Die Massaker von Sétif, die zwischen dem 8. Mai und Ende Juni 1945 in Algerien stattfanden, sind ein Sammelbegriff, der in Wirklichkeit die Morde in der gesamten Region Constantine umfasst. In Sétif und Guelma schossen die koloniale Polizei und Milizen auf friedliche Menschenmassen, um die von algerischen Nationalisten initiierten Volksaufmärsche aufzulösen. Diese wollten den Sieg gegen den Nationalsozialismus feiern und an die Emanzipationsversprechen von General de Gaulle (Rede von Brazzaville, Januar 1944) erinnern. Die Unruhen forderten 103 Todesopfer unter den Europäern. Die blinde Repression gegen die algerische Bevölkerung war schrecklich. Im Jahr 2022 ist die Zahl der algerischen Opfer immer noch nicht genau bekannt. Die Zahlen schwanken zwischen 15.000 und 40.000 Opfern. Diese Tragödie war der Auslöser für den Befreiungskrieg, der im November 1954 begann und dessen Ende sich dieses Jahr zum 60. Mal jährt. Seit der Unabhängigkeit Algeriens ist der 8. Mai eine wichtige Erinnerungsmarke in der heutigen algerischen Gesellschaft. Er ist ein Feiertag, dient aber auch als Legitimation für die Machthaber des Landes und ist nach wie vor ein Konfliktpunkt zwischen Frankreich und Algerien.
Ein gewisser 8. Mai 1945
Mehdi Lallaoui ist französisch-algerischer Filmregisseur und Schriftsteller. Er hat fast 50 Dokumentarfilme über die Themen Migration, Geschichte der Arbeiterbewegung und Kolonialgeschichte gedreht, darunter «Les Massacres de Sétif, un cerain 8. Mai 1945». Zusammen mit Samia Messaoudi und Benjamin Stora war Lallaoui 1990 Mitbegründer des Vereins «Au Nom de la Mémoire» («Im Namen der Erinnerung»), deren Vorsitzender er ist.
Ich persönlich habe schon als Kind in meiner Familie immer von Sétif gehört. Die Erzählungen wurden von Generation zu Generation von den Überlebenden des Dramas weitergegeben. 1995 drehte ich für den Sender Arte den Film «Les massacres de Sétif, un certain 8 mai 1945» («Die Massaker von Sétif, ein gewisser 8. Mai 1945»), den allerersten Film über diese Geschichte. Für diesen Dokumentarfilm reiste ich mehrere Wochen lang durch das Land, um nach Überlebenden dieser Tragödie zu suchen. Wir mussten den Überlebenden dieses Großangriffs, der am Tag des Sieges über den Nationalsozialismus begann, Namen und Gesichter zuordnen, gegen den die Männer der Region nicht mit ihrem Blut gespart hatten. Zu ihnen gehörten Amri Bourras und sein Bruder Saad (die in den Räumen der Gendarmerie von Sétif gefoltert wurden) und viele andere Zeug*innen, die heute nicht mehr unter uns weilen. Dasselbe gilt für all die Männer, die aus dem Krieg zurückkehrten, die Befreier des Landes aus Frankreich, bedeckt mit Wunden und Orden. Sie entdeckten, dass ihre Familien massakriert, ihre Dörfer und ihr Viehbestand durch Bomben zerstört wurden und dass die Leugnung das einzige offizielle Wort dazu war. Ihre Nachkommen behielten ihre Medaillen als lächerliche Beweise für ihre Kämpfe während des Zweiten Weltkriegs und für die Ungerechtigkeit, die ihnen als Belohnung für ihre Opfer angeboten wurde. Für diesen Dokumentarfilm hatte ich nur einen dieser Soldaten in den Vordergrund gestellt: den Aspiranten Lounès Hanouz, dessen Vater und Brüder im Mai 1945 ermordet wurden. Ein junger Mann, Bachir Boumerza, der 50 Jahre später Präsident der Stiftung 8. Mai 1945 wurde, berichtete mitten im Algerienkrieg 1959 in seinem Buch «La Gangrène» (Der Gang, Edition de Minuit, 1959, S 33. In Frankreich verbotenes Buch – Anmerkung Übersetzung) über den Mord an den Hanouz: «Es war der 10. Mai 1945, in meinem Heimatdorf Kherrata. Hanouz Arab, eine medizinische Hilfskraft, dem vorgeworfen wurde Sekretär des örtlichen Kultur- und Wohltätigkeitsvereins zu sein, wurde mit seinen drei Kindern, von denen das jüngste in meinem Alter war, vor das Haus des Kolonialherren meines Dorfes geführt. Dort wurden die der Vater und seine Kinder auf dem Platz unter den Anfeuerungsrufen der gesamten europäischen Bevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, mehrere Stunden lang von den Legionären gefoltert. Am Abend, als sie sich nicht mehr bewegten, aber noch atmeten, zwangen die Soldaten die Muslime an den vier Leichen vorbeizumarschieren, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen. Die Soldaten trugen Hanouz dann auf eine drei Kilometer entfernte Brücke und stürzten ihn aus einer Höhe von 50 Metern in das Wadi...».
