«Wir können auch einmal frieren für die Freiheit» und ein paar Jahre «weniger an Lebensglück und Lebensfreude» ertragen. Mit diesen Worten untermauerte Ex-Bundespräsident Joachim Gauck in der ARD-Talkshow «Maischberger» am 9. März 2022 seine Forderung nach einem unmittelbaren Importstopp russischer Energieträger. Seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wird in Deutschland diskutiert, welche wirksamen Schritte unternommen werden könnten, um die russische Regierung zu einem Einstellen der Kampfhandlungen und zu Friedensverhandlungen zu bewegen. Die zwei wichtigsten Forderungen in der Debatte: eine Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine und der Importstopp russischer Energieträger.
Die Bundesregierung hat in der Europäischen Union bisher den Beschluss eines russischen Energieembargos verhindert. Deutschland bezieht 55 Prozent seines importierten Erdgases und rund ein Drittel des importierten Erdöls aus Russland. In der gesamten EU liegt der Anteil bei rund 40 Prozent bei Erdgas und knapp 30 Prozent bei Erdöl. Trotz wiederholter Bekundungen, «Energieunabhängigkeit von Russland zu erreichen», dämpfte Wirtschaftsminister Robert Habeck die Erwartungen, dies könne innerhalb weniger Wochen oder Monate geschehen (Spiegel 2021).
Die energiepolitische Verflechtung folgte bislang einem politischen Kalkül, denn sie galt in Deutschland über politische Lager hinweg als Stabilitätsanker in den Beziehungen zu Russland und sollte gerade in Zeiten zunehmender Konflikte exklusive Gesprächskanäle nach Moskau offenhalten. Getreu dem Motto «Wandel durch Handel» wischten die Befürworter*innen von Nord Stream 2 jahrelang jegliche Bedenken mit dem Argument weg, der Ausbau der Gaspipeline diene nicht primär ökonomischen Interessen, sondern festige aus russischer Sicht die deutsche Sonderstellung. Der Stopp der Pipeline und die Debatte um ein mögliches Embargo russischer Energieträger sind daher ein Wendepunkt, denn beides erlaube, so Habeck, die Transformation zu erneuerbaren Energien künftig nicht mehr nur unter ökologischen, sondern «endlich unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten» zu diskutieren (ebd.).
Doch welche Gründe sprechen für einen Importstopp russischer Energieträger? Befürworter*innen verweisen abgesehen von sicherheitspolitischen Risiken auf die Bedeutung der Öl- und Gasexporte für den russischen Staatshaushalt. Eine drastische Reduzierung oder gar Einstellung der Importe würde der russischen Regierung die Finanzierungsgrundlage für ihre kriegerische Außenpolitik entziehen. Uneinigkeit besteht dagegen in der Frage, inwieweit ein Boykott nicht nur die Herrschenden, sondern weite Bevölkerungsschichten treffen würde und damit den Rückhalt für die Regierung stärken könnte. Uneinigkeit besteht darüber hinaus darüber, welche politischen Folgen ein westliches Embargo hätte. Wird dadurch eine weitere russisch-chinesische Annäherung begünstigt? Und welche Auswirkungen hätte eine weitgehende ökonomische Entkopplung zwischen Russland und der EU für den postsowjetischen Raum? Im folgenden Artikel gehe ich diesen Fragen nach.
Russlands Abhängigkeit vom fossilen Sektor – ein Überblick
In der internationalen Arbeitsteilung nimmt Russland seit den 1990er-Jahren die Rolle eines Rohstofflieferanten für die kapitalistischen Zentrumsstaaten – und seit einigen Jahren für China – ein. Die Säulen der russischen Wirtschaft sind die Rohstofferschließung und (partielle) -verarbeitung, die Aluminium-, Metallurgie- und Stahlindustrie sowie der Finanzsektor. Der Anteil des fossilen Energiesektors (Erdöl, Erdgas, Kohle) am Bruttoinlandsprodukt lag in den vergangenen zehn Jahren konstant bei 20 Prozent und ist damit von zentraler Bedeutung für die russische Wirtschaft.
