Interview | Krieg / Frieden - Ukraine «Humanitäre Hilfe allein reicht nicht aus»

Ukrainische Linke fordern Waffenlieferungen des Westens

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Autor*innen

Ivo Georgiev, Taras Bilous,

Zerstörtes Gemüselager in der Ukraine. Foto: Eugene Titov

Mit Ihrem Brief an die Linke in Westeuropa haben Sie in den letzten Wochen wichtige Debatten angestoßen. Darin haben Sie an die westeuropäischen Linken appelliert, umzudenken und damit aufzuhören, die Schuld für die russische Invasion der NATO zuzuschreiben. Bekommen Sie Rückmeldungen auf diesen Brief und falls ja, wie sehen diese Rückmeldungen aus und was bedeuten sie für Ihre weitere Arbeit?

Ivo Georgiev, Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der Ukraine, interviewte Taras Bilous, Redakteur bei Commons und Mitglied der NGO Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung).

Mir haben viele Menschen geschrieben, sie bedankten sich für meinen «Brief» und äußerten Solidarität. Der Text wurde in mehrere Sprachen übersetzt, sogar ins Chinesische, was für mich überraschend war. Was es aber für meine weitere Arbeit sowie die Arbeit unserer Zeitschrift bedeutet, verstehe ich noch nicht. Darüber werde ich schon nach dem Krieg nachdenken, jetzt haben wir Wichtigeres zu tun. Ich bin jetzt bei der Territorialverteidigung, den Freiwilligenverbänden, und habe deshalb wenig Zeit für die Arbeit in der Commons-Redaktion oder an eigenen Texten.

In Deutschland haben viele die Interviews oder Texte von Redakteur*innen von Commons gelesen. In denen wird argumentiert, dass die Linke in Westeuropa die neo-imperialen Absichten Russlands falsch eingeschätzt oder verharmlost hat und teilweise sogar die Rechtfertigung des Truppenaufmarsches von der russischen Propaganda übernommen hat. Die Kritik ist angekommen und hat zum Beispiel eine Debatte innerhalb der deutschen Linken ausgelöst. Dabei wird aber auch die Position vertreten, dass die Aufarbeitung der  Fehler in Bezug auf die Aggression Russlands gerade jetzt lieber nicht geführt werden sollte, weil der Zeitpunkt unpassend sei und eine kritische Debatte darüber zur Schwächung der internationalen linken Bewegung führen könnte. Wie stehen Sie dazu?

Ich verstehe schon, dass der Krieg linke Bewegungen spaltet und sie schwächen kann. Die ukrainischen Linken haben das bereits 2014 erlebt. Aber eine unkritische Debatte schwächt die Bewegung noch mehr, als das Ausbleiben einer solchen. Ebenso ist eine falsche Einschätzung des Krieges ein Problem, denn sie diskreditiert die sozialistische Bewegung. Ein gutes Beispiel dafür sind die Statements des International Departments der Democratic Socialists of America oder der britischen Kampagne Stop the War, die der linken Bewegung nicht geholfen haben. Bereits vor der Veröffentlichung unserer Kritiken an der westlichen Linken wurden ihre Statements in westlichen Mainstreammedien scharf kritisiert. Unsere Gegner weltweit haben diese Texte zum Anlass genommen, um alle antikapitalistischen Linken zu verdammen. Naiv wäre zu hoffen, dass unsere Klassenfeinde blöde Erklärungen von Linken nicht ausnutzen würden.

Ich habe nicht genug Zeit, um die internationale linke Debatte im Detail zu verfolgen und kenne mich mit den Situationen in verschiedenen Ländern nicht besonders gut aus. Über die Lage in den USA bin ich beispielsweise besser informiert als über Westeuropa. In den ersten Kriegstagen habe ich beobachtet, wie manche Linke versuchten das Blockdenken zu rechtfertigen, wie zum Beispiel im Artikel von David Broder, der mich dazu bewogen hat meinen Brief an die westlichen Linken zu verfassen. Eine solche Position ist falsch, sie kann die Marginalisierung der radikalen Linken nur vorantreiben. Die Kritik der Heuchelei der westlichen Eliten klingt wenig überzeugend, wenn die Kritiker*innen eine offensichtlich falsche Politik in Schutz nehmen. Wir müssen uns vom «Antiimperialismus der Idioten» abgrenzen und ehrlich unsere Fehler anerkennen, wie ich es auch in meinem Brief geschrieben habe. Ein gutes Beispiel solcher Anerkennung ist der Artikel von Daniel Marwecki, für den ich dem Autor danke.

