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Nach der Wahl des Diktatorensohns Ferdinand Marcos jr. stehen die Philippinen am Scheideweg.

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Protestplakat mit dem Abbild von Ferdinand Marcos
10. Mai 2022, Manila, Philippinen: Ein Demonstrant hält ein Plakat gegen den Präsidentschaftskandidaten Ferdinand Bongbong Marcos während einer Demonstration hoch. Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Ist die Demokratie in Gefahr? Carsten Stormer über die philippinische Menschenrechtsaktivistin Cristina Palabay, die im Kampf für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ihr Leben riskiert.

An einem schwülen Morgen im August 2020 schnappt sich Cristina Palabay ihren Mundschutz, das Plastikvisier, eine rote Rose und das Foto einer toten Kollegin. Es ist der Tag der nationalen Helden auf den Philippinen, an dem die Menschen jener gedenken, die für die Freiheit ihres Landes gestorben sind. Während Palabay ihr Büro verlässt, tippt sie eine SMS an ihren Mitarbeiter, um zu vereinbaren, wo sie sich mit den wenigen Mutigen trifft, denen sie noch vertrauen kann.

Palabay leitet die Organisation Karapatan, eine linke Initiative mit zweihundert Mitarbeiter*innen und Freiwilligen, die sich für Menschenrechte auf den Philippinen einsetzt. Die Frau auf dem Foto ist eine von mehr als einem Dutzend Mitarbeiter*innen von Palabays Organisation, die seit dem Amtsantritt des Präsidenten Rodrigo Duterte ermordet worden sind. Es handelt sich um Zara Alvarez, Menschrechtsanwältin, Erzieherin und Mutter. Alvarez wurde zwei Nächte zuvor in ihrer Heimatstadt Bacolod von einem Killerkommando ermordet. Sie wurde 39 Jahre alt.

Palabay war eng mit Zara Alvarez befreundet, ihre Ermordung hat sie erschüttert. «Es tut schrecklich weh. Es macht mich wütend. In diesem Land haben wir schon so viel Schmerz erfahren müssen», sagt sie. Tränen laufen über ihre Wangen. Sie holt Luft und räuspert sich. Dann sagt sie: «Ich lasse mich nicht einschüchtern, wegen so etwas bin ich Aktivistin geworden.»

Cristina Palabay leitet die philippinische Menschenrechtsorganisation Karapatan. Für ihren Einsatz wurde ihr im Jahr 2021 der deutsch-französische Menschenrechtspreis verliehen.

Carsten Stormer ist freier Asienkorrespondent und Mitglied der Reportergemeinschaft Zeitenspiegel Reportagen.

Palabay, damals 41 Jahre alt, eine zurückhaltende Frau, klein, die schwarzen Haare trägt sie zum Pferdeschwanz gebunden. Eigentlich war eine Laufbahn als Kämpferin für Menschenrechte in ihrem Lebensplan nicht vorgesehen. Ihr Vater diente im Militär unter Diktator Ferdinand Marcos. Ihre Eltern waren hin und wieder Gäste auf der Jacht des Diktators, Palabay ging als junges Mädchen mit. «Ich habe immer die Türknäufe der Kajüten angefasst und meinen Vater gefragt, ob die wirklich aus echtem Gold seien.» Aber sie sah auch die Armut, die soziale Ungerechtigkeit, die Eliten, deren Taten straflos blieben – was so gar nicht zu den goldenen Klinken des Diktators passte.

Palabay führt ein riskantes Leben. Ihre Kollegin ist das zweite Opfer innerhalb weniger Tage. Erst eine Woche zuvor war der Menschenrechtler Randall Echanis in seinem Haus in Quezon City erstochen worden.

Die Morde an den Aktivist*innen geschahen nur wenige Wochen, nachdem Präsident Rodrigo Duterte während des Corona-Lockdowns ein umstrittenes Antiterrorgesetz unterzeichnet hatte. Dieses Gesetz erlaubt es, Bürger*innen auch ohne Haftbefehl wegen Terrorverdachts bis zu 24 Tage lang festzuhalten. Polizei und Militär dürfen Bürger*innen überwachen. Schon der Verdacht, dem kommunistischen Untergrund anzugehören, oder eine Beschuldigung, Sympathisant oder Mitglied der Kommunistischen Partei zu sein, genügen, um gebrandmarkt zu werden. Unter anderem kursierte in der Öffentlichkeit eine Liste mit 649 Namen von angeblich Verdächtigen, die das Justizministerium als Terroristen bezeichnete. Auch Palabays Name stand auf dieser Liste. Die Regierung setzt weiterhin auf altbewährte Mittel: Abschreckung und Angst. 424 Aktivist*innen, Anwälte und Oppositionelle wurden seit Dutertes Amtsantritt ermordet.

