Nachricht | Neuffer: Die Zeitschrift «alternative», 1958-1982; Göttingen 2021

Theorie in einer journalistischen Form

Moritz Neuffer untersucht in seiner am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschungerstellten Dissertation die Zeitschrift «alternative», die ab 1963 eine der wichtigsten Zeitschriften der neuen Linken werden sollte. Anfang der 70er wurden bis zu 10.000 Exemplare der charakteristischen roten A5-Hefte verkauft.

Die «alternative» ist Teil jener großen Bewegung dieser Jahre, in der in Zeitschriften wie dem «Argument» (gegründet 1959), dem «Kursbuch» (ab 1965), dem «Kürbiskern» (1965 bis 1987), der «links» (1969-1997) oder der «Ästhetik & Kommunikation» (ab 1970) die marxistische Theorie an die westdeutschen Universitäten kommt. Besonders an der «alternative» ist, dass sie zum einen einen literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt hat, und zum anderen, dass sie mit Hildegard Brenner(geboren 1927) die einzige große Kulturzeitschrift ist, die – bis zum Ende – von einer Frau alleinig herausgegeben wird.

Thematisch widmet die «alternative» sich der Wiederaneignung intellektueller Archive des Marxismus der Zwischenkriegszeit (Benjamin, Brecht, Korsch, usw.), sowie, darauf aufbauend der Theoretisierung geistiger Arbeit und der Frage nach deren Funktion im (Spät-)Kapitalismus. Sie ist auch eine der ersten Zeitschriften, die früh, bereits Ende der 1960er Jahre, die neuen Theorien des Strukturalismus und Poststrukturalismus vor allem aus Frankreich, sprichwörtlich im doppelten Sinne, «übersetzt». Zeitschriften waren oft schneller als die Verlage, entdeckten die theoretischen Innovationen früher, mussten dann aber die Texte selbst übersetzen. In den 1970er widmete sich auch die «alternative» der Debatte über die Krise der Linken und über die durch die zweite Frauenbewegung aufgeworfenen Fragen zu Differenz-, Gleichheits- und sozialistischem Feminismus. Zwar löse in jenen Jahren, so Neuffer, der Begriff der «Erfahrung» den der «Praxis» ab, aber schon Mitte der 1970er wurde reflektiert, was es bedeute, wenn der Kapitalismus sich Phantasie und Sinnlichkeit längst als Bestandteile der vielzitierten Kulturindustrie einverleibt habe. So oder so, der Marxismus konnte keine Leittheorie mehr sein. Die Linke steckt in der «Krise des Marxismus» fest.

Die Zeitschrift ist, so Neuffer, Akteurin und Chronistin der Geistesgeschichte von «1968» zugleich. Er erzählt diese Geschichte relativ detailliert nach, und reflektiert immer wieder die Form, bzw. das Format der «Zeitschrift» selbst. Er blickt auch auf vergleichbare Zeitschriftenprojekte der neuen Linken in Großbritannien, Frankreich und Italien. Auch dort sind wichtige Intellektuelle ebenso häufig ZeitschriftenmacherInnen.

Neuffer widmet sich den vielfältigen intellektuellen Verweisen und Bezugnahmen der Zeitschriften, die einen Diskursraum schaffen, aber auch oftmals Distanzgesten sind. Er dringt auf der Basis einer umfangreichen Überlieferung aus dem Redaktionsarchiv der «alternative» und aus dem Vorlassvon Hildegard Brenner tief in die Theorieaneignung ein, widmet sich aber auch den mitunter großen Differenzen und Rivalitäten innerhalb der Redaktion. So werden Gerichtsprozesse mit Verlagen geführt und auch die Streitigkeiten innerhalb der Redaktion sind teilweise sehr scharf. Die 1940 geborene Helga Gallasetwa zieht sich 1974 nach fast zehn Jahren resigniert zurück, lehrt aber noch als Professorin bis 2005 an der Universität Bremen. Dort lehrte seit 1971 auch Brenner, die sich aber bald beurlauben lässt und sich nach dem Ende der Zeitschrift aus der Öffentlichkeit zurückzieht.

Neuffer geht immer wieder auf das Medium «Zeitschrift» ein und theoretisiert dieses. Er debattiert, ob Zeitschriftenredaktionen als Gruppen und ob Zeitschriftenprojekte als Ausdruck einer «Generation» angesehen werden können. Er fragt sich, was das Publizieren in der «journalistischen Form» der Zeitschrift von anderen Formen des Denkens und Schreibens unterscheidet. Für ihn ist die «alternative» ein Beispiel für vielgliedrige Netzwerke, aber auch für interne Verfestigung und Isolation (S. 366). In länger existierenden Zeitschriften fielen dann «Rezeption und Produktion [von Theorie] in eins». Nach ihrem Ende werden solche Zeitschriften selbst zu Archiven und auch diese Nachgeschichte, etwa in autobiographischen Rückblicken ehemaliger Beteiligter, ist Gegenstand dieses ebenso fundierten wie lesenswerten Buches. Die «alternative» erinnert in ihrem avantgardistischen Habitus wie in ihrer Rigidität zuweilen an die feministische, von 1976 bis 1987 erschienene «Schwarze Botin».

Moritz Neuffer: Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift »alternative«, 1958-1982, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 415 Seiten, 36 Euro