Ich verstehe, dass die Diskussionen über die Fragen, über die man sich nur schwer einigen kann, Zeit rauben. Insbesondere in den Momenten, wo diese Zeit für Nützlicheres notwendig wäre. Mir ist bewusst, dass viel zu scharfe Polemik Konflikte in der linken Bewegung hervorrufen kann, die sie schwächen werden. Wie aber die notwendige Diskussion über den Krieg geführt werden soll, ohne dabei in internen Konflikte zu versinken, kann nur in den konkreten Verhältnissen ausgemacht werden.

Wie ist die ukrainische Linke denn 2014 und danach mit dem Krieg im Donbas umgegangen?

2014 war ich noch kein Linker, fühlte mich wegen des Donbas-Krieges innerlich zerrissen. Die öffentliche Polemik ukrainischer Linken zu dieser Frage fand ich sehr spannend. Sie hat dazu beigetragen, dass ich ein Linker geworden bin.

Die Erfahrung ukrainischer Linken zeigt, dass es enorm wichtig ist, beim Polemisieren ein gewisses Maß einzuhalten. Leider fällt das schwer, wenn dein Land unter einem Krieg leidet. Deswegen hat das Übermaß der Polemik auch dazu beigetragen, dass die ukrainische Linke stark geschwächt wurde. Jetzt ist klar geworden, dass einige der damaligen Spaltungen hätten vermieden werden können. Den Dialog mit einigen Opponenten hätten wir weiterführen sollen, von anderen hätten wir uns besser distanziert. Insbesondere von denen, die jetzt Putin offen unterstützen oder die Massaker in Butscha, einem Vorort Kyjiws, bestreiten oder anderweitig russische Propaganda verbreiten.

Nach allen Fehlern und Spaltungen in den Jahren 2014 und 2015 hat der überwiegende Teil der ukrainischen Linken (insbesondere diejenigen, deren Positionen vom gesellschaftlichen Mainstream abwichen) die Debatte über den Krieg vermieden. Und selbst wenn sie in die Diskussion einstiegen, dann meistens nicht öffentlich, sondern in einem geschlossenen Format, das den Dialog erleichtern sollte. So ging es auch der Organisation Sozialnyj Ruch, bei der ich mich engagiere. Sogar einer unserer Aktivisten, der die Ukraine am stärksten unterstützte, sagte immer wieder: «Lasst uns nicht über Themen streiten, auf die wir eh keinen Einfluss haben.» Diejenigen, für die der Donbas ein besonders wichtiges Thema gewesen ist, so auch für mich, denn bis 2014 habe ich dort gelebt, haben sich mit dieser Frage deshalb nur außerhalb unserer Organisation beschäftigt, eine interne Diskussion gab es nicht. Als aber klar wurde, dass ein neuer Krieg möglich ist, mussten wir unsere Politik schnell ändern. Als ich die Anfang Januar veröffentlichte Antikriegserklärung initiierte, hatte ich mit dem Widerstand einiger Mitglieder unserer Organisation zu kämpfen, die dieses Thema weiter vermeiden wollten.

Auch in der Commons-Redaktion haben wir mit der Zeit begonnen, dieses Thema sehr behutsam anzufassen. Wir prüften jedes Wort und feilten an unseren Texten, damit falsche Interpretationen möglichst ausgeschlossen sein sollten. Bei allen anderen Themen hatten wir keinen derartigen Fokus auf den sprachlichen Feinschliff gelegt, über den Krieg haben wir aber entweder sehr gut ausformulierte Texte veröffentlicht – oder eben gar nichts.

Diese Strategie hat uns erlaubt unsere Arbeit nach den Schwierigkeiten 2014 und 2015 wiederaufzunehmen, schützte uns aber nicht vor Fehlern. So ist heute offensichtlich, dass auch wir die Gefahr seitens Russland unterschätzt und dem russländischen Imperialismus nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet haben. Das ist auch mein Fehler gewesen. Wir waren so daran gewöhnt, alle postsowjetischen Politiker*innen als Zyniker abzutun, die nur an Macht und Reichtum interessiert seien. Jetzt wurde uns deutlich, wie sehr wir uns geirrt haben.

Meine Kritik betrifft auch die Strategie von Sozialnyj Ruch und Commons in den Zeiten des «halbeingefrorenen» Konflikts. Heute sind die Umstände aber ganz andere und die internationale Linke darf nicht mehr zu Russlands Krieg(en) schweigen.