«Die Gründe, warum ich meine Arbeit fortsetze, überwiegen bei weitem die Risiken. Ich kann nicht einfach ungesehen machen, was ich gesehen habe. Ich kann nicht einfach die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen dieses Regimes verschließen. Deshalb habe ich mich entschieden, zu kämpfen», sagt sie. Sie hat sich mit mächtigen Gegnern angelegt.

Rodrigo Duterte gewann die Präsidentschaftswahl 2016 unter anderem mit der Aussage, Zehntausende Drogenabhängige töten zu wollen. Seit seinem Amtsantritt starben bis zu 30.000 Menschen, schätzen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch. Sie alle wurden von Polizisten oder Killerkommandos getötet. Inzwischen spüren auch Oppositionelle und Kritiker*innen die Macht des Autokraten Duterte. Die politische Widersacherin, die liberale Senatorin Leila de Lima, sitzt seit drei Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis. Eine oberste Richterin wurde abgesetzt, die Strafmündigkeit soll auf zwölf Jahre gesenkt und auch die Todesstrafe wiedereingeführt werden.

Als Cristina Palabay im Stadtzentrum ankommt, blickt sie sich suchend um. Etwa 200 Demonstrant*innen mit Mundschutz und Plastikvisier trotzen dem Versammlungsverbot und lassen sich auch von Temperaturen von mehr als 30 Grad nicht beirren. Mit der Lockerung der Quarantänemaßnahmen flammte der Widerstand gegen die Regierung erneut auf. Die Demonstrierenden halten Transparente und Schilder hoch, auf denen sie Präsident Duterte mit dem Diktator Marcos vergleichen. Sie fordern Gerechtigkeit für die Toten des Drogenkriegs und verlangen das Ende der Gesetzlosigkeit. Einige halten stumm Fotos von Palabays getöteter Kollegin in die Höhe. «Schön, dass so viele junge Menschen gekommen sind», sagt Cristina Palabay.

Wie viele im Land glaubt sie, dass das Machtgefüge aus der Balance geraten ist. Palabay befürchtet, dass die Philippinen erneut in eine Diktatur schlittern. Hinter ihr glitzert der Granit des Denkmals, das an die Opfer der Marcos-Diktatur erinnert. Auch die Namen zweier ihrer Onkel sind dort eingraviert. «Sie waren Studenten, die in den Bergen für die Rechte der Minderheiten kämpften. Als das Kriegsrecht ausgerufen wurde, gingen sie in den Untergrund. Dort wurden sie auch getötet», erzählt Palabay und fügt hinzu, dass sie das Vermächtnis ihrer toten Familienmitglieder mit ihrer Arbeit fortführen wolle. «Aber ich will weder sterben, noch möchte ich, dass mein Name auf dieser Mauer landet.»

Palabay steht unter Beobachtung, sie erhält Morddrohungen. Im Juli 2020 versuchte ein als Lieferant verkleideter Polizist, sie am Tor ihres Büros zu verhaften. «Einschüchterung ist das Machtinstrument der Regierung», sagt sie. Es habe mit dem Drogenkrieg begonnen, dann folgte der Krieg gegen Oppositionelle. «Und jetzt führen sie Krieg gegen Aktivisten», sagt Palabay. Duterte, sagt sie, nutze die Pandemie, um einen autokratischen Staat aufzubauen.

Nach Beginn des Lockdowns wurden kritische Medien und Journalist*innen aus dem Weg geräumt. Allen voran ABS-CBN, der größte Fernsehsender des Landes: Bereits im April 2017 hatte Duterte den Kongress aufgefordert, die Lizenz der Medienanstalt nicht zu verlängern. Die meisten Abgeordneten erfüllten den Wunsch ihres Staatschefs. Im Juli 2020 beschlossen sie, der Sendeanstalt keine Lizenz mehr zu erteilen. Die Journalistin Maria Ressa wurde wegen angeblicher Verleumdung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Senatorin Leyla de Lima, ehemalige Justizministerin und politische Gegenspielerin des Präsidenten, ließ Duterte 2017 verhaften. Auf dem Papier seien die Philippinen immer noch eine Demokratie, sagt Palabay, «aber praktisch herrscht hier ein einziger Mann mit der Unterstützung von Militär und Polizei.»

