Nachricht | Geschichte - Ukraine Die vergessene Geschichte ukrainischer Unabhängigkeit

Rückblick auf ein unruhiges 20. Jahrhundert

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Mario Kessler,

Schwarz-Weiß Foto von Christian Rakowski (frontal) und Leo Trotzki (im Profil) im Gespräch.
Christian Rakowski und Leo Trotzki traten für eine Selbstbestimmung der Ukraine ein Wikimedia Commons

Putin versucht seine brutale Invasion der Ukraine aus der Geschichte herzuleiten: Er erkennt dem Land die Staatlichkeit ab, indem er behauptet, die Bolschewiki hätten die Ukraine gegen den Willen der Bevölkerung von Russland losgelöst. Das ist eine gefährliche Pervertierung der Geschichte.

Die Sicherheit und Unabhängigkeit der Ukraine müssen wiederhergestellt werden – Wladimir Putins großrussisch-imperiale Träume dürfen keine Erfüllung finden. Wie sich in seiner Rede vom 21. Februar unmissverständlich zeigte, begründet Putin die Aggression gegen die Ukraine mit einer vermeintlich notwendigen «Entkommunisierung» des Landes.

Seine Behauptung, die Ukraine sei gegen den Willen der Bevölkerung «vom bolschewistischen, kommunistischen Russland» geschaffen worden, ist schlichtweg falsch. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass die russischen Sozialisten den Wunsch vieler Ukrainer nach Unabhängigkeit erkannt und in ihre politische Strategie eingebettet haben. Die Tradition ukrainischer Staatlichkeit hat überdies eine viel längere Vergangenheit, als Putin ihr beimisst.

Angetrieben durch die Revolution

In der Tat erfuhren die Bestrebungen nach einer unabhängigen Ukraine durch die Revolutionen von 1905 und 1917 einen immensen Auftrieb. Die Ukraine erklärte sich bereits im März 1917 – und nicht erst im Gefolge der Oktoberrevolution – als selbständige Republik innerhalb eines föderativen Russlands. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution verkündete die Regierung Lenins als eines ihrer Grundprinzipien das Selbstbestimmungsrecht aller unterdrückten Nationen des Reiches bis hin zum Recht auf Lostrennung.

Dabei ging es nicht darum, die Russen von den unterdrückten Völkern des Zarenreiches loszulösen, vielmehr sollte eine Gemeinschaft freier Völker im revolutionären Kampf gegen Großgrundbesitzer und Kapitalisten entstehen. Daraufhin erklärte das ukrainische Parlament, die Rada, die Ukraine zur Volksrepublik; in den Wahlen erhielten die nichtbolschewistischen Parteien eine Mehrheit. Die Bolschewiki in der Ukraine erkannten die Staatlichkeit des Landes an, indem sie sich noch 1917 zu einer selbständigen Partei konstituierten.

Doch stellte sich die Ukrainische Volksrepublik in den anstehenden Verhandlungen Sowjetrusslands mit den Mittelmächten aufseiten der letzteren. Die Bolschewiki um Trotzki waren daraufhin gezwungen, in Brest-Litowsk eine Delegation der Rada als Verhandlungspartner zuzulassen. Als Gegenspieler der Rada riefen ukrainische Bolschewiki Anfang Januar 1918 unter Christian Rakowski die Ukrainische Sowjetrepublik mit Charkiw als Hauptstadt aus. Im Juli 1918 gründete sich die Kommunistische Partei der Ukraine. Ein Teil der Ukrainischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei schloss sich ihr an. Diese war im Jahr 1900 unter dem Namen Revolutionäre Ukrainische Partei gegründet worden; zu ihren frühen Politikern gehörte Symon Petljura, der in den Jahren 1919–1920 kurzzeitig Präsident der Ukrainischen Volksrepublik werden sollte. Seine Partei trat für eine nationale Autonomie der Ukraine ein – wie weit diese Autonomie gehen sollte, blieb innerhalb der Partei umstritten. Die große Mehrheit, darunter auch Petljura, stellte sich jedoch gegen die Bolschewiki.