Wichtiger ist aber jetzt nicht über die alten Fehler zu diskutieren, sondern die eigene Politik neu zu gestalten und den Kampf des ukrainischen Volkes für seine Freiheit zu unterstützen. Wir sind nicht nur Opfer, wir haben eigene Vorstellungen, wie unser Land sein soll und sind bereit dafür zu kämpfen.

Kürzlich haben der Nationale Sicherheitsrat und Präsident Wolodymyr Selensky elf Parteien in der Ukraine verboten. Ihnen allen werden Beziehungen zu Russland vorgeworfen. Rechtlich ist das Verbot durch das Kriegsrecht zwar gedeckt, aber ist dieses Verbot in der jetzigen Situation hilfreich? Wir sehen zum Beispiel, dass Teile der im Parlament vertretenen Partei «Oppositionsplattform - Für das Leben», die nun verboten ist, an der Landesverteidigung aktiv mitwirken und gemeinsam mit den «pro-ukrainischen» Kräften gegen die Invasion kämpfen. Wie sehen Sie dieses Verbot?

Von allen verbotenen Parteien war nur die Partei «Oppositionsplattform – Für das Leben» mit einer Fraktion im Parlament vertreten. De facto vereinigte sie in sich zwei Oligarchengruppen: einerseits die Bojko- und Ljowotschkin-Gruppe, die von Journalist*innen oft als «Gasmenschen» betitelt wurden, weil die Gasförderung und der -handel eine sehr große Rolle in ihren Geschäften spielten, und andererseits die Medwedtschuk-Gruppe, der Putin nahegestanden hat. Ein Rada-Abgeordneter der Oppositinsplattform, Illya Kywa, dem nach dem Ausbruch des Krieges sein Abgeordnetenstatus entzogen wurde, hat vor kurzem in den sozialen Medien den Kreml aufgerufen, Atomwaffen gegen die Ukraine einzusetzen.

Mit der russischen Invasion ist für Bojko und Ljowotschkin das Bündnis mit Medwedtschuk toxisch geworden. Nach Informationen des führenden Massenmediums Ukrainska Prawda haben die Anführer dieser Gruppe nach Lösungen für das Problem gesucht. Sie waren sogar froh, als ihre Partei verboten wurde, denn das ermöglicht ihnen ein neues Parteiprojekt zu schaffen, wie sie es bereits 2014 nach dem Zerfall der Partei des vorherigen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, der Partei der Regionen, gemacht haben. 

Die anderen verbotenen Parteien haben keinen besonderen Einfluss in der Ukraine gehabt, einige haben nur noch ein paar Dutzend Mitglieder gehabt. Sechs verbotene Parteien haben sich als links positioniert, dies meinte meistens, dass sie die Sowjetnostalgie für ihre Zwecke instrumentalisiert haben. In Wirklichkeit aber waren einige von denen ziemlich konservativ oder gar offen rassistisch. Zum Beispiel, hat die «Progressive Sozialistische Partei» von Natalija Witrenko in den 2000er Jahren mit dem Eurasischen Jugendverband des neofaschistischen Denkers Aleksandr Dugin eng zusammengearbeitet.

Grundsätzlich ist dieses Verbot aber eher sinnlos und unproduktiv. Künftig kann er zusätzliche Probleme für die Ukraine verursachen. Er schadet der gesellschaftlichen Einigung, die in den ersten Tagen des Krieges entstanden ist. Zum Glück, soviel ich überblicken kann, hat dieser Schritt bisher keine größeren Auswirkungen gehabt. Wichtiger ist aber, dass er der russischen Propaganda zusätzliche «Argumente» liefert und der internationalen Solidarität mit dem ukrainischen Volk schadet.

Zurzeit scheint auch die Unterscheidung zwischen «pro-russischen» und «pro-ukrainischen» politischen Kräften, die in den letzten acht  Jahren in der ukrainischen Politik eine große Rolle gespielt hat, angesichts des Kriegsalltags und der extremen Notsituation, in der das Land sich befindet, an Bedeutung verloren zu haben. Wie verändert sich die ukrainische Gesellschaft in diesem Krieg? Gibt es mehr Solidarität, mehr Wille zur Einigkeit angesichts der Gefahr einer Okkupation, mehr Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Parteien und sozialen Bewegungen? Oder nehmen anti-russische Ressentiments zu?