Deshalb steht sie im Herbst 2020 mit einigen Mitstreiterinnen vor dem Bundesgerichtshof in Manila, um gegen die willkürlichen Morde an Aktivisten zu demonstrieren. Es ist ein heißer, schwüler Morgen. Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn. Sie trägt Gesichtsmaske und ein Plastikvisier, wie es die strengen Covid-Regeln vorschreiben. Ein paar Journalisten sind gekommen, ein Wachmann bittet die Frauen, Platz zu machen, Autofahrer hupen im Berufsverkehr. «Diese Regierung führt mit Vorliebe Listen, die sich als Todeslisten herausstellen», sagt Palabay. «Dazu gehören Plakate, Drohungen über Mobiltelefone, Stellungnahmen, Ankündigungen des Präsidenten. Deshalb reichen wir diese Petition ein, die rechtlichen Schutz fordert.» Sie appelliert an die Regierung, Andersdenkende zu schützen. Denn auch ihr eigener Name steht auf diesen Listen. Sie weiß genau, in welcher Gefahr sie schwebt, und doch sieht sie keinen anderen Weg für sich. «Angeblich sind wir immer noch eine Demokratie, aber praktisch werden wir von einem Alleinherrscher regiert, mit Hilfe des Militärs und der Polizei. In diesem Klima ist niemand sicher», sagt sie ernst.

Trotzdem unterstützt eine große Mehrheit der 110 Millionen Philippiner den Präsidenten. Duterte gibt sich als Mann des Volkes, der sich für Benachteiligte der Gesellschaft einsetzt. Das kommt an. Im Mai 2019 schaltet er bei den Zwischenwahlen seine politischen Widersacher aus. In Umfragen sichern ihm über 90 Prozent der Befragten ihre Zustimmung zu.

Lange scheinen die Opfer und Kritiker Dutertes in einer Art Schockstarre zu verharren, nur zaghaft regt sich Widerstand: Kleine Gruppen aus Studierenden, Menschenrechtler*innen und Vertreter*innen der katholischen Kirche werden lauter und vor allem öffentlicher. Unter ihnen auch Cristina Palabay. Unermüdlich nutzt sie jede Gelegenheit, um auf die Zustände in ihrem Land aufmerksam zu machen. Sei es auf Demonstrationen oder in der Talkshow der regierungskritischen Nonne Mary-John Mananzan, 84 Jahre alt und eine Verfechterin von Frauenrechten. Seit Jahrzehnten eine Ikone der Widerstandsbewegung. Auch sie, die fromme Katholikin, wurde von der Regierung als potenzielle Terroristin gebrandmarkt.

Palabay und Mananzan sind seit Jahren befreundet, begrüßen sich herzlich. Dann gehen sie in das Studio. Drei, zwei, eins: Aktion. Die Kameras und Scheinwerfer gehen an. «Nun, Cristina, erzähl unseren Zuschauern, wie es um die Demokratie in den Philippinen bestellt ist», beginnt die Nonne ihre Sendung. Eine Stunde lang redet Palabay im Scheinwerferlicht. In den vergangenen sechs Jahren seien 15 Mitarbeiter*innen ihrer Organisation ermordet worden. Freundinnen, Kolleginnen. «Wenn man einen Präsidenten hat, der sagt, die Lösung für alles sei Töten, Töten, Töten – dann ist das der Grundsatz allen Tuns. Es bedeutet, dass Du alles tun kannst, ohne dafür belangt zu werden. Man kann menschliches Leben vernichten, weil man die Person als Abschaum der Gesellschaft oder Fluch der Demokratie abwertet. Nur, weil jemand es so will», sagt Palabay in die Kamera. Einschüchtern lasse sie sich davon nicht. «Diese Mordserie wird Leute wie mich nicht zu Schweigen bringen. Sie sind genau der Grund, warum wir unsere Sache weiterhin vertreten. Also, ich werde bestimmt nicht meine Haltung ändern.» Sie weiß, welche Risiken sie eingeht. Auch ihr Leben ist in Gefahr.

Die Zustände erinnern viele an das Schreckensregime des ehemaligen Diktators Ferdinand Marcos, der 1972 das Kriegsrecht ausrief und erst 1986, nach 14 Jahren Diktatur, durch einen Volksaufstand gestürzt werden konnte. Damals musste seine Familie das Land verlassen musste. 1989 starb Marcos und seine Frau Imelda kehrte aus dem US-Exil zurück. Ihr Ziel: Die Familie zurück an die Macht führen. 2016 gelang ihr ein erster großer Schritt in diese Richtung. Präsident Duterte ließ den einbalsamierten Leichnam des früheren Diktators mit militärischen Ehren auf dem Heldenfriedhof Manilas beisetzen. Marcos war rehabilitiert. Seitdem setzt die Marcos-Familie alles daran, dass Ferdinand Marcos Jr., genannt Bongbong, seinen Vater beerbt und Präsident wird.