Der sowjetische Standpunkt

In den Jahren 1918–1919 war die Ukraine unter wechselnden Regierungen Hauptschauplatz des russischen Bürgerkrieges, bevor Ende 1919 Trotzkis Rote Armee die Weißen unter Anton Denikin besiegte und 1920 das gesamte Territorium einnahm. Den blutigen Massakern an Jüdinnen und Juden, die überwiegend von der weißen Armee und marodierenden Banden begangen wurden, fielen bis zu 150.000 Menschen zum Opfer – es war die größte Vernichtungswelle vor Auschwitz.

Die bislang zum Habsburgerreich gehörende Westukraine hatte sich ebenfalls 1918 zur Volksrepublik erklärt. Ihre geplante Vereinigung mit der Ostukraine verhinderten jedoch polnische Truppen, sodass die Westukraine Teil des neuen polnischen Staates wurde. Die Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939 durch das Nazi-Regime führte zur Bildung einer Regierung in der Karpato-Ukraine, jenem westlichsten Teil der Ukraine, der seit 1918/19 zur Tschechoslowakei gehört hatte. Die Nazis übergaben jedoch nach wenigen Tagen die eroberte Karpato-Ukraine an das verbündete Ungarn. Die polnische Westukraine wurde im September 1939 zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt.

All dies lag am 28. Dezember 1919 noch in der Zukunft, als sich Lenin in einem «Brief an die Arbeiter und Bauern der Ukraine anlässlich der Siege über Denikin» wandte. Die Unabhängigkeit der Ukraine sei «sowohl vom Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee der RSFSR, der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, als auch von der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) anerkannt worden. Darum ist es ganz offensichtlich und allgemein anerkannt, dass nur die ukrainischen Arbeiter und Bauern selbst auf ihrem Gesamtukrainischen Sowjetkongress die Frage entscheiden können und entscheiden werden, ob die Ukraine mit Russland verschmelzen oder ob sie eine selbständige und unabhängige Republik bleiben soll, und welcher Art im letzteren Fall die föderative Verbindung zwischen ihr und Russland sein soll. »

Die Interessen der Werktätigen und ihr Erfolg im Kampf für die völlige Befreiung der Arbeit vom Joch des Kapitals sollte bei der Lösung dieser Frage im Mittelpunkt stehen. «Wir wollen ein freiwilliges Bündnis der Nationen, ein Bündnis, das keinerlei Gewaltanwendung einer Nation gegenüber einer anderen zulässt, ein Bündnis, das auf vollem Vertrauen, auf klarer Erkenntnis der brüderlichen Einheit, auf völlig freiwilliger Übereinkunft gegründet ist. »

Lenin riet in diesen Fragen zu größter Behutsamkeit, um zu verhindern, dass nationale Zwietracht die Reihen der Bolschewiki spalte. Er ging davon aus, dass die bolschewistische Führung der Ukraine sich mit Sowjetrussland in einer Interessenidentität befinde. Separatistische Tendenzen, die die Ukraine in einen Gegensatz zu Moskau treiben könnten, galt es vornherein zu unterbinden.

Aus eben diesem Grund erfolgte im Januar 1919 die Ernennung Christian Rakowskis zum Vorsitzenden des Zentralen Exekutivkomitees, also zum Ministerpräsidenten der Sowjet-Ukraine – eine Funktion, die er bis 1923 innehatte. Da die sozialistische Revolution das Privateigentum abschaffe, so Rakowski, beseitige sie auch die Grundlage der staatlichen Ordnung der Bourgeoisie, wie er in seinem Aufsatz «Die Beziehungen zwischen den Sowjet-Republiken» (1920) schrieb.