Natürlich nehmen derzeit antirussische Stimmungen zu, sogar nach dem Krieg werden sie noch lange fortbestehen. Das ist aus der Situation heraus auch verständlich. Und natürlich ist die Solidarität gewachsen, viele alte Konflikte haben an Aktualität verloren. Wie sich aber die Gesellschaft weiter verändert, wird von den Kämpfen abhängen. Wenn die Ukraine im Rahmen von Verhandlungen schmerzhafte Kompromisse eingehen muss, so wird dafür nach Sündenböcken gesucht werden, der Revanchismus in der Gesellschaft wird wachsen. Sollte aber die Ukraine siegen, könnte der gemeinsame Sieg die alten politischen Spaltungen in der Gesellschaft überwinden und die politische Debatte in der Ukraine offener machen. 

Was können die Menschen in Deutschland und Westeuropa tun, um die Ukraine und insbesondere die ukrainischen Linken in dieser Kriegssituation zu unterstützen?

Die westlichen Linken können die ukrainischen Linken unterstützen, indem sie humanitäre Hilfe leisten und den Geflüchteten Beistand leisten. Viele Linke in Europa machen das bereits. Es reicht aber nicht aus. Die internationale Linke muss mindestens mit ihren Statements den Kampf des ukrainischen Volkes unterstützen, besser wäre aber, wenn sie die Waffenlieferungen in die Ukraine befürworten würde.

Viele Linke bleiben am Dogma hängen, die Waffenlieferungen würden den Krieg nur verlängern und damit die Zahl der Opfer steigen lassen. Für uns ist das aber deutlich keine vertretbare Position. Denn die internationale Linke muss sehen, was eine russische Besatzung bedeutet. Umso mehr Territorium durch die russische Armee besetzt wird, desto mehr Zivilisten werden unter den russischen Repressionen leiden oder gar ermordet. Umgekehrt gilt, je mehr Raketen durch unsere Flugabwehr abgeschossen werden, desto weniger Menschen werden von diesen getötet. Wer der Meinung ist, die Absage an Waffenlieferungen wird die Ukraine zur Kapitulation zwingen, irrt sich. Der Großteil der ukrainischen Gesellschaft wird eine Kapitulation nicht akzeptieren, also würde eine Kapitulation der derzeitigen Regierung vor Russland das Land ins Chaos stürzen. Die Situation ist mit Irland zu vergleichen. Im Bürgerkrieg nach dem Friedensabkommen mit Großbritannien sind mehr Menschen gefallen, als im Unabhängigkeitskrieg selbst. Solch eine Entwicklung wünsche ich der Ukraine nicht. Deshalb ist es eine Schande, dass einige westliche Linke die Ukrainer*innen zur Kapitulation und einem Ende des Widerstands gegen die imperialistische Aggression Russlands aufrufen. Der Westen kann und darf nicht bestimmen, wann die Ukrainer*innen den Widerstand aufgeben und welche Kompromisse wir eingehen sollen. Das ist allein unsere Entscheidung.

Ich verstehe die Ängste, dass die Waffen in falsche Hände geraten können. Ich beobachte aber auch, dass heutzutage der ukrainische Staat die Situation viel strenger kontrolliert als 2014.  In den ersten Tagen des Krieges, als es absolut unklar war, wie sich die Situation weiterentwickeln wird, wurden die Maschinengewehre in einigen Städten an fast alle verteilt, die sich gemeldet haben. Danach aber ist der Staat schnell zu Sinnen gekommen und hat alles wieder unter Kontrolle genommen. Außerdem ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass die Flugabwehrsysteme, die wir sehr benötigen, auf dem Schwarzmarkt landen, im Unterschied zu den Maschinengewehren.

Den Linken im Westen möchte ich noch sagen: Wenn euch unsere Worte nicht überzeugen, hört bitte zumindest auf die russischen Antikriegslinken, die die Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützen. Nehmt bitte die Analysen der russischen Intellektuellen Greg Yudin und Ilya Budraitskis über die Faschisierung des Putinschen Regimes zur Kenntnis.

In der westlichen Linken wird teilweise diskutiert, dass der Krieg in der Ukraine auch im Interesse der NATO sei, um Russland zu schwächen, deshalb Waffenlieferungen abzulehnen seien. Wie sollte sich die Linke ihrer Meinung nach in diesem interimperialistischen Konflikt positionieren?

