Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine Ein echter Friede in der Ukraine kann nur durch einen Wandel in Russland erreicht werden

Verhandlungen könnten die Kämpfe beenden. Aber für wie lange?

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Ein Kinderspielzeug liegt in den Trümmern der durch russische Luftangriffe beschädigten Wohnhäuser in Borodjanka, Bezirk Bucha der Oblast Kiew, am 7. April 2022. Foto: picture alliance / NurPhoto | Ceng Shou Yi

Der Russische Angriff auf die Ukraine dauert nun schon seit sechs Wochen an, kostet unzählige Leben und stürzt eine ganze Region in Chaos. In den vergangenen Tagen haben die fürchterlichen Bilder aus Butscha und anderen Gebieten die Frage aufgeworfen, was Putins tatsächliche Kriegsziele sind und wie viel Leid er in Kauf nimmt, um sie zu erreichen.

Immer neue Sanktionen werden verhängt, während sich die Verhandlungen ohne Aussicht auf eine Einigung hinziehen. Wie kann das Morden in der Ukraine also aufgehalten werden? Oksana Dutchak, vom Zentrum für Gesellschafts- und Arbeitsforschung in Kiew, die selbst vor kurzem aus der Ukraine geflüchtet ist, sprach mit Fabian Wisotzky über die Situation in der Ukraine und die Aussichten auf Frieden, welche zunehmend schwinden.

Oksana, Du hast die Ukraine vor einigen Tagen verlassen. Wie war die Situation zum Zeitpunkt Deiner Flucht und welche Informationen erreichen Dich von Verwandten und Genoss*innen, die sich noch im Land aufhalten?

Es ist bereits zwei Wochen her, dass ich die Ukraine verlassen habe. Ich erhalte meine Informationen zur aktuellen Situation vor Ort also aus den Medien, aber auch von Verwandten und Freund*innen. Allgemein kann man sagen, dass die Lage sowohl vorhersehbarer als auch desaströser geworden ist.

Die russische Armee hat sich aus den Regionen Kiew und Tschernihiw im Norden des Landes zurückgezogen. Von dort aus erreichen uns die fürchterlichen Bilder von zerstörten Gebäuden und Infrastruktur, Massakern an Zivilist*innen, Folter, sexualisierter Gewalt und Entführungen. Menschen, die ich kenne und denen ich vertraue, haben diese Orte besucht und Zeug*innenaussagen von Überlebenden vor Ort aufgenommen – ich sage das hier, falls es Leser*innen gibt, die Zweifel an den Berichten über diese Ereignisse haben und sie für «westliche Propaganda» halten.

Oksana Dutchak ist stellvertretende Direktorin des Zentrums für Sozial- und Arbeitsforschung in Kiew und forscht zu Arbeit und Arbeitsbedingungen, sowie zur Ungleichheit der Geschlechter.

Im Süden gibt es Gebiete, die bereits seit Kriegsbeginn besetzt sind. Dort hat weniger Zerstörung stattgefunden, aber es gibt zahlreiche Berichte über Entführungen, Folter, Morde und Vergewaltigungen. Funktionär*innen, Aktivist*innen, Freiwillige, Journalist*innen, Lehrer*innen und viele andere sind dort in Gefahr. Auch die Gefahr einer erneuten russischen Offensive wächst dort, welche eine Erweiterung der besetzten Gebiete und so auch weitere brutale Repression und Gewalt bedeuten könnte.

Die schlimmste Eskalation wird nun vermutlich an der östlichen Front stattfinden, auf welche sich die Hauptoffensive konzentrieren wird. Wir haben keine Vorstellung davon, wie viele Zivilist*innen dort getötet worden sind und wie viele Menschen unaussprechliche Gewalt erlebt haben. Am achten April wurde der Bahnhof von Kramatorsk – dem Hauptknotenpunkt für Evakuierungen Richtung Westen der Ukraine – mit Streumunition bombardiert. Es gab dutzende Opfer.