Die meisten ehemaligen französischen Soldaten, die vor Ort waren und die ich befragt hatte (sie waren 1945 20 Jahre alt), erinnerten sich genau an die Ereignisse und die Übergriffe gegen die algerische Bevölkerung. Wurde das Gewissen beschworen? Einige hatten sozusagen «das Gedächtnis verloren» und erinnerten sich nur an anekdotische Ereignisse, die den anderen Wehrpflichtigen angelastet wurden, wie etwa summarische Hinrichtungen. Ein Gefühl der Scham?
Im Archiv von Aix-en-Provence (das alle Archive des kolonialen Algeriens beherbergt) wurde mir trotz meiner offiziellen Anfragen bei den staatlichen Stellen die Nutzung bestimmter Dokumente, wie des Berichts von J. Bergé, verweigert. Der Bericht war nach dem Kommissar der Kriminalpolizei in Algier benannt, der beauftragt worden war die «Gerüchte über Massaker» der Kolonialmilizen in Constantine zu untersuchen. Diese nicht vertraulichen Dokumente habe ich mir für die Zeit, in der ich sie fotografiert habe, «ausgeliehen», um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie sind in meinem Dokumentarfilm «Die Massaker von Sétif» enthalten. Schließlich entdeckte ich vor einigen Jahren, dass das Filmarchiv, das ich 1995 bei der ECPA (Etablissement Cinématographique et Photographique des Armées, heute ECPA-D) bestellt hatte, von mehreren kompromittierenden Sequenzen «gesäubert» worden war. Eine dieser Sequenzen, die bei meinem ursprünglichen Antrag entfernt worden war, zeigt französische Soldaten auf einem Half-Track (militärisches Vehikel – Anmerkung Übersetzer), die zwei Landarbeiter mit erhobenen Armen aus nächster Nähe hinrichten. Diese verbotenen Aufnahmen wurden 20 Jahre später wieder in meinen Dokumentarfilm aufgenommen.
«Unentschuldbare Tragödie»
Die Massaker von Sétif, Guelma und Kherrata wurden vor etwa 20 Jahren endlich von Vertretern des französischen Staates öffentlich thematisiert. Es dauerte 60 Jahre bis der französische Botschafter in Algier, Hubert Colin de Verdière, in Bezug auf die von Frankreich im Mai Juni 1945 verübten Massaker von einer «unentschuldbaren Tragödie» (Déclaration faite le 25 février 2005 à Sétif. / Aussage vom 25. Februar 2005 in Sétif) sprach. Der damalige Außenminister Michel Barnier erklärte drei Monate später im Jahr 2005: «Für den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir gemeinsam die Vergangenheit untersuchen, um die für unsere beiden Völker schmerzlichsten Seiten zu überwinden. Dies setzt voraus, dass die Forschung von Historikern auf beiden Seiten gefördert wird, die gemeinsam in aller Ruhe an dieser beiderseitigen Vergangenheit arbeiten müssen» (Entretien au quotidien El Watan, le 8 mai 2005/ Gespräch mit dem Tageblatt El Watan vom 3. Mai 2005).