Ich finde, die Logik, wonach wir, wenn wir gegen die Stärkung der NATO sind, dann auch westliche Waffenlieferungen nicht unterstützen dürfen, falsch. Viel wichtiger wäre doch, die potentiellen Folgen dieses Krieges und die Varianten seiner Beendigung abzuwägen. Wenn Russland siegen sollte, so wird der imperialistische Zweikampf nochmals verschärft und das Wettrüsten vorangetrieben. Angesichts der realen Gefahren, die von Russland ausgehen, wird es sehr kompliziert sein, der Militarisierung etwas entgegenzusetzen. Das sehen wir am Beispiel der Ukraine in den letzten acht Jahren. Sollte aber unser Land gewinnen, wird dies die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Militarisierung gestoppt wird und eine globale Atomwaffenabrüstungspolitik möglich wird. Denn der Sieg der mit westlichen Waffen ausgerüsteten Ukraine über die russische Angriffsarmee würde zeigen, dass das russländische Heer gar nicht allmächtig ist und dass allgemeine Abrüstung dringend notwendig ist.

Aber soweit ich die westliche Debatte überblicke, sehen viele westliche Linke ihre Aufgabe immer noch darin, die Rivalität zwischen dem Westen und Russland zu kritisieren, weshalb sie an eine Deeskalation zwischen beiden Machtblöcken denken. Aber seit der russischen Invasion hat dieser Ansatz für uns an Bedeutung verloren.

In der bestehenden Situation treffen sich in der Tat einige Interessen der internationalen sozialistischen Bewegung mit denen der westlichen Regierungen, wie es beispielsweise auch zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges vorgekommen ist. Natürlich ist jede Situation einmalig und das Putinsche Russland ist kein Wiedergänger des Dritten Reichs. Ich will aber betonen, dass die Übereinstimmung der Interessen eher zufällig ist. Wenn wir die globale Lage betrachten, so wird deutlich, dass wir, die Linken, beispielsweise auch kein Interesse an einer Stärkung der USA haben. Wir sehen, dass das heutige Putinsche Regime der Juniorpartner Chinas ist. Obwohl wir eindeutig Russlands Krieg gegen die Ukraine verurteilen und Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, setzen wir uns im Konflikt zwischen den USA und China weiter für Deeskalation ein.

Obwohl die Niederlage Russlands jetzt den Interessen sowohl der westlichen Regierungen als auch der sozialistischen Bewegung entspricht, unterscheiden sich unsere Positionen von denen der westlichen Regierungen in der Frage, wer für den Krieg zahlen soll. Die westlichen Regierungen bemühen sich nach wie vor darum, den Kampf so zu gestalten, dass die Verluste der westlichen Kapitalisten minimiert werden. Die Linken sollen dagegen fordern, dass die Kapitalisten die Kosten des Krieges tragen und nicht die Arbeiterklasse.

Die Internationale Linke muss also die Situation nutzen, um ihre Politik neu auszurichten. Ein gutes Beispiel dafür sind die Vorschläge des Teams von Thomas Piketty für Sanktionen gegen reiche Russ*innen und ein internationales Finanzregister als die Voraussetzung dafür.

Ich bin aber kein Ökonom und kann deswegen selbst nichts in wirtschaftlichen Fragen empfehlen. Ich bin nur ein Historiker, den das Leben gezwungen hat, sich mit den Fragen von Krieg und internationaler Sicherheit zu beschäftigen. Mehrmals habe ich über die Notwendigkeit der Reform und Stärkung der UN für die Deeskalation von bewaffneten Konflikte geschrieben. Ich glaube nicht, dass die UN die Lage in der Ukraine wesentlich beeinflussen wird, denke aber, dass man den Krieg in der Ukraine nutzen kann, um die UN zu demokratisieren und ihre Rolle bei einer friedlichen Konfliktlösung zu stärken.

Ein erster Schritt in dieser Richtung wäre die Entsendung UN-Blauhelmen zum Schutz der Atomkraftwerke in der Ukraine und die  Einrichtung von humanitären Korridoren auch gegen den Willen Russlands. Auch könnten sie die Idee eines internationalen Tribunals zur Untersuchung der russischen Kriegsverbrechen unterstützen. Es ist zu befürchten, dass die USA und Großbritannien dieses Vorhaben nicht gutheißen werden, damit kein Präzedenzfall entsteht, nach dessen Vorbild auch ein Tribunal über den Irak-Krieg eingerichtet werden könnte. Außerdem müssen Linke weltweit die syrische Opposition unterstützen, die fordert, dass die syrische Frage nicht vom UN-Sicherheitsrat, sondern von der UN-Vollversammlung behandelt wird, wie es in der Resolution der UN-Vollversammlung Uniting for Peace gefordert wird. Seit dem Beginn der russischen Invasion wurde diese Resolution zum ersten Mal seit 40 Jahren angewandt, um den Fall der Ukraine in der UN-Sondersitzung zu behandeln. Eine solche Praxis würde die privilegierte Lage der ständigen Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrates, also auch der USA, Großbritannien und Frankreich, schwächen. Die Linken müssen die Schwächung des UN-Sicherheitsrates und stattdessen die Stärkung der UN-Vollversammlung anstreben.