Die Warenstruktur des russischen Exports dominieren Rohstoffe. Öl, Gas und Metalle machen zwischen 65 bis 70 Prozent der Exporte aus. Werden Waren, die zumindest partiell den extraktiven Sektoren zugerechnet werden können (chemische Erzeugnisse, Nahrungsmittel und Holz) berücksichtigt, beläuft sich der Anteil auf über 80 Prozent. Auf Maschinen und Ausrüstungsgegenstände entfallen nur 7 bis 12 Prozent der Gesamtexporte, dabei handelt es sich fast ausschließlich um Rüstungsgüter, Bauteile für Atomkraftwerke und zu einem geringeren Teil um landwirtschaftliche Maschinen.[1] Der mit Abstand wichtigste Exportmarkt für russische Energieträger ist die Europäische Union. Im Jahr 2019 belief sich der Anteil auf 55 Prozent, gefolgt von China (15 Prozent), der Türkei und Südkorea (jeweils 6 Prozent). Demgegenüber importiert Russland überwiegend Waren hoher Wertschöpfung. Der Anteil von Maschinen und Ausrüstungsgegenständen liegt zwischen 40 bis 50 Prozent der Gesamtimporte. Ein weiterer großer Posten sind chemische Erzeugnisse und veredelte Rohstoffe (zwischen 14 und 18 Prozent). Nur der Import von Nahrungsmitteln und Agrarerzeugnissen konnte im Vergleich zu den 1990er-Jahren deutlich reduziert werden, was darauf schließen lässt, dass staatliche Versuche, die eigene landwirtschaftliche Produktion zu fördern, erste Erfolge vorweisen können. Allerdings lässt sich keine Modernisierung der industriellen Produktionsbasis erkennen. Während der Investitionsanteil an fixem Kapital für Reparatur und Modernisierung von 2005 bis 2008 – der Hochphase des Wirtschaftsaufschwungs – durchschnittlich bei 21 Prozent lag, fiel dieser Wert auf 17,4 Prozent im Jahr 2014 und weiter auf 16,1 Prozent drei Jahre später. Dementsprechend stieg das durchschnittliche Alter von Maschinen und Ausrüstungsgegenständen im selben Zeitraum leicht von 11,2 auf 11,4 Jahre an. Dabei wäre eine Modernisierung und Erneuerung der Produktionsanlagen eine zentrale Voraussetzung, um die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor zu überwinden. Auch die staatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung gemessen am Wert des Bruttoinlandsprodukts bleiben auf einem sehr niedrigen Niveau und stiegen von 1,07 Prozent im Jahr 2014 auf 1,11 Prozent (2017).
Die Russische Föderation erwirtschaftet zwar regelmäßig Außenhandelsüberschüsse, allerdings lässt sich dies beinahe ausschließlich auf den Öl- und Gasexport zurückführen. Sie ermöglichten es der Regierung, die weltweit viertgrößten Devisenreserven nach China, Japan und der Schweiz anzuhäufen. Allerdings wurden diese kaum für die Diversifizierung der Wirtschaft oder den Ausbau der Infrastruktur verwendet, sondern dienen als Rettungsanker in Krisenzeiten. Als Reaktion auf den Überfall auf die Ukraine haben die Europäische Union, Großbritannien, die USA und Kanada russische Vermögenswerte eingefroren. Damit kann die russische Zentralbank auf die Hälfte ihrer Währungsreserven in Höhe von 630 Milliarden US-Dollar nicht mehr zugreifen.
Aufgrund des geringen Diversifizierungsgrads der Wirtschaft ist der russische Staatshaushalt in hohem Maß von den Einnahmen aus dem Rohstoffexport abhängig. Allein der Öl- und Gassektor tragen etwa zu einem Drittel des gesamten föderalen Budgets bei. Wie unmittelbar der Staat vom fossilen Sektor abhängig ist, verdeutlicht eine Aussage des damaligen Premierministers Dmitrij Medwedjew im Februar 2016. Der niedrige Ölpreis, so der Premierminister damals, habe einen massiven Rückgang staatlicher Einnahmen zur Folge und mache staatliche Budgetkürzungen im Umfang von 10 Prozent notwendig (zit. n. RIA-Novosti 2016). Ein weiterer Verfall des Ölpreises oder Exportrückgänge, zum Beispiel im Falle eines Embargos durch die EU, hätten damit weitreichende Folgen für die russische Wirtschaft.
