Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Andenregion Historisches Wahlergebnis in Kolumbien

Ausgang ungewiss

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In einem Schaufenster hängt ein Wahlplakat des kolumbianischen Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro und seiner Vizepräsidentin Francia Márquez. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Antonio Cascio

Kolumbien hat in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen gegen die rechten Eliten gewählt. Die Stichwahl am 19. Juni wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Gustavo Petro, der von einem breiten Bündnis aus Parteien und sozialen Bewegung unterstützt wird, und dem autoritär-populistischen Bauunternehmer Rodolfo Hernández. Unabhängig vom Wahlausgang braucht die kolumbianische Linke einen langen Atem, um den ersten Erfolgen einen tiefgreifenden Wandel folgen zu lassen.

In kaum einem Kommentar zu den Präsidentschaftswahlen in Kolumbien fehlt das Adjektiv «historisch». Noch nie war ein linker Kandidat so nah an der Präsidentschaft wie Gustavo Petro, der die ersten Wahlrunde am 29. Mai mit über 40 Prozent gewann. Am 19. Juni wird er gegen den Bauunternehmer Rodolfo Hernández antreten, der mit 28 Prozent in die Stichwahl einzieht.

Für die traditionellen Parteien und vor allem für den weit rechtsstehenden «Uribismus» ist das Ergebnis eine krachende Niederlage. Alvaro Uribe, in vielen Aspekten ein Vorläufer des aktuellen Rechtspopulismus, gewann 2002 seine erste Präsidentschaft mit absoluter Mehrheit. Seither war er die bestimmende Figur in der kolumbianischen Politik. Jetzt ist seine Partei zum erstmal nicht mehr in der Stichwahl vertreten, während sich Gustavo Petro gegenüber der letzten Wahl, als er mit 25 Prozent der Stimmen in die Stichwahl einzog, deutlich steigern konnte.

Ferdinand Muggenthaler lebt in Quito und leitet dort das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Andenregion. Das Büro unterstützt Projekte in Venezuela, Bolivien, Ecuador und Kolumbien.

Trotzdem überwog in der Linken zunächst das Gefühl der Enttäuschung. Das Wahlziel war, die absolute Mehrheit zu erreichen. Trotz gegenteiliger Umfragen glaubten viele Anhänger*innen bis zuletzt an einen Sieg in der ersten Runde. Außerdem scheint der Sieg in der zweiten Runde gegen den Überraschungsgegner Rodolfo Hernández, der sich als Outsider inszeniert und auch von Wandel spricht, schwierig.

Der TikTok-Opa

Wer ist der «Ingenieur», wie sich Hernández wegen seiner Ausbildung vom Bauingenieur gerne nennen lässt? Der 77-jährige ehemalige Bürgermeister der 500.000 Köpfe Stadt Bucaramanga war vielen Kolumbianer*innen vor der Wahl unbekannt, nur 60 Prozent gaben eine Woche vor der Wahl an, ihn zu kennen –  im Gegensatz zu 93 Prozent bei Gustavo Petro. Hernández setzte offenbar darauf, als unverbrauchtes Gesicht im letzten Moment das Feld von hinten aufzurollen. Er beteiligte sich nicht an Fernsehdebatten, hielt keine Wahlkampfversammlungen ab und zum Wahlkampfauftakt flog er nach Rom, um dem Papst die Hand zu schütteln. «Ich möchte den Heiligen Vater bitten, dass er mich erleuchtet», sagte Hernández in einem Video. Der Papst solle ihm Kraft und Segen schenken, um die korrupte Diebesbande von der Macht zu vertreiben. Damit war sein Thema gesetzt: Der Kampf gegen die Korruption. Seinen Wahlkampf führte er fast ausschließlich in sozialen Netzwerken und erklärte sich selbst zum König von TikTok.

