Algerien und Frankreich wirken wie eine tragische Schicksalsgemeinschaft. Begründet 1830 mit der rücksichtslosen Kolonisierung des damals noch von den Osmanen beherrschten Nordafrikas, war sie mit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 nach einem achtjährigen Krieg nicht zu Ende. Schuld und Verantwortung scheinen klar verteilt. Kolonialismus ist ein Menschheitsverbrechen, man kann daran keine «guten Seiten» erkennen, wie es die französische Nationalversammlung 2005 in ein Gesetz schreiben lassen wollte. Und wo die Wünsche der Kolonisierten nach Autonomie und Freiheit, auf einen unabhängigen Staat und eine der eigenen Bevölkerung dienenden Wirtschaft, auch nach kultureller, sprachlicher und religiöser Selbstbestimmung so lange nicht gehört, sondern aktiv unterdrückt werden, wird am Ende der gewaltsame Aufstand als einzige gangbare Lösung bleiben. Als am 8. Mai 1945 die Algerier*innen, die an der Seite Frankreichs gegen Hitler (und an der Seite des Widerstands gegen das Kollaborationsregime in Vichy) bestanden hatten, für ihre Unabhängigkeit demonstrierten, wurden sie massenhaft niedergeschossen.
Claus Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen und Leiter des dortigen «Panel on Planetary Thinking». In diesen Tagen erscheint von ihm das Buch «Reparationen. Im Dreieck Algerien- Frankreich- Deutschland» (Verlag Dinata Konzelbach, Mainz).
Es greift gleichwohl zu kurz, die Entwicklungen und Verwerfungen bis zum heutigen Tag auf den mehr als 132 Jahre währenden Kolonialismus und eine simple Formel – hier die französische Täternation, dort die algerische Opfernation – zu reduzieren. Längst nicht alles lässt sich einem solchen Dualismus unterordnen: Nicht die Versuche, im kolonialen Algerien eine friedliche kulturelle Begegnung im gegenseitigen Respekt zu gestalten. Nicht die Erfahrungen der «Pieds-Noirs» (Schwarzfüße), wie man die heterogene, aus ganz Europa nach Algerien gegangene Siedlerbevölkerung nannte. Nicht die Erlebnisse der Rappélés, der französischen Wehrpflichtigen, die in ein wahres Inferno geschickt wurden. Und ebenso wenig die der als Verräter gebrandmarkten Harkis, der algerischen Angehörigen der französischen Hilfstruppen. All diese Schicksale sind erst in der jüngsten Zeit ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen.
Seinen Anfang nahm der Algerienkrieg im Jahr 1954. Viele Algerier*innen hatten damals den Glauben an den friedlichen Kampf um Anerkennung und Autonomie innerhalb der kolonialistischen Ordnung verloren. Nun sollten Waffen statt Worte sprechen, Moudjahedins gingen in den Untergrund und gründeten die paramilitärische «Organisation Spéciale». Sie sammelten Munition, trafen sich heimlich in den Bergen der Kabylei und des Aurès und bereiteten sich auf den Kampf vor. Mit den sogenannten Allerheiligen-Anschlägen entdeckte Frankreich einen neuen Gegner: die Nationale Befreiungsfront FLN. Der bewaffnete Konflikt mit ihr hatte mindestens 400.000 Tote zur Folge – darunter sehr viele Zivilist*innen. Er gilt als einer der blutigsten Kolonialkriege des 20. Jahrhunderts. Terror war auf beiden Seiten ein bewusstes Mittel der Kriegsführung, dem überwiegend Unschuldige zum Opfer fielen.
