Nachricht | Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - Europa - Osteuropa Feliks Tych als Historiker der polnischen Arbeiterbewegung

Eine kurze Würdigung

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Autor

Holger Politt,

Am 16. Februar 2015 starb in Warschau Feliks Tych. Ohne sein Wirken stünde die weltweite Rosa-Luxemburg-Forschung – zumindest was ihren polnischen Teil betrifft – noch in den Kinderschuhen. Dabei galt sein hauptsächliches Interesse weniger der Person von Rosa Luxemburg allein, vielmehr richtete es sich auf die komplexen und schwieriger zu verstehenden Zusammenhänge mit der polnischen Arbeiterbewegung als Ganzes. Allerdings hinterlässt der Historiker so etwas wie ein unvollendetes Werk, das aber besticht durch die vielen herausragenden Leistungen, ohne die eine sinnvolle Beschäftigung mit dem Wirken Rosa Luxemburgs heute kaum vorstellbar wäre. Auf einige Aspekte sei nachstehend verwiesen.

  1. Der junge Historiker promovierte 1955 in Moskau mit einer Arbeit zur SDKPiL (Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens), die sich insbesondere auf die in der sowjetischen Hauptstadt befindlichen umfangreichen Archivmaterialien stützte. Neben Leo Jogiches, Julian Marchlewski und Adolf Warski war Rosa Luxemburg mit dem Gründungsvorgang und der weiteren Entwicklung der sozialdemokratischen Partei in dem seit 1815 zum Russischen Reich gehörenden Königreich Polen eng verbunden. Als Feliks Tych wenig später, und wiederum in einem Moskauer Archiv, auf nahezu 1.000 Briefe Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches stieß, die sie in der Zeit von 1893 bis 1914 meistens in Polnisch geschrieben hatte, konnte für die weltweite Rosa-Luxemburg-Forschung eine völlig neue Grundlage gelegt werden.
  2. Ab 1961 begann Feliks Tych in der Zeitschrift „Z pola walki“ (Vom Kampffeld), ein breiteres Fachpublikum mit diesen Briefen bekannt zu machen. Von 1968 bis 1971 wurden dann alle bis dahin bekannten und aufgefundenen Briefe Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches von ihm in einer dreibändigen Buchausgabe herausgegeben. Der umfangreiche Apparat in diesen Bänden bildet seither eine unentbehrliche Grundlage für die Luxemburg-Forschung, besonders aber für den wichtigen Teil, der sich auf die enge politische und inhaltliche Zusammenarbeit mit Leo Jogiches bezieht. Auch die in der DDR im Dietz-Verlag ab 1982 besorgte sechsbändige Ausgabe von „Gesammelten Briefen“ (GB) Rosa Luxemburgs stützt sich bei den Briefen an Leo Jogiches meistens auf die Arbeitsergebnisse von Feliks Tych. Die beiden Herausgeber Annelies Laschitza und Günter Radczun schrieben dazu: „Feliks Tych hat seine Ausgabe mit umfangreichen, ins Detail gehenden Anmerkungen versehen. Seine Forschungsergebnisse, die die polnische Arbeiterbewegung und die Identifikation der oft unter Pseudonym in ihr wirkenden Personen betreffen, waren für die vorliegende Herausgabe der Briefe Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches eine sehr wertvolle Hilfe.“ (GB, Bd. 1, S. 48 ⃰ )
  3. Bis heute sind zwei mehrbändige Dokumentensammlungen unerlässliche Hilfsmittel, um Ordnung ins Labyrinth der komplizierten Parteibeziehungen in der polnischen Arbeiterbewegung zu bringen. Zunächst erschienen von 1957 bis 1962 Dokumente zur Geschichte der SDKPiL aus der Zeit zwischen 1893 und 1903, also aus der Gründungsphase und aus der Zeit des ersten Versuchs, sich der russischen sozialdemokratischen Bewegung organisatorisch anzuschließen. 1962 wurden Dokumente zur Parteigeschichte der PPS-Lewica herausgegeben, die 1906 nach der Spaltung der PPS (Polnische Sozialistische Partei) durch den größeren Teil der Mitgliedschaft gegründet wurde und im Dezember 1918 zusammen mit der SDKPiL in die neugegründete Kommunistische Partei in Polen aufging (zunächst KPRP, später KPP). Diese Dokumente sind insofern für die Rosa-Luxemburg-Forschung von besonderer Bedeutung, weil Rosa Luxemburg in den Jahren 1908/09 in mehreren grundlegenden Beiträgen der PPS-Lewica vorhielt, nicht konsequent auf sozialdemokratische Positionen übergegangen zu sein, was eine organisatorische Vereinigung unmöglich mache.
  4. In diesem Zusammenhang sei auch darauf verwiesen, dass Feliks Tych entscheidenden Anteil hatte an der kommentierten Publikation aller Parteiprogramme der polnischen Arbeiterbewegung bis 1918. Erst diese komplette Übersicht machte es z. B. möglich, den Stellenwert der von Rosa Luxemburg maßgeblich mit- oder überhaupt geschriebenen programmatischen Texte aus den Jahren 1893/1894 bzw. 1904/1905 bemessen zu können.