Die Einführung des Kapitalismus: Rückkehr in die Peripherie
Seit der Auflösung der Sowjetunion und der kapitalistischen Transformation in den 1990er-Jahren hat die Orientierung Russlands auf den Rohstoffexport deutlich zugenommen. Die Ausrichtung der russischen Ökonomie auf den Rohstoffexport muss im Kontext dieser tiefgreifenden Veränderungsprozesse und der damit einhergehenden Herausbildung neuer Herrschaftsverhältnisse analysiert werden. Ansonsten bleiben die Widersprüche der russischen Rohstoffwirtschaft (periphere Weltmarktintegration, soziale Polarisierung der Gesellschaft) weitgehend unberücksichtigt.
Die in der Perestroika angestoßene Entflechtung von Staat und Partei schuf ein Machtvakuum in den Unionsrepubliken, das den Handlungsspielraum der nationalen Eliten (Staatsbürokratie, Betriebsdirektoren, hochrangige Parteikader) stark vergrößerte. Oftmals begünstigte dies ein Bündnis zwischen den aufkommenden Nationalbewegungen und der Staatsbürokratie, da Letztere davon ausging, in einem unabhängigen Nachfolgestaat die künftige politische Entwicklung und die Verteilung des Staatseigentums stärker beeinflussen zu können als in einer reformierten Union unter Staatspräsident Michail Gorbatschow, so etwa in der Ukraine (vgl. Hale 1999). Relevante Teile der russischen Elite griffen diese Spaltungen auf. Als die Wirtschaftskrise in den späten 1980er-Jahren zu eskalieren drohte und die staatliche Kontrolle über die Betriebe abnahm, drängte ein heterogenes Bündnis aus Dienstklasse, neoliberalen Ökonom*innen und großen Teilen der liberalen Dissidentenbewegung auf einen unverzüglichen Übergang zur Marktwirtschaft. Aufgrund der vergleichsweise weit fortgeschrittenen Internationalisierung der russischen Rohstoffkonzerne, dem hohen Industrialisierungsgrad und der Größe des Landes bewertete dieses durch Boris Jelzin repräsentierte Bündnis die Voraussetzungen für ein unabhängiges, kapitalistisches Russland als günstig (Jaitner 2014: 31 ff.).
In der aus der Sowjetunion hervorgegangenen Russischen Föderation verfolgte die Jelzin-Regierung von Anfang an das Ziel, die marktwirtschaftlichen Reformen «unumkehrbar» (Jelzin 1994: 235) zu machen. Mit der sogenannten Schocktherapie setzte sie auf einen radikalen Bruch mit der sowjetischen Planwirtschaft. Die neoliberale Wirtschaftspolitik war jedoch kein therapeutisches Modernisierungsprogramm, sondern leitete eine Dekade des ökonomischen Niedergangs ein, die Russland bis heute spürbar prägt. Das gesamte Ausmaß verdeutlicht der Ökonom Joseph Stiglitz (2002), dem zufolge die volkswirtschaftlichen Verluste Russlands gemessen am Bruttoinlandsprodukt sogar noch größer waren als während des Zweiten Weltkriegs.
Die Schocktherapie umfasste vier Säulen: die Aufgabe der staatlichen Preiskontrollen, die Liberalisierung des Außenhandels, die Förderung eines privaten Finanzsektors und die Privatisierung des Staatseigentums. Anders als in China verzichtete die Regierung unter Jelzin weitgehend darauf, das Staatseigentum – zumindest in Schlüsselsektoren – zu erhalten und parallel dazu die Entstehung von Privatkapital zu fördern. Durch staatlich gelenkte Privatisierungsprozesse gelang es einer Gruppe nationaler Unternehmer, den sogenannten Oligarchen, die profitabelsten Sektoren der russischen Wirtschaft – die Brennstoff-, Eisen- und Stahlindustrie, die Buntmetallurgie sowie die Chemie- und petrochemische Industrie – unter ihre Kontrolle zu bringen (Muchačëv 2013). Dabei handelt es sich um jene Branchen, die in der sowjetischen Planwirtschaft eine zentrale Versorgungsfunktion durch die Lieferung billiger Ressourcen in hoher Stückzahl einnahmen. Ihre internationale Konkurrenzfähigkeit beruht auf der Ausbeutung der im internationalen Vergleich günstigen Arbeitskraft, relativ moderner Produktionsanlagen und großer Transportkapazitäten.