Nachdem Frankreich im Jahr 1962 seine Niederlage eingestehen musste, blendete das Land mit einer hastig verordneten Amnestie das Ausmaß von Folter und Vertreibung der algerischen Bevölkerung aus. Bis heute fehlt eine unzweideutige Entschuldigung von Repräsentant*innen der französischen Republik für die Kolonialverbrechen – aus einem falsch verstandenen Patriotismus heraus, der historische Fehler nicht eingestehen mag, und aus Angst vor der extremen Rechten, die islamophobe Revanche-Gedanken am Leben hält. Dabei sind die Menschen beider Länder über die seit Jahrzehnten in Frankreich lebende algerische Diaspora intensiv miteinander verbunden. Beide Seiten des Mittelmeers leiden unter islamistischem Terror – auch das eine Langzeitfolge der zu wenig aufgearbeiteten Vergangenheit. Einen selbstreflexiven und schonungslosen Dialog könnte der von Emmanuel Macron beauftragte Bericht zur Erinnerungskultur («rapport Stora») aus der Feder des im algerischen Constantine geborenen Historikers Benjamin Stora eröffnen. Dazu müsste das autokratische Regime Algeriens, das seit 2019 von einer jungen Demokratiebewegung, dem sogenannten Hirak, herausgefordert wird, allerdings das Angebot annehmen. Aufzuarbeiten wäre auch der radikale Antizionismus, in den uralte Judenfeindlichkeit eingeflossen ist.
Dass sich zwei Nationen ihre «Erbfeindschaft» verzeihen und diese beilegen können, haben Deutschland und Frankreich nach 1945 mit vielen Initiativen bewiesen, die vor allem auf zivilgesellschaftlichen Fundamenten beruhen. Dieser im Stora-Bericht aufgegriffene Akzent ist im algerisch-französischen Verhältnis noch zu wenig entwickelt. Bei der angestrebten Reparatur der Beziehungen könnte Deutschland eventuell als dritter Partner behilflich sein. Der erwähnte 8. Mai 1945 ist für alle eine Schlüsselerinnerung: Frankreich hatte Hitler (und Pétain) überwunden und war wieder frei, Deutschland war besiegt und konnte auch frei werden, Algerien hat die damals verweigerte Unabhängigkeit 1962 erlangt. Im Übrigen gab es um 1960 – in den Anfängen der deutsch-französischen Aussöhnung – «Kofferträger» genannte deutsche Unterstützer der algerischen Befreiungsbewegung. Zudem kamen Arbeitsmigrant*innen in beide deutsche Staaten. Auch die aktuellen Herausforderungen der Mittelmeerpolitik von der Migration bis zur transnationalen Energie- und Sicherheitspolitik wären weit besser zu bewältigen, wenn die beiden EU-Länder in ein Reparationsdreieck einbezogen werden. Die materielle Wiedergutmachung ist dabei ebenso wichtig wie die Heilung historischer Wunden.
Dazu gehört die Absage an alte Stereotypen über die «Ereignisse», wie man in Frankreich den Kolonialkrieg lange verharmlost hat. In Frankreich hat sich in der Gestalt von Jean-Marie Le Pen, seiner Tochter Marine und zuletzt des Eric Zemmour, der jüdisch-algerische Wurzeln hat, eine sowohl antisemitische wie auch islamophob Neue Rechte auf den moralischen Trümmern des Algerienkrieges entwickelt und gehalten, die längst antidemokratische Züge angenommen hat. Dass eine ehrliche und schonungslose Vergangenheitsaufarbeitung der Stärkung der Demokratie hilft, hat sich am deutschen Beispiel gezeigt, aber auch, dass man für diese Errungenschaft angesichts eines offenen Revisionismus der deutschen Rechten keine Lebensversicherung hat. Und in Algerien muss die Ideologie der Einmütigkeit aufgelöst werden, damit die darunter verschüttete Vielfältigkeit des antikolonialen Widerstands sichtbar wird und die dahinter formierte Autokratie der «alten Kämpfer» den kulturellen, sprachlichen und religiösen Pluralismus der algerischen Gesellschaft anerkennt. Der Hirak, die 2019 entfachte Demokratiebewegung setzt das Regime der «Mumien» oft mit der französischen Besatzungsarmee gleich, aber auch sie hat noch ein sehr grobschlächtiges Bild von der jüngeren Geschichte ihres Landes.