Die Präsidentschaftswahlen sind damals noch in weiter Ferne. Doch schon zwei Jahre vor dem Ende von Dutertes Amtszeit ahnt Palabay, wer nach ihm kommen könnte. «Es würde mich nicht überraschen, wenn ein Marcos mit einem Duterte in den Wahlen 2022 kandidiert. Wahrscheinlich wird sich Dutertes Tochter Sara aufstellen lassen.»

Zwei Jahre später ist klar: Palabays Sorgen waren berechtigt.

Im Januar 2022 gibt Bongbong Marcos offiziell seine Kandidatur bekannt. Neue Vizepräsidentin will Sara Duterte werden, Tochter des Präsidenten. Wegen des Schulterschlusses der beiden Autokratenfamilien Marcos und Duterte befürchten Menschrechtsaktivisten wie Cristina Palabay, Oppositionelle, Journalist*innen und Opfer des Marcos-Regimes einen Rückfall in die Diktatur.

Der Grundstein für den Aufstieg Bongbong Marcos wurde schon vor Jahren in den sozialen Medien gelegt. Für viele Philippiner*innen sind Facebook, TikTok und YouTube die einzigen Informationsquellen. Allein Facebook nutzen rund 74 Millionen der insgesamt 110 Millionen Einwohner*innen. Hinzu kommt: Mehr als die Hälfte der 63 Millionen Wähler*innen sind jünger als 40 Jahre. Sie waren nicht geboren oder zu jung, um sich an die Marcos-Diktatur zu erinnern. Der Wahlkampf war geprägt von Desinformationskampagnen, Falschinformationen – und er fand hauptsächlich in den sozialen Medien statt. Im Netz inszenierte sich die Marcos-Familie als Opfer, das von den Mainstream-Medien unfair behandelt und falsch dargestellt werde. Durch die sozialen Medien geisterte der Ex-Diktator Ferdinand Marcos als Heilsbringer, der ein modernes Land regierte, mit glücklichen Untertanen, weder in Armut lebten noch an Hunger litten. Sohn Bongbong soll nun das Werk des Vaters vollenden; als eine Art Heilsbringer 2.0. Es ist ein perfekt organisierter Geschichtsrevisionismus.

Palabay ärgert die Leichtgläubigkeit ihrer Landsleute, aber es überrascht sie nicht. Kritisches Denken, meint sie, wird ersetzt durch Obrigkeitsdenken. Und auch, dass die Jahre des Kriegsrechts, die Diktatur, das Verschwinden, Foltern und Ermordung politischer Gegner während der zwei Jahrzehnte währenden Marcos-Herrschaft im Lehrplan philippinischer Schulen kaum eine Rolle spielt, trage zur Geschichtsvergessenheit bei. «History repeats itself», sagt sie. Geschichte wiederholt sich. Und um das zu verhindern, nutzt Palabay unermüdlich jede Gelegenheit, ihre Landsleute aufzuklären, organisiert Demonstrationen, spricht im Fernsehen, in Podcasts, und verschickt Pressemitteilungen. In den Philippinen erhält sie Morddrohungen, vom Ausland wird sie für ihren mutigen Einsatz geehrt: Ende 2021 wird ihr der deutsch-französische Menschenrechtspreis verliehen.

Dabei geht ihr Kampf gerade erst in eine neue Runde. 25. Februar 2022, der Tag, an dem die Philippinen der Marcos-Diktatur gedenken. Schon am frühen Morgen brennt die Sonne erbarmungslos, tropische Schwüle lässt die Kleidung wie nasse Handtücher am Körper kleben. Es ist Feiertag. Trotzdem sind nur ein paar hundert Menschen am Peoples-Power-Monument an einer viel befahrenen Ringstraße zusammengekommen. Ein Demonstrationszug schiebt sich am Straßenrand entlang, vielleicht zweihundert Menschen, angeführt von Cristina Palabay. Sie tragen Schilder, auf denen steht, dass Ferdinand Marcos ein Diktator war. Sie rufen: «Nie wieder Diktatur». Studierende, Aktivist*innen, Opfer der Marcos-Diktatur, die von Folter und Mord berichten. Sie alle sind an diesem Morgen hierhergekommen, um gegen die Kandidatur von Bongbong Marcos und Sara Duterte zu demonstrieren.