Im Gegensatz dazu waren die produzierenden Sektoren (Maschinenbau, Konsumgüterhersteller) durch die forcierte Integration der russischen Ökonomie in den Weltmarkt der internationalen Konkurrenz schutzlos ausgeliefert. Nimmt man das Jahr 1990 als Ausgangsjahr mit dem Indexwert 100 fiel die Industrieproduktion bis 1998 auf 45,8 Prozent. Der Anteil der Beschäftigten in der Industrie ging um circa ein Drittel zurück. Der Bedeutungsverlust der Industrie lässt sich auch in absoluten Zahlen belegen. Der Anteil industriell produzierter Güter am Bruttoinlandsprodukt ging von 65,5 Prozent (1990) auf 41 Prozent (2004) zurück (Grinberg et al. 2006).
Ein neues Verhältnis zwischen Staat und Kapital
Der Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 symbolisiert eine neue Etappe in der Entwicklung des russischen Kapitalismus. Der verstärkte wirtschaftliche Dirigismus und die Zentralisierung von Entscheidungsprozessen in der Exekutive sind eine Reaktion auf die spezifischen Dysfunktionalitäten des unregulierten neoliberalen Kapitalismus der 1990er-Jahre in Russland und verfolgen das Ziel, die Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zu verbessern. In dieser veränderten Konstellation übernimmt der Staat gegenüber den einzelnen Fraktionen des herrschenden Blocks zunehmend eine vermittelnde Rolle und gegenüber gesellschaftlichen Klassen und deren Organisationen (Arbeiterschaft und Gewerkschaften) die Aufgabe des Zuchtmeisters.
Die Konsolidierung der Herrschafts- und Machtverhältnisse unter Putin begründete eine neue Form der Regulation, die als oligarchisch-etatistische Ordnung bezeichnet werden kann. Die Regierung erklärte sich bereit, die aus dem Privatisierungsprozess hervorgegangenen Eigentumsverhältnisse stillschweigend zu legalisieren und verlangte dafür von der Oligarchie politische Unterstützung. Die neue Ordnung beruhte jedoch in erster Linie auf einer intensivierten Rohstoffausbeutung (vor allem Öl und Gas) und deren Export – ein lukratives Geschäftsmodell, das zunehmend durch staatliche Firmen kontrolliert wurde. Kooperative Oligarchen wurden vom Staat für den Verkauf ihrer Anteile an Ölkonzernen ausgezahlt. Roman Abramowitsch, langjähriger Präsident des englischen Fußballklubs FC Chelsea, erhielt für den Verkauf seiner Firma Sibneft an Gazprom 13 Milliarden US-Dollar. Das gilt auch für die russischen Anteilseigner des Konsortiums TNK-BP bei der Übernahme durch den staatlichen Ölkonzern Rosneft. Andererseits machte die Regierung von Anfang an deutlich, dass Widerstand gegen diese Veränderungen nicht geduldet würde. Das zeigte sich am konsequenten Vorgehen gegen Michail Chodorkowskij und die Zerschlagung seines Ölförderunternehmens Yukos, das mehrheitlich Rosneft zugeschlagen wurde. Trotz der Konflikte zwischen einem Teil der Oligarchie und dem Staat unterstützte die Mehrheit den neuen Kurs. Einerseits befürwortete sie einen starken Staat, der die Internationalisierung der russischen Konzerne unterstützen und vorantreiben konnte. So wurde der Beitritt zur Welthandelsorganisation eines der zentralen Projekte der Regierungen Putin/Medwedjew. Andererseits konnte nur ein funktionsfähiger Staat einen weiteren Zerfall Russlands verhindern.