Russland wird sein Möglichstes tun, diese Gebiete zu halten und weitere zu erobern, die Opfer des Kriegs zu verbergen und Beweise für seine Menschenrechtsverletzungen verschwinden zu lassen. Hinzu kommen die anhaltenden Luftangriffe hinter der Front auf militärische Ziele und wichtige Infrastruktur, welche sich bis in die Dörfer und Städte der Westukraine erstrecken.

Sicher ist man nirgendwo mehr. Natürlich variiert der Grad der persönlichen Sicherheit von Ort zu Ort. Aber nachdem russische Offizielle ihre Absicht, einen Völkermord zu begehen vor Kurzem offen bekannt gemacht haben, müssen wir zu der Einsicht gelangen, dass die Existenz der gesamten ukrainischen Gesellschaft bedroht ist. Es scheint, als ob sie nun jegliches Verbrechen, jedes Niveau von Zerstörung, Repression und Gewalt für gerechtfertigt halten. Zum jetzigen Zeitpunkt kann nur eine Veränderung der materiellen Verhältnisse sie aufhalten.

Was meinst Du mit «materiellen Verhältnissen», und was wünscht sich die ukrainische Linke jetzt von ihren ausländischen Genoss*innen, aber auch von den westlichen Bündnispartnern der Ukraine?

Was ich damit sagen wollte ist, dass nur materielle Verhältnisse Russland zu einer Änderung seines Verhaltens bewegen können – womit ich meine, dass sie zu ernsthaften Verhandlungen gezwungen werden. Grob kann man bei den materiellen Verhältnissen zwischen wirtschaftlichen und militärischen Aspekten unterscheiden.

Der militärische Aspekt umfasst natürlich den Kriegsverlauf. Hieraus ergibt sich direkt, wie viel ukrainisches Territorium in naher Zukunft unter russischer Besatzung stehen wird, und deshalb auch, wie viel Gewalt und Zerstörung stattfinden wird. Was den wirtschaftlichen Aspekt anbelangt, so werden die Sanktionen mittel- und langfristig bestimmen, welche Ressourcen Russland für seine Kriegsführung zur Verfügung stehen.

Es gibt zwei Forderungen der ukrainischen Linken, welche ich ausmachen kann: Waffenlieferungen und die Durchsetzung von Sanktionen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Ich weiß, dass es Argumente gegen beide Forderungen gibt, und obwohl ich immer noch versuche, die richtigen Worte zu finden, um Menschen, die gegen eine der beiden Maßnahmen (meistens Waffenlieferungen) sind, weiß ich nicht, was ich anderen sagen soll, die gegen die Nutzung beider Möglichkeiten sind, Druck aufzubauen. Wer sowohl gegen Waffenlieferungen als auch gegen Sanktionen ist, wäscht sich die Hände in Unschuld, was diesen Konflikt anbelangt.

Welchen Effekt erwartest Du von Sanktionen? Viele Linke in Deutschland argumentieren, dass breite Wirtschaftssanktionen, welche Gruppen treffen, die nicht zur russischen Elite gehören, die Bevölkerung nur zu größerer Loyalität gegenüber Putin und seinem Krieg bewegen werden.

Vor Kurzem hast Du in einem Interview gesagt, dass Du keine russische Antikriegsbewegung erwartest, die hinreichend stark ist, um Putin aufzuhalten, aber dass die Chance auf einen Aufstand der Eliten gegen Putin besteht. Welche Art von Sanktionen wären angesichts dieser Perspektive am effektivsten, um den Krieg in der Ukraine zu beenden?

Die Aussichten auf einen Aufstand von unten gegen den Krieg waren von Anfang an gering. Die Unterdrückung jeglicher Opposition und unabhängiger Medien findet in Russland bereits seit Jahren statt und der Krieg hat dies nur verschlimmert. Je länger er andauert, desto weniger glaube ich an Massenproteste gegen ihn.