Ein paar Polizisten mit Schutzschilden, Helmen und Schlagstöcken stehen gelangweilt vor den Demonstrierenden und schwitzen in der Sonne. Christina Palabay steht im Schatten einer Akazie und beantwortet die Frage, die sich viele Menschen und Beobachter stellen: Wie ist es möglich, dass der Sohn eines Diktators und Kleptokraten, der sich nicht vom politischen Vermächtnis seines Vaters distanziert, sich keiner politischen Debatte stellt und mit keinem erkennbaren Wahlprogram auftritt?

Der Grund hierfür liege im traditionellen politischen System in den Philippinen, das seit jeher aus politischen Dynastien besteht, mächtigen Familien, die die politische und wirtschaftliche Macht für sich beanspruchen würden. In dem von Armut geplagten Land herrschen seit Jahrzehnten Familienclans, die sich über Generationen hinweg durch Gefälligkeiten, Stimmenkauf oder Gewalt an der Macht halten. Die Marcos-Familie gehört trotz allem zum alten Politadel der Inselnation. Hinzu kommen neue Dynastien wie die Dutertes, die sich in der Politik etablieren konnten und so den Wettbewerb bei den Wahlen unterdrücken, die wirtschaftliche Entwicklung hemmen und die soziale Ungleichheit verschärfen. Politische Familien haben inzwischen 67 Prozent der Sitze im Repräsentantenhaus inne, gegenüber 48 Prozent im Jahr 2004, und 53 Prozent der Bürgermeisterposten, gegenüber 40 Prozent.

«Die Tatsache, dass ein Marcos und eine Duterte jetzt für das höchste Amt kandidieren, zeigt, dass die politischen Dynastien fortbestehen und noch stärker werden», sagt Palabay. «Die Marcos-Familie will seit langem zurück an die Macht.»

Und nie waren sie diesem Ziel so nahe wie im Jahr 2022. Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen steht der 64-jährige Bongbong Marcos kurz davor, den ultimativen dynastischen Sieg zu erringen: die Präsidentschaft. In Umfragen liegt er Anfang April mit knapp 40 Prozentpunkten scheinbar uneinholbar vor seiner Herausforderin Leni Robredo, der derzeitigen Vizepräsidentin. Mit dem Präsidentenamt allein will sich die Familie jedoch nicht zufriedengeben: Marcos ältester Sohn Sandro kandidiert für einen Sitz im Kongress. Seine Schwester Imee ist Senatorin, sein Neffe Provinzgouverneur, ein Cousin Kongressabgeordneter.

Auch Präsident Duterte hat Familienangehörige politisch in Stellung gebracht: Tochter Sara kandidiert als Vizepräsidentin, ein Sohn als Kongressabgeordneter und ein weiterer als Bürgermeister einer Großstadt im Süden des Landes. In den Philippinen steht die Familie immer an erster Stelle. «Unsere Demokratie befindet sich gerade in einem Höllenloch», meint Palabay. «Wenn Marcos Jr. die Wahl gewinnt, werden wir nicht nur eine Fortsetzung des Marcos-Regierungsstils erleben, sondern auch die Art, in der Duterte geherrscht hat», sagt sie. Und das bedeutet: Einschüchterung und Angst.

Trotz allem entscheidet am 9. Mai Ferdinand «Bongbong» Marcos die Wahl mit einem Erdrutschsieg für sich. Mit mehr als doppelt so vielen Stimmen wie die Herausforderin Leni Robredo. Es ist das erste Mal seit dem Ende der Diktatur, dass ein Kandidat mit absoluter Mehrheit gewählt wird. Auch Sara Duterte gewinnt mit großer Mehrheit die Vizepräsidentschaft. Die Opposition ist nahezu ausgeschaltet. Trotz einiger Unregelmäßigkeiten ist die Wahl für philippinische Verhältnisse weitestgehend frei und fair verlaufen.

Marcos Wahlsieg kommt nicht überraschend, für Palabay ist er trotzdem ein Schock. Unmittelbar nach der vorläufigen Auszählung des Wahlergebnisses schickt Cristina Palabay auf Facebook eine verzweifelte Warnung an die Öffentlichkeit: «Das Marcos-Duterte-Tandem repräsentiert die schlimmste Form der traditionellen Politik und Regierungsführung in der Geschichte unseres Landes.» Aber aufgeben kommt nicht in Frage. «Wir kämpfen weiter», schreibt sie.