Die ersten beiden Amtszeiten Wladimir Putins (2000–2008) fielen mit einer wirtschaftlichen Wachstumsphase zusammen. Im Zuge dessen verbesserte sich die soziale Lage der Bevölkerung deutlich. Die real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung stiegen in dieser Zeit um 7,9 Prozent (Cooper 2009: 5). Insgesamt ging in dem genannten Zeitraum der Anteil der Bevölkerung mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum von 43,8 Millionen (30 Prozent der Gesamtbevölkerung) auf 19 Millionen (13,5 Prozent der Gesamtbevölkerung) zurück. Dadurch entstand eine städtische Mittelschicht, die sich als wichtige Stütze der oligarchisch-etatistischen Ordnung erweist. Das gilt auch für einen relevanten Teil der Transformationsverlierer*innen (Arbeiter*innen, Rentner*innen und Staatsangestellte des Bildungs- und Gesundheitssektors). Während diese Schichten in den 1990er-Jahren große Lohneinbußen hinnehmen mussten, profitierten sie jetzt von Renten- und Lohnerhöhungen, eine Maßnahme, die nach Angaben des Ökonomen Stanislaw Menshikov zur Erhöhung des Konsums um circa 20 Prozent beitrug (Menshikov 2007: 299 ff.).
Die klientelistische Einbindung einzelner Schichten sollte jedoch nicht mit einer aktiven Umverteilungspolitik verwechselt werden. Zwar stiegen die staatlichen Sozialausgaben von 2005 bis 2009 um 126 Prozent. Allerdings fällt der Anstieg weniger beeindruckend aus, wenn man berücksichtigt, dass die Gesamtausgaben des Staates im selben Zeitraum um 132 Prozent erhöht wurden (vgl. Sutela 2012: 202). Im Gegensatz dazu stieg die Zahl von Dollarmilliardär*innen in Russland von null (2000) auf 87 (2008). Die durch das Öl-getriebene Wachstum finanzierte Sozialpolitik stand nicht im Widerspruch zu den Interessen großer Kapitalfraktionen, sondern befriedete die in den 1990er-Jahren virulenten sozialen Konflikte. Die wachsende ökonomische Bedeutung des Rohstoffsektors zeigt sich auch in überdurchschnittlichen Löhnen, was besonders in den Regionen abseits der Zentren Moskau und St. Petersburg einen stabilisierenden Effekt hat. Obwohl der Konzern Norilsk Nikkel die Zahl seiner Beschäftigten von 160.000 im Jahr 1990 bis Mitte der 2000er-Jahre fast halbierte, lag der durchschnittliche Monatslohn 2,6-mal über dem nationalen Durchschnitt (Fortescue/Rautio 2011: 838).
Die gescheiterte Westorientierung
Die Konsolidierung der oligarchisch-etatistischen Ordnung wurde maßgeblich durch die intensivierte Ausbeutung fossiler Rohstoffe erreicht. Dies gab Debatten Auftrieb, in denen die Abhängigkeit der russischen Ökonomie vom Öl- und Gassektor kritisch thematisiert wurde und Schritte zur Stärkung produzierender Branchen gefordert wurden. Zu Beginn ihrer Amtszeit war die Putin-Regierung darum bemüht, durch neue außenpolitische Bündnisse eine Modernisierung der russischen Wirtschaft einzuleiten. Im Mittelpunkt dieser Strategie stand die Europäische Union, der mit Abstand größte russische Handelspartner. Innerhalb der EU nahm die Bundesrepublik Deutschland eine Schlüsselrolle in der außenpolitischen Strategie Russlands ein. Bereits in den 1990er-Jahren stieg die Bundesrepublik Deutschland zum wichtigsten russischen Handelspartner und Gläubiger auf. Zudem bauten deutsche Firmen, insbesondere aus den Bereichen Anlagen- und Maschinenbau, Automobil- und Chemieindustrie ihre Präsenz in Russland durch die Gründung von Konzernniederlassungen aus.