Der Präsident der Republik, François Hollande, ging noch viel weiter. Vor den beiden Kammern des algerischen Parlaments erklärte er 2012 bei seiner ersten Reise nach Algerien: «132 Jahre lang war Algerien einem zutiefst ungerechten und brutalen System unterworfen (...) und ich erkenne hier die Leiden an, die die Kolonialisierung dem algerischen Volk zugefügt hat. Zu diesen Leiden gehörten die Massaker von Sétif, Guelma und Kherrata, die, wie ich weiß, nach wie vor im Gedächtnis und im Bewusstsein der Algerier, aber auch der Franzosen verankert sind. Denn in Sétif, am 8. Mai 1945, am selben Tag, an dem die Welt über die Barbarei triumphierte, versagte Frankreich seinen universellen Werten».
Schließlich erklärte der in diesem April gerade wiedergewählte Präsident Macron in seinem ersten Wahlkampf, dass «der Kolonialismus ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit» sei.
Die Charakterisierung des Verbrechens ohne die notwendige weitere Ausführung, die zur vollen Kenntnis des Dramas und zur Gerechtigkeit führen, bedeutet jedoch nur die Hälfte des Weges zu gehen. Denn jenseits der Phrasen und Wendungen «schmerzhafte Seiten», «unentschuldbare Dramen», «ungerechtes und brutales System» - wovon reden wir eigentlich?
Wir sprechen von Massakern an der Zivilbevölkerung durch Militärbehörden und koloniale Milizen, die nach Schätzungen Tausende von Opfern forderten. Wir sprechen über den Einsatz von Flugzeugen und Kriegsmarine, um Dutzende von angeblich aufständischen Dörfern in Schutt und Asche zu legen. Wir berichten von Schnellgerichten und ähnlichen Hinrichtungen von Hunderten unbewaffneter Zivilisten. Wir sprechen von Folter, dem Verschwindenlassen von Personen und Inhaftierungen, von denen einige mit dem Tag der Unabhängigkeit im Juli 1962 ihr Ende fanden. Sétif 1945 ist unbestreitbar ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß den Definitionen des Internationalen Strafgerichtshofs.
«Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen Handlungen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs auf eine Zivilbevölkerung und in Kenntnis eines solchen Angriffs begangen werden. Die Liste dieser Handlungen umfasst unter anderem folgende Praktiken: Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder Zwangsumsiedlung von Menschen, Inhaftierung, Folter (...) Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen, religiösen oder geschlechtsspezifischen Gründen (...)».
Seit Jahren sind die Forderungen nach einer feierlichen und offiziellen Anerkennung der Verbrechen von 1945 sowohl in Frankreich als auch in Algerien erfolglos geblieben, obwohl die Verbände jedes Jahr an diese Forderung der Gerechtigkeit erinnern. Diese moralische Anforderung verlangt, die vor über 80 Jahren im Namen der Republik in Algerien begangenen Übergriffe in Worte zu fassen. Diese Anerkennungen, die der Beruhigung, der Gerechtigkeit und der Weitergabe unserer gemeinsamen Geschichte dienen, wurden durch die Äußerung von Präsident Jacques Chirac (Déclaration du 16 juillet 1995 /Aussage vom 16. Julie 1995) hinsichtlich der Verantwortung Frankreichs für die Razzia von «Vel d'hiv» im Juli 1942 ermöglicht.
Es ist Zeit zu reden, es ist Zeit nicht zu vergessen, es ist Zeit aufzubauen. Im Mai 2022 werden wir in Frankreich immer noch viele sein, die die Anerkennung dieser Tragödie fordern, sowie die wahrhaftige Öffnung der Archive, die immer noch von der französischen Regierung mit einem Vorhängeschloss versehen sind. «Nichts wird durch Vertuschung, Vergessen oder gar Verleugnung aufgebaut», sagte ein französischer Staatspräsident während seiner Reise nach Algerien (Déclaration du 20 décembre 2012. / Aussage vom 20. Dezember 2012). Heute, im Jahr 2022, warten die Bürger auf beiden Seiten des Mittelmeers immer noch auf Taten!