Alle nationalen Privilegien würden aufgehoben. Durch die politische und wirtschaftliche Zentralisierung in Form einer vorübergehenden internationalen Föderation solle andererseits jeder nationale Partikularismus unterdrückt werden. Das Zentrale Exekutivkomitee der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik entschloß im Juni 1919, eine Reihe von Kommissariaten beider Republiken zu vereinigen, nämlich die Kommissariate für Heereswesen, Verkehr, Finanzen, Arbeit, Post und Telegrafen und den Obersten Volkswirtschaftrat. Das Zentralexekutivkomitee der Russischen Sowjetrepublik bestätigte diesen Beschluss.

Rakowski kritisierte die ukrainischen Nationalisten dafür, dass sie die soziale Befreiung der Arbeiterklasse der nationalen Frage opfern würden. Dabei unterschätzte er möglicherweise die Gefahren des russischen Nationalismus und Chauvinismus – jenes Chauvinismus, für den Putin heute steht.

Revolution und Konterrevolution

Am Ende des Bürgerkrieges war die Ukraine ein verwüstetes Land. Die Jahre 1921 und 1922 waren von einer katastrophalen Hungersnot geprägt. Nach der Konstituierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), der die Ukraine Ende 1922 als Gründungsmitglied beitrat, besserte sich die Lage: Die Neue Ökonomische Politik (NEP) sorgte für eine Erholung der Wirtschaft, die ukrainische Sprache und Kultur wurde gefördert, nach der Beseitigung der antisemitischen Gesetzgebung erlebte die intellektuelle jüdische Kultur einen beispiellosen Aufschwung.

Dies änderte sich mit dem Sieg der Stalin-Fraktion über seine innerparteilichen Gegner am Ende der 1920er Jahre. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die wirtschaftlich bedingte Hungersnot und die brutale politische Verfolgung bis hin zur Aushungerung ganzer Gebiete, der Holodomor (Ukrainisch: Tötung durch Hunger) kosteten mindestens 4 Millionen Menschen das Leben.

Bis in die Zeit der Perestroika leugnete die Geschichtswissenschaft und Publizistik in der Sowjetunion diesen massenhaften Hungertod. In der Ukraine blieb die inoffizielle Erinnerung an dieses Trauma jedoch lebendig. Der 2005 gewählte Präsident Wiktor Juschtschenko setzte sich besonders für eine Aufarbeitung der Geschichte ein. Als dieser den damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew 2008 zum offiziellen staatlichen Gedenken einlud, lehnte Medwedew jedoch ab – mit der Begründung, dies führe zur Entfremdung zwischen der russischen und ukrainischen Bevölkerung.

Im Westen, zumal im ukrainischen Exil, aber auch in der internationalen Sozialdemokratie war die Erinnerung an den Holodomor stets gegenwärtig, dennoch wurde sie immer erfolgreicher von der politischen Rechten beansprucht. Schon seit Ende der 1920er Jahre erstarkten in der polnischen Westukraine faschistische Kräfte auf Kosten der bisher starken Linken: 1929 entstand in Wien die Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN), die sich am italienischen Faschismus orientierten. Ihr paramilitärischer Arm verübte zahlreiche Terrorakte, unter anderem gegen sowjetische Diplomaten, und ihre politischen Akteure unterwanderten legale Parteien, Organisationen und Universitäten, vor allem in der Westukraine.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion bildete die OUN SS-Einheiten sowie Milizen und war an den antisemitischen Pogromen beteiligt, darunter am größten Massaker außerhalb der Lager, der Erschießung von über 33.000 Jüdinnen und Juden in Babyn Jar bei Kiew am 29. und 30. September 1941. Die OUN stellte Freiwillige für die KZ-Wachmannschaften und hoffte, von Hitler-Deutschland einen eigenen Staat zu erhalten. Als dies (nach anfänglicher Duldung einer Regierung) nicht geschah, überwarf sie sich mit dem Nazi-Regime. Ihr Anführer Stepan Bandera wurde im KZ Sachsenhausen inhaftiert, jedoch in einer Sonderbaracke mit besseren Haftbedingungen.

