen und Teilen der saudischen Jugend für Frustration und Enttäuschung. Kritiker*innen zufolge erschwerten die im Sommer 2021 eingeführten Gesundheitsauflagen die Arbeitssuche oder verunmöglichten es sogar, anständige Jobs zu finden.

Darüber hinaus erschwerten die verschärften Hygienevorschriften insbesondere Bevölkerungsteilen ohne digitale Kompetenz und durchgängigen Internetzugang den Alltag. Diese Menschen wurden durch die von den saudischen Behörden zum Infektionsschutz entwickelte Tawakkalna-App vor erhebliche Probleme gestellt. Gerade ältere Menschen und Tausende im Land lebende Bauarbeiter waren davon betroffen. In einem Land, das die Freiheitsrechte seiner Bürger*innen kaum achtet, wurde diese digitale Anwendung zudem als eine weitere Form staatlicher Überwachung wahrgenommen.

Menschenrechte: Eingeschränkte Bewegungsfreiheit von Arbeiter*innen und überfüllte Aufnahmelager

Die mit Covid-19 verbundenen Maßnahmen und Bewegungsbeschränkungen verschlechterten die soziale und wirtschaftliche Situation tausender Einwander*innen und ihrer Familien. Auch bestehende soziale Auffangstrukturen, wie die Vernetzung innerhalb der Communitys, wurden dadurch empfindlich beeinträchtigt. Darüber hinaus beschnitten die ab März 2020 eingeführten Maßnahmen die Freizügigkeit im Land arbeitender Migrant*innen stark. Die Schließung der Grenzen, die Unterbrechung des internationalen Flugverkehrs und weitere Einschränkungen hinderten Tausende daran, in ihre Länder zu reisen, Verwandte zu besuchen oder ihnen finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Insbesondere letzteres wirkte sich in wirtschaftlicher, sozialer und psychologischer Hinsicht gravierend auf die meisten Migrant*innen aus. Aufgrund der eingeführten Maßnahmen und Quarantäneverordnungen konnten viele von ihnen auch nicht arbeiten (z. B. Hausangestellte, Reinigungskräfte usw.). In Saudi-Arabien müssen migrantische Arbeiter*innen gemäß dem Kafala-System einen ortsansässigen Sponsor vorweisen, der für ihr Visum und ihren Rechtsstatus verantwortlich ist. In der Regel ist das der Arbeitgeber. Durch die Gesundheitsverordnungen nahm die Abhängigkeit jener Arbeiter*innen von ihren Sponsoren noch weiter zu. Da sie in deren Häusern oder in Gemeinschaftsunterkünften praktisch eingesperrt waren, konnten viele von ihnen keine verlässlichen Informationen über ihre Belange erhalten (z. B. über ihre sozialen Rechte, das Recht auf gesundheitliche Versorgung, den Zugang zu Gesundheitszentren usw.). Auch die ausbeuterischen Aspekte des strengen saudischen Sponsorensystems verschärften sich während der beiden Lockdowns. Im Sponsorensystem beschäftigte Arbeiter*innen konnten beispielweise nicht den Arbeitsplatz oder den Arbeitgeber wechseln. Daher blieb ihnen nichts übrig, als Gehaltsausfälle und Unterbezahlung in einem zudem missbräuchlichen Arbeitsumfeld hinzunehmen. Die im November 2020 im Rahmen einer Initiative für Arbeitsreformen durchgeführte Reform des Sponsorensystems erweiterte zwar die Bewegungsfreiheit der Arbeiter*innen (z. B. indem die Erfordernisse für Ausreise- und Einreisegenehmigungen gesenkt wurden), sie erwies sich jedoch als unzureichend, um die komplexen, systemischen Hierarchien des traditionellen Kafala-Systems aufzubrechen.

Darüber hinaus hielt Saudi-Arabien während der Covid-19-Krise weiterhin Migrant*innen in überfüllten Aufnahmezentren fest, obwohl sich das Risiko der Virusverbreitung und der Ansteckung unter den zumeist unhygienischen Bedingungen dadurch erhöhte. Laut einer von Human Rights Watch im Oktober 2020 veröffentlichten Studie über die Festsetzung von Migrant*innen in Saudi-Arabien während der Covid-19-Krise haben sich die Behörden seit der Entlassung von 250 Lagerinsass*innen im April 2020 nicht weiter mit den Risiken einer Unterbringung tausender Migrant*innen in überfüllten Einrichtungen befasst. Außerdem waren insbesondere Bauarbeiter aufgrund ihrer schlechten Wohnverhältnisse einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt. Anstatt diese Probleme der öffentlichen Gesundheit angemessen anzugehen, bedienten sich die saudischen Behörden vermehrt sicherheitspolitischer Narrative, um migrantische Communitys weiter zu gängeln und ihre Politik der Internierungen und Abschiebungen fortzusetzen.

Seit Dezember 2021 verzeichnet Saudi-Arabien einen erheblichen Anstieg von Covid-19-Fällen im Zusammenhang mit der Omicron-Variante. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Behörden strengere Lockdownmaßnahmen ausgeschlossen haben. Gleichwohl gibt es einige geringfügige Gesundheitsschutzmaßnahmen, wie z. B. die Abstandsregeln (1,5-Meter-Regel) an öffentlichen Orten und die Maskenpflicht bei Aktivitäten im Freien und in geschlossenen Räumen. Unternehmen, die diese Maßnahmen nicht umsetzen, werden mit einer Mindeststrafe von 100 SAR (23,55 Euro) belegt, wobei die Strafe sich in Wiederholungsfällen erhöht und das Unternehmen geschlossen werden kann.

Im Vergleich zu ihrer restriktiven Politik in der ersten Phase der Pandemie schwenkt die Regierung nun deutlich auf einen moderaten Kurs in der Pandemiebekämpfung ein. Das zeigt ihre Entschlossenheit, die Märkte anzukurbeln, auch wenn die öffentliche Gesundheit darunter leidet.