  5. Maßgeblich beteiligt war Feliks Tych 1984 an der Herausgabe von über 800 Briefen von Kazimierz Kelles-Krauz aus den Jahren 1890 bis 1905. Kelles-Krauz war einer der führenden Köpfe in der PPS und ein ausgezeichneter Kenner der Schriften von Marx und Engels. Er verteidigte das Programm der PPS von 1892 als ein Klassenprogramm der Arbeiterbewegung, womit er sich also entschieden auf den Standpunkt stellte, dass das Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit Polens darin eingeschlossen sei. Wenn Rosa Luxemburg nach 1893 vehement gegen den Sozialpatriotismus polemisierte, dann meinte sie vorzugsweise den marxistisch beschlagenen Kelles-Krauz, ohne ihn indes immer zu erwähnen. Rosa Luxemburg hielt Polens Unabhängigkeit für ausgeschlossen, u. a. weil sie ahnte, dass diese nur zum Preis eines Krieges zwischen den Teilungsmächten zu haben sei, der dann als Erster Weltkrieg tatsächlich ausbrach. Um Rosa Luxemburgs Auffassung zur polnischen Frage zu begreifen, braucht es zumindest der genauen Kenntnis des Gegenpols innerhalb der polnischen Arbeiterbewegung. Die Briefsammlung von Kelles-Krauz ist dafür ein unentbehrliches Hilfsmittel, auch deshalb, weil die Quellenbezüge und –verweise einen breiten Kontext aufschließen.
  6. Von 1973 bis 1988 wurden unter Feliks Tychs Leitung insgesamt elf Bände eines „Archivs der Arbeiterbewegung“ herausgegeben, in denen bisher nicht publizierte Dokumente zur Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung aus Archivbeständen Polens und der Sowjetunion veröffentlicht wurden. Im ersten Band wurde u. a. ein von Rosa Luxemburg 1902 in Russisch geschriebenes und unvollendet gebliebenes Manuskript über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der polnischen und russischen Arbeiterbewegung abgedruckt, das im Hinblick auf den beabsichtigten Beitritt der SDKPiL zur SDAPR (Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei) auf dem 2. Parteitag der SDAPR im Sommer 1903 angefangen wurde. Dieses bis dahin unbekannte Dokument, welches in Moskauer Archivbeständen aufgefunden wurde, ist auch deshalb bedeutsam, weil Rosa Luxemburg im Sommer 1903 sich wiederum entschieden gegen einen Beitritt zur russischen Partei aussprach. Einen Schlüssel zum Verständnis dieser Situation findet sich in Rosa Luxemburgs wichtiger Arbeit „Nationalitätenfrage und Autonomie“ aus dem Jahre 1908/09.
  7. Im Jahre 1978 wurde unter der Leitung von Feliks Tych mit der Herausgabe eines Biographischen Wörterbuchs der polnischen Arbeiterbewegung begonnen. 1992 erschien mit dem Buchstaben K der bislang letzte Band. Die Grundlinien des Wörterbuchs sind die Gleichbehandlung aller Richtungen innerhalb der polnischen Arbeiterbewegung und die vollständige Angabe der zur Verfügung stehenden wichtigen Lebensdaten. Damit wurde erstmals im sowjetischen Einflussbereich in einem größeren biographischen Umfang offiziell und detailliert auf die unbeschreiblichen Verbrechen der Stalinzeit verwiesen, die auch vor den Vertretern der polnischen kommunistischen Bewegung nicht Halt machte. Um einen guten Vergleich zu ermöglichen, sei darauf verwiesen, dass die Ausgabe der „Gesammelten Briefe“ von Rosa Luxemburg, die ab 1982 in der DDR erfolgte, immer noch eines guten Tricks bedurfte: „Zu allen Personen gibt es im Register biographische Angaben für die Zeit bis zur Ermordung Rosa Luxemburgs im Januar 1919.“ (GB, Bd. 1., S. 54 ⃰ )
  8. Anfang 1989 stellte Feliks Tych die Druckvorlage zusammen für über 800 Briefe Julian Marchlewskis. Zum Druck kam es nicht mehr, weil die politischen Ereignisse dazwischenkamen, die sich in Polen ab Februar 1989 geradezu überschlugen. Nach 1990 war unter marktwirtschaftlichen Bedingungen an eine Herausgabe dieser Arbeit nicht mehr zu denken. Die Warschauer Allee mit dem Namen Julian Marchlewskis bekam nun den Namen von Papst Johannes Paul II., ersterer wurde zur geschichtlichen Unperson, nach der kein Hahn mehr krähen sollte. Ausschlaggebend war Marchlewskis Entscheidung, sich im Sommer 1920 an der Seite der Roten Armee aktiv für ein Sowjetpolen einzusetzen.
  9. Ab 1992 begann Feliks Tych mit intensiven Arbeiten zu einer ausführlichen Biographie von Leo Jogiches, dem langjährigen Liebes- und Lebenspartner Rosa Luxemburgs, der auch nach der persönlichen Trennung 1907 ihr engster politischer Partner blieb und der im März 1919 in Berlin-Moabit brutal ermordet wurde. Feliks Tych ging es bei diesen Arbeiten auch darum, den hohen oder herausragenden Anteil am politischen und wissenschaftlichen Werdegang Rosa Luxemburgs kenntlich zu machen. Wie kaum ein anderer in der polnischen Arbeiterbewegung zeichnete sich der aus Wilna (Vilnius) stammende Jogiches durch genaue Kenntnis der russischen Bewegung aus. Das spielte eine ganz wichtige Rolle in der sensiblen Frage des Verhältnisses der SDKPiL zum Fraktionskampf zwischen Menschewiki und Bolschewiki in der SDAPR. Später warnte Jogiches im Dezember 1918 vor der Bezeichnung Kommunistische Partei, weil damit einer Identifizierung mit der Bolschewiki Tür und Tor geöffnet werde.

Der berufliche Werdegang verhinderte, dass Feliks Tych seine begonnenen Arbeiten zur Jogiches-Biographie fortsetzen konnte. Von 1995 bis 2006 war er Direktor des renommierten Jüdischen Historischen Instituts zu Warschau.