In der Sowjetunion wurde dem Verbrechen von Babyn Jar nur zögerlich gedacht; erst 1961 änderte sich dies teilweise, nachdem der russische Schriftsteller und Lyriker Jewgenj Jewtuschenko in einem eindrucksvollen Gedicht daran erinnerte, dass die Opfer nahezu ausschließlich Jüdinnen und Juden gewesen waren. Stepan Bandera wurde seinerseits bereits zwei Jahre vorher in München von einem sowjetischen Geheimdienstagenten erschossen.

Das Gespenst des ukrainischen Faschismus

Am 1. Januar 2009 gab die ukrainische Post zum Anlass von Banderas 100. Geburtstag eine Sonderbriefmarke mit seinem Konterfei heraus und im Januar 2010 verlieh ihm der damalige Präsident Juschtschenko posthum den Ehrentitel «Held der Ukraine». Die Regierungen Russlands und Polens protestierten. Die Ehrung wurde schon im März des gleichen Jahres durch den neuen, soeben gewählten prorussischen Präsidenten der Ukraine, Wiktor Janukowytsch, widerrufen.

In Teilen der Maidan-Bewegung wurde Bandera als Held und Märtyrer der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung erinnert. Im Jahr 2015, ein Jahr nach dem Machtwechsel, ehrte das ukrainische Parlament die OUN als «Unabhängigkeitsbewegung». Im folgenden Jahr wurde in Kiew infolge der Dekommunisierungs- und Derussifizierungs-Kampagne der Moskauer Prospekt in Stepan-Bandera-Prospekt umbenannt. Besonders im Westen der Ukraine wird Bandera auch heute noch hochgeachtet; zahlreiche Straßen, Museen und Denkmäler sind ihm gewidmet und auch die nationalistische und antisemitische Partei Swoboda (Freiheit), die faschistische Organisation Prawyj Sektor (Rechter Sektor), das paramilitärische Asow-Regiment und andere rechtsextreme Gruppierungen berufen sich auf ihn.

In der Ostukraine wie in Russland, Polen, Israel und Deutschland gilt Bandera jedoch mit Recht als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Die russischen Warnungen vor einem Neofaschismus in der Ukraine sind keineswegs der Fantasie entsprungen. Inwieweit der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, dem entgegenwirken kann, ist offen. In der Vergangenheit war Selenskyj vor allem wegen seiner Verbindungen zu Oligarchen wie Ihor Kolomojskyj umstritten; heute ist er Kopf und Symbol des demokratischen Widerstandes. Jüngste Wahlergebnisse zeigen, dass der Neofaschismus seine Anziehungskraft in der Ukraine deutlich eingebüßt hat. Eine ukrainische Zivilgesellschaft ist trotz aller Widersprüche im Wachsen. Gerade aber diese fürchtet Putin und denunziert sie deshalb als faschistisch.

Wer im Glashaus sitzt

Auch Wladimir Putin bedient sich antisemitischer Idole, um seinen großrussischen Chauvinismus zu stützen. Dabei bezieht er sich besonders auf Anton Denikin, dem Führer der Weißen Armee in Südrussland und Hauptverantwortlichen der Judenmorde von 1919. Denikin war 1947 in den USA verstorben und mit militärischen Ehren begraben worden. Auf Anordnung Putins wurden seine Gebeine 2005 nach Moskau überführt und auf dem Donskoj-Friedhof bestattet. Im Mai 2009 betonte Putin in der Kyiv Post, wie lesenswert Denikins Tagebuch sei, das gelte ganz besonders für die Stellen, in denen Denikin die Ukraine als einen untrennbaren Teil Russlands beschrieb.

Diese Doktrin des unteilbaren Russlands nutzte Putin für seine Okkupation der Krim wie für die Unterstützung der separatistischen Bewegungen in den «Volksrepubliken» der Ostukraine. So sehr er auch den Gedanken einer Wiederherstellung der Sowjetunion beschwört, seine Vision von der Größe Russland wurzelt in der Verehrung des Zarenregimes und dem Denken des antikommunistischen Exils.