In den 2000er-Jahren wurde der Handel im Energiesektor durch Gemeinschaftsunternehmen zwischen Gazprom, Wintershall und E.ON zur Ausbeutung neuer Erdgasfelder weiter ausgebaut. Dabei akzeptierte die deutsche Seite Mehrheitsbeteiligungen russischer Energiefirmen, behielt jedoch durch die Bereitstellung der technischen Ausrüstung eine bedeutende Stellung. Der Bau der Gaspipeline Nord Stream festigte die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder, in denen deutsches Kapital zunehmend eine «führende Rolle» (Kagarlickij 2009: 542 ff.) einnahm. Die unter Putin fortgesetzte handelspolitische Westorientierung, speziell auf die Europäische Union, zementierte den semiperipheren Status Russlands als Rohstofflieferant für die kapitalistischen Zentrumsstaaten. Der Anteil fossiler Energieträger am Gesamtexport erhöhte sich von 1998 bis 2008 sogar von 40 Prozent auf zwischenzeitlich 73,5 Prozent, während der Anteil an Maschinen und Ausrüstungsgegenständen von knapp zehn Prozent auf drei Prozent zurückging.
Neuausrichtung auf China
Mit der ökonomischen Konsolidierung Russlands verschärfte sich auch die Konkurrenz zwischen Teilen der russischen Bourgeoisie und westlichen Kapitalfraktionen. Diese traten erstmals im Jahr 2007 offen zutage, als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz kritisierte, die russischen Zugeständnisse im Zuge der deutschen Einigung wären dazu genutzt worden, die Position der Nato zu stärken, was Kooperationen Grenzen setze (Kremlin.ru 2007). Auch die Internationalisierungsbestrebungen russischer Kapitalfraktionen stießen im Westen auf starken Widerstand. Ein Ausdruck dessen sind die Diskussionen über die potenzielle Gefahr russischer Direktinvestitionen, etwa im Falle Gazproms, und dem damit einhergehenden Verlust politischer Kontrolle. So kritisierte Putin in seiner Münchner Rede die Barrieren für einheimisches Kapital in wirtschaftlichen Schlüsselsektoren westlicher Länder, obwohl die russische Wirtschaft für ausländisches Kapital weitgehend offen sei (ebd.).
Die Stärkung des G-20-Formats während der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 verdeutlichte dagegen den politischen und ökonomischen Bedeutungsgewinn der Schwellenländer, insbesondere der BRICS-Staaten.[2] Dies stärkte Kräfte im herrschenden Block, die eine politische und ökonomische Ausrichtung auf Asien und in begrenzterem Umfang Afrika forderten. Eine solche Fokussierung biete der einheimischen Wirtschaft, speziell den produktiven Sektoren, neue Expansionsmöglichkeiten und bilde ein politisches Gegengewicht zur globalen westlichen Hegemonie, wobei Russland aufgrund seiner Größe und des militärischen Potenzials eine Führungsrolle einnehmen würde.
Im Zuge des ersten Ukraine-Konflikts 2014 und der westlichen Sanktionen hat sich die regionale Ausrichtung des russischen Außenhandels deutlich verändert. Die Bedeutung der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der EU hat abgenommen. Stattdessen verlagern sich die russischen Warenströme zunehmend nach Asien und hier insbesondere nach China, das bereits 2012 Deutschland als wichtigsten Handelspartner ablöste. Zwar bleibt die Bundesrepublik ein wichtiger Lieferant für Maschinen und Anlagen und Abnehmer russischer Rohstoffe (Öl und Gas), allerdings hat China in vielen Bereichen deutsche Hersteller ersetzt. Durch den Bau neuer Pipelines gewinnt China auch als Bezieher fossiler Brennstoffe an Bedeutung. Trotz der geografischen Verlagerung des Handels reproduziert sich die klassische Außenhandelsstruktur (Rohstoffe für Maschinen) und festigt damit die semiperiphere Position Russlands im kapitalistischen Weltsystem.
Wege aus der Rohstofffalle: neue postsowjetische Integrationsversuche
Die Orientierung Russlands auf den Weltmarkt beschleunigte die realwirtschaftliche Desintegration des postsowjetischen Raums. Ende der 1980er-Jahre wickelten die Unionsrepubliken durchschnittlich fast 72 Prozent ihres Handels untereinander ab – Russland bildete mit einem Wert von knapp 58 Prozent die Ausnahme. Von 1991 bis 1993 sank das Handelsvolumen zwischen den GUS-Staaten[3] um die Hälfte (vgl. Langhammer/Lücke 1995: 3 ff.), was den Deindustrialisierungsprozess weiter verschärfte. Der Bedeutungsverlust des postsowjetischen Raums für den russischen Handel wird vor allem in der langfristigen Perspektive deutlich. Im Jahr 2004 exportierte Russland noch 16 Prozent der Waren in die GUS-Staaten und importierte 23,5 Prozent. Dieser Anteil verringerte sich deutlich: 2017 gingen nur noch 13,4 Prozent der russischen Exporte in die Region. Die Importe beliefen sich auf 10,9 Prozent.
