Nachricht | Andenregion - Ukraine Russlands Einmarsch in die Ukraine:

Energiepolitische Auswirkungen für Lateinamerika

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Ein Öltanker läuft die die venezolanische Hafenstadt Maracaibo an: Venezuela, das in den vergangenen Jahren selbst unter US-Sanktionen litt, könnte jetzt wieder als Ölexporteur für die Vereinigten Staaten attraktiv werden. Foto: Wilfredorrh/flickr

Der brutale und verwerfliche Einmarsch der Regierung Wladimir Putins in die Ukraine erschüttert das globale System. Neben den humanitären Auswirkungen in der Ukraine selbst – Mitte März lag die Zahl der Geflüchteten bereits bei über 3 Millionen – hat der Konflikt auch eine internationale Dimension. Über allem schwebt das Damoklesschwert eines Atomwaffeneinsatzes, und das im Kontext der geopolitischen Umwälzungen des 21. Jahrhunderts. Es ist ein wahrhaft gefährlicher Zeitpunkt.

Jenseits der aktuellen Gefechte auf ukrainischem Staatsgebiet sollte man sich zudem vor Augen führen, dass dieser Konflikt in einer multidimensionalen Systemkrise stattfindet und deren weitere Entwicklung grundlegend mitbestimmen wird. Der Einmarsch Putins wird die Energiekrise sowie die Möglichkeiten und Ausgestaltung der Energiewende beeinflussen. Zum anderen wird er sich aber auch auf Problemlagen wie den Klimawandel, die Lebensmittelsicherheit, die Lebenshaltungskosten und die überaus kritische Lage der Umwelt auswirken.

Emiliano Terán Mantovani ist venezolanischer Soziologe und Mitarbeiter der Beobachtungstelle für politische Ökologie in Venezuela.  Er publiziert schwerpunktmäßig zu politischer Ökologie und Extraktivismus. Er ist Mitglied in den Arbeitsgruppen «Politische Ökologie» des Lateinamerikanischen Rats der Sozialwissenschaften (Clacso) und «Alternativen zur Entwicklung» der Rosa Luxemburg Stiftung.

Speziell das internationale Energiesystem wurde durch den Krieg in der Ukraine empfindlich erschüttert, mit weitreichenden Folgen. Die Europäische Union kündigt Maßnahmen zur Änderung ihres Energiekurses an, darunter vermehrte Gaslieferungen aus den USA (als Ersatz für die russischen Lieferungen), eine Stärkung der Erneuerbaren Energien und der «sauberen» Energiegewinnung sowie ein Überdenken des Ausstiegs aus der Kohle- und Kernkraftnutzung. Die Gaslieferungen aus Algerien werden neubewertet und Länder wie Italien und Portugal sind bestrebt, ihren Energiebezug aus Algerien auszuweiten. In Anbetracht ihres Ölboykotts gegen Russland versuchen auch die USA, ihre Allianzen neu zu ordnen, und prüfen die Energiequellen auf dem amerikanischen Kontinent. China könnte ein Ziel vermehrter Lieferungen von russischem Öl und Gas sein, was sich durch die zwischen den beiden Ländern etwa drei Wochen vor dem Einmarsch in die Ukraine unterzeichneten Lieferabkommen verdeutlicht. Auch Lateinamerika beteiligt sich an diesem geopolitischen Spiel der Energieversorgung.

Lateinamerika inmitten neuer Energiepartnerschaften

Die russische Invasion in der Ukraine und die damit verbundenen globalen und multidimensionalen Auswirkungen kommen zu einem Zeitpunkt, zu dem Lateinamerika, der UNO zufolge[1], bereits zu den am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen «Entwicklungs»-Regionen der Welt zählt. Daher wird sich der weltweite Inflationsdruck in Folge der steigenden Energiepreise drastisch auf die lateinamerikanischen Volkswirtschaften und insbesondere auf die ärmsten Bevölkerungsschichten auswirken. Letzteres gilt auch als eine der Ursachen für die zunehmenden sozialen Proteste. Gleichzeitig werden die wachsenden Rohstoffpreise höchstwahrscheinlich den Öl- und Gasproduzent*innen[2] sowie den Getreideerzeuger*innen zugutekommen – während jene Staaten, die Energie importieren müssen, massiv belastet werden.

Was diesen letzten Punkt angeht, haben der Konflikt in der Ukraine und die damit verbundenen Verschiebungen im globalen Energiesystem einen komplexen und widersprüchlichen Prozess in der Region ausgelöst: Wie eingangs erwähnt, ist die Außenpolitik Washingtons angesichts des neuen Szenarios bestrebt, alternative Lieferanten fossiler Energieträger zu finden, um die durch den Boykott des russischen Sektors wegfallenden Anteile ersetzen zu können. Diese Absicht wurde durch die Äußerungen von Sprecher*innen der Republikanischen und der Demokratischen Partei[3] sowie durch die jüngsten geopolitischen Schritte der USA deutlich. Lateinamerika kommt bei der Umsetzung dieses Ziels aufgrund seiner Reserven und seiner geographischen Nähe zu den USA eine bedeutende Rolle zu – dies gilt insbesondere für Venezuela, das als Öllieferant einspringen könnte. Während die Rohölimporte der USA aus Venezuela, dem ursprünglich verlässlichen Lieferanten Nordamerikas, mit den US-Sanktionen gegen Venezuela 2019 auf ein Minimum zurückgegangen sind, haben sich die Öleinfuhren aus Russland seither[4] mehr als verdoppelt. Jetzt aber wendet sich das Blatt erneut.