Der in Russland breit bekannte Journalist und Amateur-Historiker Wladimir Bolschakow ist Putins Biograph (und auch der von Marine Le Pen). In der Sowjetunion war er als Prawda-Korrespondent in mehreren Ländern tätig. Seine Arbeit galt vor allen Dingen der «Aufdeckung» eines antikommunistisch-zionistischen, von der amerikanischen Hochfinanz geknüpften Netzwerkes. Nach dem Ende der Sowjetunion entfiel die «antizionistische» Tarnung zugunsten eines offenen Antisemitismus. So widmet sich Bolschakows Buch Mit Talmud und roter Flagge (im russischen Original unter dem Titel S talmudom i krasnym flagom erschienen) eingangs Leo Trotzki als dem Hauptdrahtzieher einer antirussischen «Verschwörung». Trotzki und andere jüdische Bolschewiki seien «vom amerikanischen Bankier und aktiven Zionisten Jacob Schiff, dem Besitzer der Bank Kuhn & Loeb, den Bankiers Warburg, den Rothschilds und anderen finanziert» worden. Kommunismus, jüdisches Finanzkapital und Zionismus ergänzten und stützten einander, so Bolschakow, in einer globalen Operation zur Eroberung der Weltherrschaft.

Putin hat sich zwar, soweit bekannt, selbst nicht antisemitisch geäußert, doch hat er mit seinem großrussischen Chauvinismus den Boden für einen Antisemitismus bereitet, der in der Tradition der «Protokolle der Weisen von Zion» und der frühfaschistischen Massenbewegung Schwarze Hundert steht.

Mit der – nicht einmal neuen – Verleumdung Trotzkis als bezahlter Agent des jüdischen Finanzkapitals soll zum anderen nicht nur der jüdische Revolutionär, sondern auch der Internationalist und Interessenvertreter der ukrainischen Werktätigen getroffen werden.

Die Kommunistische Partei der Russländischen Föderation (KPRF) bezieht zum Überfall auf die Ukraine eine ähnlich erbärmliche Haltung wie die deutschen Kaisersozialisten bei Kriegsbeginn 1914. Die Operationen der russischen Armee seien nicht nur im Interesse Russlands, sondern auch der Ukraine. Manche Leute verstünden «diese Tatsache immer noch nicht, aber ihretwegen sind Entmilitarisierung und Entnazifizierung notwendig», erklärte der stellvertretende Parteivorsitzende Dmitri Nowikow, der den Eroberungskrieg mit den offiziellen Propagandavokabeln zu rechtfertigen versucht.

Für Sozialismus und Souveränität

Doch mit der Idee einer unabhängigen Ukraine haben sich auch tatsächliche Linke jahrzehntelang sehr schwer getan. Sie unterstützten zwar verbal das Selbstbestimmungsrecht der Völker, doch wenn die wirklichen – oft aber nur vermeintlichen – Interessen der Sowjetunion gefährdet schienen, trat dieses in den Hintergrund. Eine Ausnahme bildete neben Lenin auch Trotzki.

«Die ukrainische Frage, die viele Regierungen, viele ‹Sozialisten› und sogar ‹Kommunisten› zu vergessen oder in die tiefsten Schubfächer der Geschichte zu vergraben suchten, wurde wieder einmal auf die Tagesordnung gesetzt, und diesmal mit verdoppelter Kraft … Durch vier Staaten gekreuzigt, nimmt heute die Ukraine im Schicksal Europas dieselbe Stellung ein, die seinerzeit Polen einnahm mit dem Unterschied jedoch, dass heute die internationalen Beziehungen unvergleichlich gespannter und die Entwicklungstempi rascher geworden sind. Die ukrainische Frage wird in der allernächsten Zukunft im Leben Europas eine gewaltige Rolle spielen. » Diese Worte schrieb Trotzki im April 1939 im mexikanischen Exil auf Veranlassung von Angehörigen der in Kanada lebenden ukrainischen Diaspora für die Zeitschrift Socialist Appeal (der Aufsatz erschien im Deutschen unter dem Titel «Die ukrainische Frage»).