Das wäre die Antwort auf das Problem der interimperialistischen Konflikte. Die Linken dürfen die Stärkung anderer Imperialismen nicht unterstützen, zum Beispiel, den chinesischen gegen den westlichen. Vielmehr geht es darum, dass wir uns für Stärkung des Einflusses der kleinen und armen Staaten einsetzen müssen. Die UN wäre ein passendes Instrument dafür. Es ist das, was afrikanische Staaten seit langem fordern.

Welche Entwicklung der Ukraine nach dem Ende des Kriegs erwarten Sie? Ist es vorstellbar, dass nach dem Krieg Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit eine größere Rolle spielen werden als vor dem Krieg?

Leider ist die Frage der sozialen Gerechtigkeit in der Ukraine durch den Krieg in den Hintergrund gedrängt worden. Die letzte Einschränkung der Rechte von Arbeiter*innen am 15. März 2022 zeigte, dass die Regierung weiter eine neoliberale Politik betreibt, selbst wenn es während des Krieges nachteilig für die ukrainische Wirtschaft ist. Es besteht aber die Chance, dass sich die Lage nach dem Krieg bessern könnte. Aber es wird von vielen Faktoren abhängen, in erster Linie vom Ausgang des Krieges.

Der verlorene Krieg im Donbas 2014 hat Ressentiments bei dem politisierten Teil der Gesellschaft hervorgerufen und den Revanchismus im Land befördert. Der lange halbeingefrorene Konflikt hat den politisch nicht aktiven Teilen der Gesellschaft ein apathisches Gefühl verliehen, und damit letztlich die Atomisierung der Gesellschaft und die Politikferne der Menschen verstärkt. Diese Entwicklung bildete die Voraussetzung für den Sieg Selenskys in den Wahlen 2019.

Wenn der jetzige Krieg wie 2015 mit einem schmerzhaften Kompromiss für die ukrainische Seite endet, ist es wahrscheinlich, dass die Folgen ähnlich wie damals sein werden. Sollte der Krieg aber mit einem eindeutigen Sieg der Ukraine enden, so wird es Chancen geben, dass sich die Lage in der Ukraine verbessert. Die Geschichte kennt mehrere Beispiele, in denen nach Kriegen die Politik sozial gerechter gestaltet wurde. Insbesondere in den Fällen der «Volkskriege», in denen, wie in der heutigen Ukraine, breite Bevölkerungsmassen durch den Krieg mobilisiert worden sind. Dadurch lernen die Menschen organisiert zu kämpfen und nach dem Krieg erwarten sie, dass sich ihr Leben verbessert. 

Dazu kommt noch, dass im vergangenen Jahr die Kampagne zur «Entoligarchisierung» begonnen wurde. Im Herbst eskalierte der Konflikt zwischen Selenskyj und dem reichsten ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow, infolgedessen Achmetows Unternehmen stärker besteuert wurden. Kurz vor Ausbruch des Krieges ist die Flucht der Oligarchen aus dem Lande ein großes Thema in den Medien gewesen. Das alles hat den Klassenhass gestärkt.

Wir wissen nicht, wie sich die Ereignisse weiter entwickeln werden, es wird von sehr vielen Faktoren abhängen. Ein Faktor dabei ist auch die Politik der europäischen Linken. 2014 hat die inadäquate Reaktion des großen Teils der westlichen Linken auf den Donbas-Krieg dazu beigetragen, dass die Linken in der Ukraine diskreditiert worden sind. Wenn internationale Linke diesmal ihren Beitrag zum Sieg der Ukraine leisten würde, könnte es die Situation für uns ändern. «Die Zukunft der sozialistischen Bewegung in der Ukraine hängt von der internationalen Solidarität ab», haben wir als Sozialnyj Ruch in unserer Antikriegserklärung im Januar 2022 geschrieben. Die Zukunft der globalen sozialistischen Bewegung kann letztendlich auch davon abhängen, welche Position die internationale Linke jetzt zu Russlands Krieg gegen die Ukraine einnimmt.