Als unmittelbare regionale Reaktion wurden Verhandlungskanäle ausgeweitet, vorläufige Energiepartnerschaften geschlossen, sowie der politische Druck zugunsten der Erdölförderung verstärkt. Venezuela ist dafür ein emblematisches Beispiel: trotz der turbulenten bilateralen politischen Beziehungen, insbesondere unter der Maduro-Regierung, fand am 5. März das seit Jahren erste Treffen zwischen hochrangigen US-amerikanischen und venezolanischen Regierungsvertreter*innen statt. Im Zentrum der Gespräche stand die Absicht, die Rohölexporte in die USA hochzufahren. Im Gegenzug könnten möglicherweise die Sanktionen aufgehoben und die Beteiligung ausländischen Kapitals am Wiederaufbau der venezolanischen Erdölindustrie erleichtert werden.[5] Am Vortag, dem 4. März, hatte Maduro verkündet, dass er bereit sei, Öl an die USA zu verkaufen, und betont, dass «wirtschaftliche Fragen nicht politisiert werden sollten».[6] Obwohl die Regierung Biden kurz darauf erklärte, Juan Guaidó nicht im Stich zu lassen, wird doch deutlich, dass dieser eine nachrangige Rolle spielt, während Biden eine mehrgleisige Strategie verfolgt. Nicht zuletzt begünstigen auch die Rhetorik des «wirtschaftlichen Aufschwungs» in Venezuela sowie die Vielzahl der von Maduro angestoßenen neoliberalen Reformen eine solche pragmatische Annäherung.

Mit Blick auf andere Länder der Region ist der Besuch des kolumbianischen Präsidenten Ivan Duque in Washington Anfang März hervorzuheben, bei dem er den USA kolumbianisches Öl als bessere Alternative zum venezolanischen Öl[7] anbot. Duque sieht sich allerdings mit Widerstand gesellschaftlicher und ökologischer Gruppen gegen die Erschließung neuer fossiler Energiequellen und den Ausbau von Fracking im Land konfrontiert. Gleichzeitig befürwortet sein Gegenspieler Gustavo Petro, der die Präsidentschaftswahlen im Mai gewinnen könnte, eine Entkarbonisierung der Wirtschaft und will die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen überwinden.

Was Ecuador angeht, so hat im März ein Treffen zwischen der staatlichen Ölgesellschaft Petroecuador und US-amerikanischen Raffinerien und Vertriebsunternehmen mit Interesse an ecuadorianischem Öl[8] stattgefunden. Dementgegen ist in Argentinien zwar nicht zu erwarten, dass die für den Export bestimmten Fördermengen fossiler Brennstoffen in naher Zukunft steigen werden, aber die durch den Krieg in der Ukraine verschärfte Energiekrise erhöht den Druck, die Möglichkeiten der Gasförderung auszuweiten und die Verteilungsnetze im Land auszubauen, um somit auf Importe (z. B. aus Bolivien)[9] verzichten zu können.

Letztendlich zielen die US-amerikanischen Maßnahmen auch darauf ab, den russischen Einfluss in Lateinamerika (z. B. in Kuba, Nicaragua, Venezuela, aber auch – auf unterschiedliche Weise – in Ländern wie Brasilien und Argentinien) zurückzudrängen. Dabei bleibt zu betonen, dass es auch unter den lateinamerikanischen Verbündeten Russlands, die sich beispielsweise bei der UN-Resolution zur Verurteilung des russischen Einmarsches der Stimme enthielten oder eine diplomatische Lösung forderten, unterschiedliche Positionierungen zum Krieg gibt.

Insgesamt sind die jüngsten Entwicklungen eher gegensätzlich. Einerseits entstehen neue Energiepartnerschaften. Andererseits führt uns der russisch-ukrainische Konflikt einen globalen Kontext vor Augen, in dem sich die Konkurrenz und Auseinandersetzungen um Ressourcen, Einflussgebiete und Neokolonien verschärfen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich auch ein großer Teil der für die «grüne Wende» im globalen Norden benötigten Mineralien (Lithium, Kupfer, Nickel usw.) in Lateinamerika befindet. Daher sind grundlegende Veränderungen der extraktivistischen Geopolitik in der Region vorprogrammiert.


[1] América Latina es la región en desarrollo más afectada del mundo por la pandemia. news.un.org/es/story/2021/03/1489112    

[3] «U.S. Officials Travel to Venezuela, a Russia Ally, as the West Isolates Putin», https://www.nytimes.com/2022/03/05/world/americas/venezuela-russia-usa.html.

[4] «U.S. imports from Russia of crude oil and petroleum products»,  https://www.eia.gov/dnav/pet/hist/LeafHandler.ashx?n=PET&s=MTTIM_NUS-NRS_1&f=M.

[5] «U.S. Officials Travel to Venezuela, a Russia Ally, as the West Isolates Putin»,  https://www.nytimes.com/2022/03/05/world/americas/venezuela-russia-usa.html; «U.S., Venezuela discuss easing sanctions, make little progress: sources», https://www.reuters.com/world/americas/us-venezuela-discuss-easing-sanctions-make-little-progress-sources-2022-03-06/.

[6] Maduro aseguró que está listo para venderle petróleo y gas a Estados Unidos. https://www.elnacional.com/economia/maduro-aseguro-que-esta-listo-para-venderle-petroleo-y-gas-a-estados-unidos/.

[7] ¿Petróleo venezolano o colombiano? Duque ofrece a Biden el crudo de Colombia. https://es.euronews.com/2022/03/11/petroleo-venezolano-o-colombiano-duque-ofrece-a-biden-el-crudo-de-colombia.

[8] El ‘apetito’ por el petróleo ecuatoriano crece tras las sanciones a Rusia. https://www.primicias.ec/noticias/economia/demanda-petroleo-ecuatoriano-sanciones-rusia/.

[9] Informationen aus Gesprächen mit der Nichtregierungsorganisation Observatorio Petrolero Sur (Argentinien).