Unter den Kanadierinnen und Kanadiern ukrainischer und ukrainisch-jüdischer Herkunft gab es damals viele Linke; ein Drittel der Gründungsmitglieder der Kommunistischen Partei Kanadas stammte aus der Ukraine. Der Rückgriff auf Polen, «durch vier Staaten gekreuzigt», erinnerte an die Haltung der Ersten Internationale im 19. Jahrhundert: Diese hatte ein vereintes, unabhängiges Polen trotz dessen wahrscheinlich katholisch-konservativer Ausrichtung unterstützt.

Trotzki kam mehrmals auf diese Frage zurück. Eine von der Vierten Internationale in den USA abgespaltene Gruppe beschuldigte ihn, die Interessen der Sowjetunion zu verraten. In «Die Unabhängigkeit der Ukraine und die sektiererischen Wirrköpfe» erwiderte Trotzki am 30. Juli 1939, das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung sei ein demokratisches Prinzip, jedoch «mit den sozialistischen Aufgaben eng verknüpft. Der entschiedene Kampf der bolschewistischen Partei für das Recht der unterdrückten Nationen Russlands auf Selbstbestimmung hat dem Proletariat die Machteroberung außerordentlich erleichtert. Der proletarische Umsturz löste auch die demokratischen Aufgaben, vor allem das Agrarproblem und die Nationalitätenfrage, wodurch die russische Revolution einen kombinierten Charakter erhielt.

Das Proletariat hatte sich bereits sozialistische Aufgaben gestellt, doch es konnte auch die Bauernschaft und die unterdrückten Nationalitäten (in ihrer Mehrheit Bauern), die noch mit der Lösung ihrer demokratischen Aufgaben beschäftigt waren, nicht sofort auf dieses Niveau heben. Das erklärt die historisch unvermeidbaren Kompromisse in der Agrar- und in der Nationalitätenfrage.»

Nur wenig später, am 20. August 1940, wurde Trotzki von einem Agenten Stalins ermordet. Weitere zehn Monate darauf, am 22. Juni 1941, überfiel Nazi-Deutschland die Sowjetunion. Zunächst errang die Wehrmacht in der Ukraine schnelle Siege. Das lag unter anderem auch daran, dass Teile der Bevölkerung nach der Stalin-Herrschaft einer Illusion der Befreiung verfielen, bis sie erkennen mussten, dass Hitlers Regime noch weitaus grausamer war. Doch die Denkweise Stalins und der Zaren ist unter Putin nach Russland zurückgekehrt – und damit auch die Lüge, die ukrainische Bevölkerung sei ein Volk zweiter Klasse, das keiner eigenen Staatlichkeit bedürfe.

Der Kampf gegen Chauvinismus, Militarismus, Antikommunismus und Antisemitismus verbindet sich ohne Wenn und Aber mit dem Kampf um eine unabhängige Ukraine, über deren künftiges Schicksal nur die Ukrainerinnen und Ukrainer – und nur sie allein – selbst bestimmen müssen.

Nichts kann auch der russischen Bevölkerung willkommener sein, als eine unabhängige Ukraine, denn: «Ein Volk, das andere unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren. Die Macht, deren es zur Unterdrückung der andern bedarf, wendet sich schließlich immer gegen es selbst. » Diese Worte richtete Friedrich Engels in seiner Arbeit «Flüchtlingsliteratur» aus dem Jahr 1874 gegen die russische Besetzung Polens – sie sind heute so aktuell wie damals.

Mario Keßler ist Senior Fellow am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dieser Aufsatz ist zuerst bei Jacobin Magazin erschienen.