Ich bin ebenfalls der Meinung, dass es wahrscheinlich ist, dass Sanktionen, in Kombination mit Russlands riesiger Propagandamaschine, zu einem Anstieg der Unterstützung für den Krieg innerhalb Russlands führen könnten. Aber wenn es von Anfang an keine Chance auf eine Massenbewegung gegen den Krieg gab, warum sollte das nun eine Rolle spielen, wenn wir das Für und Wider von Sanktionen abwägen? Statt die Frage zu stellen, ob Sanktionen die fast bedeutungslose Antikriegsbewegung in Russland schwächen könnten, sollten wir nicht eher darüber nachdenken, was eine solche Bewegung ins Leben rufen könnte, falls dies überhaupt möglich ist?

In meinen Augen spielen Sanktionen hier keine Rolle. Ich weiß auch nicht, ob es sich wirklich lohnt, aktuell über die Aussichten auf einen Aufstand der Eliten zu sprechen. Auch was diesen Punkt anbelangt, glaube ich nicht, dass Sanktionen entscheidend sein werden. Sie haben definitiv zu einer «dissidentischen» Stimmung innerhalb der Eliten geführt, aber ob daraus mehr erwächst, hängt von vielen nicht-ökonomischen Faktoren außerhalb unserer Kontrolle ab.

Ich vermute, dass in der deutschen Debatte das Argument eine Rolle spielt, dass Sanktionen die breite Bevölkerung härter treffen könnten als die russischen Eliten, welche auf mehr Ressourcen zurückgreifen und ihr Vermögen im Ausland verstecken können. Das ist natürlich ein valider Punkt, aber nur insofern man Sanktionen als eine Art Strafe betrachtet. Ich bin nicht der Meinung, dass Sanktionen darauf abzielen, zu strafen. Das sollte einem internationalen Tribunal überlassen bleiben – für die Kriegsverbrecher*innen, die Propagandist*innen, für diejenigen, welche die Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine befohlen, vertuscht und begangen haben.

Das Hauptgrund für Sanktionen ist, die wirtschaftliche Grundlage für die Kriegsführung zu schwächen. Die Kriegswirtschaft muss aufgehalten werden. Leider hängt die soziale Reproduktion im Kapitalismus vollständig von der Wirtschaft ab und es ist nicht möglich, der Kriegswirtschaft zu schaden und gleichzeitig die soziale Reproduktion der Menschen in Russland unbeeinträchtigt zu lassen. Jedoch gilt ebenso, dass man der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen in der Ukraine, dem Sterben und der Gewalt nicht Einhalt gebieten kann, ohne die Kriegswirtschaft [in Russland] aufzuhalten.

An diesem Punkt muss man Entscheidungen treffen. Mag sein, dass diese Entscheidung der deutschen Linken schwerfällt. Soweit ich weiß, fällt sie Linken in Russland, die gegen den Krieg sind, nicht schwer und auch für die ukrainische Linke ist sie ganz bestimmt nicht schwierig. Das hat nichts damit zu tun, dass wir zu Nationalist*innen geworden wären. Wir sind Materialist*innen und diese Entscheidung wird durch die materiellen Verhältnisse der brutalen russischen Invasion diktiert.

Momentan verhandeln die ukrainische und die russische Regierung über einen Waffenstillstand und eine diplomatische Lösung des Konflikts. Was erwartest Du Dir von diesen Verhandlungen?

Ich glaube nicht, dass der Krieg bald vorbei sein wird. Der Wirklichkeitsverlust der russischen Regierung, welcher mit dem Blitzkriegplan zu Beginn des Konflikts offensichtlich wurde, hat die ukrainische Gesellschaft zu einem gewissen Grad zum Widerstand inspiriert. Doch was die Verhandlungen angeht ist er sehr gefährlich. Ich interpretiere die aktuellen Entwicklungen, aber auch die Rhetorik, die wir gegenwärtig von der russischen Regierung und ihren Propagandakanälen zu hören bekommen, als ein Zeichen das auf eine weitere Eskalation hindeutet.