Eine Ausnahme bilden die Mitgliedsstaaten der Eurasischen Union, dem bislang erfolgreichsten Integrationsprojekt im postsowjetischen Raum unter russischer Führung. Der Handel mit dem Staatenbund nahm in den vergangenen Jahren sogar leicht zu, ist allerdings von starken Asymmetrien geprägt. Mit einem Anteil von 30 Prozent dominieren mineralische Produkte den Handel unter den Mitgliedsstaaten, wobei 80 Prozent aus Russland an die Mitgliedsstaaten geliefert werden. Maschinen und Ausrüstungsgegenstände sind der zweitgrößte Posten (21,5 Prozent), wobei dieser fast ausschließlich auf Russland (62,4 Prozent) und Belarus (35,3 Prozent) entfällt. Mit der Rückkehr der Krise im Jahr 2015 ging auch der Handel unter den eurasischen Mitgliedsstaaten deutlich zurück, am stärksten im Segment Maschinen und Ausrüstungsgegenstände (–39,7 Prozent), Metalle (–30,9 Prozent) und Mineralölprodukten (–23,2 Prozent) (Ustyuzhanina 2016: 39).
Aus russischer Sicht war die Eurasische Union ursprünglich als Staatenbund mit Belarus, Kasachstan, und der Ukraine geplant – ein Bündnis der industriell und finanziell am stärksten entwickelten Länder der Region. Die drei Länder stehen für 90 Prozent des russischen Außenhandels mit den GUS-Staaten. Auch für den gesamten Außenhandel ist ihr Anteil mit 13 Prozent bedeutsam. Belarus, Russland und die Ukraine weisen die höchste Diversifikation in der Industrie aller GUS-Staaten auf. Dies schafft günstige Voraussetzungen für eine intensivierte wirtschaftliche Kooperation im Rahmen eines supranationalen Integrationsprojekts. Der Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, Fjodor Lukyanow, sah in der Beteiligung Kiews sogar das «wichtigste unerwähnte Ziel der eurasischen Integration (Lukyanov 2015: 294). Nur mit der Ukraine, so Lukjanow, könne die Eurasische Union eine wirkliche globale Bedeutung erlangen (ebd.).
Mit dem Beginn des Ukraine-Konflikts 2014 ist ein Beitritt des Landes zur Eurasischen Union endgültig vom Tisch, was dem Erfolg des Integrationsprojekts einen empfindlichen Dämpfer versetzt hat. Es bleibt abzuwarten, ob sich die von Russland forcierte Integration Armeniens, Kirgisiens und Tadschikistans tatsächlich eher als eine «Belastung denn als ein Vorteil» (ebd.) erweist, da die ökonomischen Kosten mit der Aufnahme der krisengebeutelten Staaten steigen, zumal der Rückhalt in der russischen Bevölkerung für das Integrationsprojekt aufgrund der stark verbreiteten Stimmung gegen Migrant*innen aus dem Kaukasus und Zentralasien schwinden könnte.
Fazit
Öl, Gas und Kohle stehen für über 60 Prozent der russischen Exporte, von denen die Hälfte in die EU gehen. Ein unmittelbares westliches Energieembargo würde Russland deshalb in eine tiefe Wirtschaftskrise stürzen, zumal es aufgrund langfristiger Lieferverträge kaum möglich sein dürfte, auf alternative Exportmärkte auszuweichen.