Hernández wird oft als kolumbianischer Trump bezeichnet. Auch wenn es durchaus Ähnlichkeiten gibt, sind seine direkten Vorbilder wohl mehr der mexikanische Präsident Manuel Lopez Obrador, dessen Antikorruptionswahlkampf er zum Teil wörtlich kopiert, und der Präsident von El Salvador, Nayib Bukele, dessen Berater er sich ins Wahlkampfteam holte. Inzwischen berät ihn der ehemalige Wahlkampfmanager von Gustavo Petro. Gemeinsam haben sie Hernández Agenda auf zwei Themen zugeschnitten: Den Kampf gegen Korruption, laut Umfragen das für die Kolumbianer*innen größte Problem im Land, und auf Hernández Fähigkeiten als Unternehmer.

Die Strategie ging auf, in den letzten Wochen vor der Wahl steigerte er seine Anhängerschaft rasant und zog schließlich an den etablierten rechten und liberalen Kandidaten vorbei. Die Gefahr für Petro: Auch er spricht von Wandel und klagt die Korruption der Politelite an. Aber gegen Hernández wirkt Petro wie ein Teil des Establishments. Der Ex-Guerillero ist seit Jahrzehnten in der Politik aktiv und hat sich einen Namen gemacht, indem er die Verbindungen von Abgeordneten, Ministern und dem Ex-Präsidenten Uribe mit paramilitärischen Gruppen aufdeckte. Außerdem hat Federico Gutierrez, der Kandidat, auf den das rechte Politestablishment setzte und der mit 24 Prozent den Einzug in die Stichwahl verpasste, noch am Wahlabend zur Wahl von Hernández aufgerufen. Die beiden Kandidaten haben zusammen mehr Stimmen erhalten als Petro. Damit scheint die Mathematik gegen den linken Kandidaten zu sprechen.

So einfach geht die Rechnung allerdings nicht auf. Die Parteistrukturen sind längst nicht mehr so mächtig, dass sie Stimmen nach Belieben verschieben können. Und je bekannter Hernández wird, desto unglaubwürdiger werden auch sein Anti-System-Sprüche. Beispielsweise läuft gegen ihn ein Verfahren wegen Korruption aus seiner Zeit als Bürgermeister. Ein Video macht die Runde, in dem er einen Gemeinderat ohrfeigt, und in einem Audio sagt er einer Angestellten, die auf eine gesetzlich vorgeschriebene schriftliche Anweisung besteht, dass er sich mit dem Gesetz den Arsch abwischt.

Für manche ist diese Sprache sicherlich ein Beweis von Hernández Volksnähe. Aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass einige konservative Wähler*innen lieber zu Hause bleiben als einen Rüpel zu wählen. Andere, die aus Politikverdrossenheit auf ihn gesetzt haben, wenden sich jetzt doch lieber dem durchdachten Wandel zu, den Petro verspricht. Und so sagen die letzten Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen für die Stichwahl voraus.

Welcher Wandel?

Manche Medien kleben dem Wahlkampfduell das Etikett «linker Populismus gegen rechter Populismus» auf. Beide Kandidaten versprechen einen grundsätzlichen Wandel um die korrupte Politelite abzulösen und auch Petro ist auf TikTok. Aber darüber hinaus könnte der Kontrast kaum größer sein: Petro hat ein ausgearbeitetes Regierungsprogramm und stellt sich öffentlichen Debatten. Er argumentiert differenziert und zuweilen fast akademisch. Außerdem hat Petro schon lange Bündnisse in verschiede Lager gesucht, auch zu einzelnen Politiker*innen der etablierten rechten oder liberalen Parteien. Nicht nur um die Wahl zu gewinnen, sondern auch um nach einer Wahl die versprochenen Reformen auch umsetzen zu können. Zwar sind auch Petro und seine Vizepräsidentschaftskandidatin in sozialen Medien sehr präsent, aber die Stärke ihrer Kampagne sind nicht die Follower*innen auf TikTok, sondern hunderttausende Aktivist*innen – auch weil sie in den Wahllokalen die Auszählung beobachten, um Manipulationen zu verhindern.