Da wir nicht mit ihrem baldigen Ende rechnen können, ist unklar, was diese Verhandlungen, welche noch Monate oder Jahren dauern könnten, am Ende erreichen werden. Es gibt mehrere Bereiche, über die verhandelt wird – wir können sie vorläufig in ideologische, territoriale und geopolitische Aspekte aufteilen. Der ideologische Bereich umfasst die wahnhaften russischen Ziele der «Entnazifizierung» und «Entukrainisierung» des Landes – aus meiner Sicht ist es müßig, jetzt darüber zu sprechen, vor allem, nachdem sie in den genozidalen Narrativen russischer Propagandist*innen Einzug gehalten haben.

Die territoriale Komponente umfasst die Frage der Gebietskontrolle und ihrer internationalen Anerkennung. Dieser Aspekt wird entscheidend vom weiteren Kriegsverlauf und seinen materiellen – militärischen als auch wirtschaftlichen – Bedingungen geprägt werden. Ich möchte an dieser Stelle betonen, wie gefährlich die von einigen Linken vertretene Position ist, die Ukraine solle Teile oder die Gesamtheit der neu eroberten Gebiete aufgeben. Nach all den Berichten über die Gewalt und Unterdrückung in den besetzten Gebieten müssen wir annehmen, dass dies die Bevölkerung zu einer katastrophalen Zukunft unter russischer Herrschaft verdammen würde.

Was bleibt, ist die geopolitische Dimension – ein neutraler Status der Ukraine, Sicherheitsgarantien, etc. Hier hat Russland maximalen Druck aufgebaut. Durch den russischen Angriff hat die Unterstützung für einen NATO-Beitritt in der Ukraine enorm zugenommen und auch in anderen angrenzen Staaten, die nicht zur NATO gehören, hat er einen Prozess des Umdenkens in Gang gesetzt. Nichts anderes ist zu erwarten, wenn die Menschen mit der Brutalität der russischen Invasion konfrontiert sind: Eine NATO-Mitgliedschaft wird als einzige Möglichkeit angesehen, das russische Militär von einem Angriff abzuhalten.

Die Dimension der Sicherheit spielt jetzt eine entscheidende Rolle. Ich weiß nicht, wie Sicherheitsgarantien für die Ukraine am Ende aussehen könnten und wie effektiv sie sein werden, vor allem weil dies entscheidend von der weiteren innenpolitischen Entwicklung Russlands abhängen wird – denn Russland stellt die Hauptbedrohung für unsere Sicherheit dar. Je stärker Russland und sein aggressiver Militarismus sein werden, desto geringer die Chancen, dass solche Garantien auch effektiv sein werden.

Aus meiner eigenen Perspektive kann ich sagen, dass ich während meiner langen Flucht in die persönliche Sicherheit realisiert habe, dass ich mich selbst nachdem der Krieg zu Ende sein wird in Kiew nicht mehr sicher fühlen werde, es sei denn, in Russland selbst finden dramatische Veränderungen statt. So etwas wie eine Defaschisierung und Demilitarisierung. Ohne diesen Wandel, selbst wenn ein Friedensabkommen verhandelt werden kann, besteht die große Gefahr, dass wir eines Morgens – vielleicht in einigen Monaten, vielleicht in einigen Jahren – aufwachen und wieder bombardiert werden.

Du hattest nach meinen Erwartungen für die Friedensverhandlungen gefragt, aber ich möchte noch eine weitere Erwartung erwähnen, die für einen Wandel in Russland nach diesem Krieg extrem wichtig ist. Ich erwarte, dass es ein internationales Tribunal geben wird, was die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche von den russischen Besatzungskräften verübt worden sind, aufarbeitet. Ansonsten ist für die Menschen in der Ukraine und anderen Ländern in der Region keine langfristige Sicherheit und kein Friede vorstellbar.

Übersetzung von Julian Hitschler.