Ein Importstopp russischer Energieträger würde darüber hinaus die sich bereits seit 2014 abzeichnende Tendenz der Neuausrichtung des russischen Außenhandels auf China und den postsowjetischen Raum beschleunigen. Während Russland auch im Handel mit China die Rolle eines Rohstofflieferanten einnimmt, stellt sich die Lage im postsowjetischen Raum anders dar. Es deutet darauf hin, dass Russland die Mitgliedsstaaten als Zulieferer für ausgewählte Leuchtturmprojekte (Rüstungstechnologie, Nuklearkomplex, Landwirtschaft, Maschinenbau) in die Lieferketten integriert, ohne jedoch eine größere Breitenwirkung zu erzielen. Dies dürfte die Attraktivität des eurasischen Integrationsprojekts für andere Staaten verringern. Eine grundsätzliche Abkehr von der Rohstoffabhängigkeit ist damit nicht zu erwarten, was die grundsätzlichen Widersprüche des russischen Entwicklungsmodells verschärft. Neue Konflikte scheinen damit unausweichlich.
Literatur
Cooper, William H. (2009): Russia’s Economic Performance and Policies and Their Implications for the United States, CRS Report for Congress, Congressional Research Service.
Fortescue, Stephen/Rautio, Vesa (2011): Norilʼsk Nickel: A Global Company?, in: Eurasian Geography and Economics 6/2011, S. 835–856.
Grinberg, Ruslan et al. (2006): Industrial restructuring and economic reforms in Russia, INDEUNIS Papers, Russian Academy of Science.
Hale, Henry E. (1999): The Strange Death of the Soviet Union. Nationalism, Democratization and Leadership, Cambridge.
Jaitner, Felix (2014b): Die Einführung des Kapitalismus in Russland, Hamburg, unter: www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Jaitner_Einfuehrung_des_Kapitalismus_in_Russland.pdf.
Jelzin, Boris (1994): Zapiski prezidenta, Moskau.
Kagarlickij, Boris (2009): Periferijnaja Imperija: Cikly russkoj istorii, Moskau.
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Langhammer, Rolf J./Lücke, Matthias (1995): Die Handelsbeziehungen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Von der regionalen Desintegration zur weltwirtschaftlichen Integration?, Kieler Diskussionsbeiträge 244, Institut für Weltwirtschaft Kiel.
Lukyanov, Fyodor (2015): Eurasia: The burden of responsibility, in: Dutkiewicz, Piotr/Sakwa, Richard (Hrsg.): Eurasian Integration. The View from Within, London, S. 290–303.
Menshikov, Stanislav M. (2007): The Anatomy of Russian Capitalism, EIR News Service, Washington D. C.
Muchačëv, Vadim (2013): Privatizacija Rossii ili igra bez pravil. K diskussii o prošlom v preddveri k buduščego, Moskau.
RIA-Novosti (2016): Medvedev: Raschody na gosapparat v 2016 godu budut sokraščeny na 10 %, unter: http://ria.ru/politics/20160206/1370479529.html
Spiegel (2021): Habeck verteidigt Energieimporte aus Russland, 10.3.2022, unter: www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/ukraine-krieg-robert-habeck-verteidigt-energieimporte-aus-russland-a-0e88c3f2-1fee-4250-a02d-76e8108994b8.
Stiglitz, Joseph (2002): Der Schatten der Globalisierung, Berlin.
Sutela, Pekka (2012): The Political Economy of Putin´s Russia, London.
Ustyuzhanina, Elena (2016): The Eurasian Union and global value chains, in: European Politics and Society 17/2016, S. 35–45.
[1] Die Angaben zur russischen Wirtschaftsentwicklung beruhen, sofern nicht anders angegeben, auf Zahlen des staatlichen Statistikamts Rosstat, Angaben zum Export auf den öffentlich zugänglichen Daten des Föderalen Zolldienstes.
[2] Die Abkürzung BRICS steht für die Anfangsbuchstaben der fünf Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
[3] Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) entstand im Zuge des sowjetischen Auflösungsprozesses als Versuch, eine gemeinsame Wirtschafts- und Sicherheitspolitik zwischen den Nachfolgestaaten zu koordinieren. Außer den baltischen Staaten waren bis in die 2000er-Jahre alle Länder der ehemaligen Sowjetunion Mitglied der GUS. Seit 2005 ist Turkmenistan nur noch beigeordnetes Mitglied, im Jahr 2008 erklärte Georgien seinen Austritt aus der Organisation. Der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko beschloss per Dekret 2018 den Austritt seines Landes aus der GUS, formell ist die Ukraine jedoch weiterhin Mitglied.