Hernandez dagegen mobilisiert seine Anhänger in Whatsapp-Gruppen, nicht auf öffentlichen Plätzen. Er setzt weiter auf einen kleinen Kreis von Beratern und wehrt Allianzen ab, um sein Image als Outsider nicht zu gefährden. Auch wenn inzwischen die traditionelle Rechte mangels anderer Optionen auf ihn setzt, ist er selbst bisher offenbar nicht in ihre Strukturen eingebunden. Bündnisse im Parlament will er nicht suchen. Stattdessen hat er angekündigt, bei Amtsantritt sofort den Ausnahmezustand zu verhängen und solange per Dekret zu regieren, bis das Verfassungsgericht dieses Vorgehen für illegal erklärt.

Nicht links gegen rechts, sondern Leben gegen Tod

Das Etikett linker gegen rechter Populismus ist auch falsch, weil ein Teil des Erfolgs der Kampagne von Petro und Márquez ausmacht, dass beide sich nicht explizit als «links» oder «rechts» identifizieren. Insofern ist auch die Rede vom Sieg eines linken Kandidaten zu ungenau. Petro selbst spricht davon, die Kategorien links und rechts seien etwas für Europa. In Kolumbien dagegen gehe es um eine Politik des Lebens gegen eine Politik des Todes.

Der Hintergrund: Kolumbien ist von einer Geschichte und Gegenwart der politischen Gewalt traumatisiert. Es hat nicht nur 50 Jahre Bürgerkrieg mit der FARC-Guerilla hinter sich, der in einem brüchigen Friedensabkommen von 2016 beendet wurde. Paramilitärische Strukturen, die ursprünglich vor allem Aufstandsbekämpfung dienen sollten, sind weiter aktiv. Sie kontrollieren ganze Gebiete des Landes, bedrohen und ermorden vor allem linke Aktivist*innen und demobilisierte Guerillakämpfer*innen. Die Verstrickung von Politiker*innen, Armeeeinheiten und anderen staatlichen Strukturen mit den Paras ist durch zahlreiche Verfahren und journalistische Recherchen belegt. Der Übergang zwischen Paramilitärs und gewöhnlicher Drogenmafia ist fließend, aber beide könnten nicht ohne Verquickungen mit den lokalen wirtschaftlichen und politischen Eliten einen solch großen Einfluss ausüben.

Auf diese «Parapolitik» spielt Petro an, wenn er von einer Politik des Todes spricht. Die Gewaltgeschichte stellt aber auch ein Handicap für Petro da. Seine Gegner werden nicht müde zu betonen, dass er als Ex-Guerillero selbst Gewalt befürwortete. Er war Mitglied der Stadtguerilla M19, die mit einem Friedensabkommen 1984 ihre bewaffneten Aktionen vorläufig einstellte und sich 1990 endgültig demobilisierte. Dies scheint auch der Grund zu sein, weshalb Petro in den Umfragen nicht nur der Kandidat mit der stärksten Unterstützung, sondern auch mit den höchsten Ablehnungswerten war. Auf diesen «Anti-Petrismus» setzt jetzt die Hernández-unterstützende Kampagne von Rechts mit dem Slogan «Mejor ingeniero que guerrillero» («Besser Ingenieur als Guerillero»). Diese Kampagne wirkt bei jüngeren Wähler*innen sicher weniger als bei älteren, konservativen, die spektakuläre und blutige Guerillaaktionen miterlebt haben. Wie stark diese Anti-Petro-Slogans bei politisch nicht festgelegten Wähler*innen wirken, wird mit wahlentscheidend sein.

Vivir sabroso

Das linke Duo Petro und seine Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Márquez kommen also nicht um die Gewaltfrage herum, die in anderen Ländern in dieser Form keine Rolle spielt. Petros Kampagne unterscheidet sich aber auch in weiteren Fragen von klassischen linken Wahlkämpfen – und das nicht nur rhetorisch, sondern auch in ihrem Programm. Ihre wirtschaftspolitischen Vorhaben sind vor allem sozialdemokratisch, ähnlich wie die vieler linker Parteien in Lateinamerika. Aber Petro und Márquez stehen, anders als die meisten anderen erfolgreichen progressiven Politiker*innen in Lateinamerika, für eine klare ökologische und feministische Ausrichtung.

Ein Beispiel: Petro will keine neuen Erdölfelder erschließen. Im Kampf gegen die Klimakrise ein überfälliger Schritt, aber gegen den Trend der Politik jedweder Couleur in Südamerika. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln setzen die Regierungen auf dem Halbkontinent auf mehr Rohstoffexport, gerade wegen der steigenden Ölpreise im Zuge der russischen Invasion in die Ukraine. Daher brachte der Programmpunkt Petro sogar die Kritik des linken Präsidentschaftskandidaten in Brasilien, Ignacio Lula da Silva, ein. «Petro hat das Recht alles vorzuschlagen, was er will», so Lula, aber für Brasilien sei ein Verzicht auf neue Ölbohrungen nicht realistisch.

Während Petro selbst bisher nicht unbedingt für feministische, antirassistische und ökologische Politik stand, ist Francia Márquez hier die Protagonistin. Sie hat auch das Ziel des «vivir sabroso» (wörtlich «schmackhaft leben») in die Kampagne eingebracht – die afro-kolumbianische Entsprechung zum «bien vivir» (wörtlich «gutes Leben»), ein von indigenen Prinzipien inspiriertes Konzept in den Andenländern. Bei den Vorwahlen schnitt sie überraschend stark ab und so kam Petro nicht an ihr als Vize vorbei.

Márquez steht auch mit ihrer persönlichen Geschichte für ihr Programm: In einer afro-kolumbianischen Gemeinde aufgewachsen, arbeitete sie als Jugendliche im traditionellen, handwerklichen Goldbergbau. Mit 16 wurde sie zum ersten Mal Mutter. Als Alleinerziehende arbeitete sie später in der Stadt als Hausangestellte und studierte Jura. Als Aktivistin und Anwältin setzte sie sich erfolgreich gegen die Vertreibung ihrer Herkunftsgemeinde ein, die großtechnischem Bergbau weichen sollte. Die Regierung hatte ohne vorherige Konsultation mit der Gemeinde Bergbaulizenzen unter anderem an den südafrikanischen Bergbaukonzern AngloGold Ashanti vergeben.

Über die Wahlen hinaus

Allein, dass mit Francia Márquez eine schwarze Umweltaktivistin bei den Vorwahlen den zweiten Platz und die drittmeisten Stimmen von allen Bewerber*innen erreichte, ist ein Zeichen eines gesellschaftlichen Umbruchs im konservativen Kolumbien. Es spricht also viel dafür, dass wir den Beginn eines tiefgreifenden Wandels erleben. Die Wahlen sind dabei nur ein Baustein. Ob sie das Adjektiv «historisch» verdienen, hängt davon ab, wie der Veränderungsprozess, der vor den Wahlen begann, nach den Wahlen weitergeht. Und das hängt nicht nur davon ab, ob am 19. Juni Petro oder Hernández gewinnt.

Eine entscheidende Rolle wird spielen, ob die sozialen Bewegungen, fortschrittlichen Parteien und kulturellen Milieus, die sich in der Kampagne des «historischen Pakts» – so heißt das Wahlbündnis von Petro und Márquez – zusammengefunden haben, weiter zusammenarbeiten werden. Ob sie gemeinsam, unabhängig von der Person Gustavo Petro und in all ihrer Diversität, den kulturellen und politischen Wandel hin zum «vivir sabroso» vorantreiben können, hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, mehr Demokratie und einer Produktionsweise, die die natürlichen Lebensgrundlagen erhält. Oder ob das lose Bündnis zerfällt, sich Sektierertum breitmacht und die Fixierung auf einzelne Führungspersonen auch in der Linken die Oberhand gewinnt. «Los cambios no nacen ni mueren en las urnas», schrieb der Julian Alvarán von der linken Zeitschrift «Periferia» treffend: «Der Wandel wird weder in den Wahlurnen geboren, noch stirbt er dort.»