Nachricht | Krieg / Frieden - Türkei Über die angedrohte Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien

Lässt sich der angekündigte Einmarsch noch mit diplomatischen Mitteln aufhalten?

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Axel Gehring,

Türkisch-Syrische Grenze bei Qamischli (Nusaybin), Rojava
Türkisch-Syrische Grenze bei Qamischli (Nusaybin), Rojava, CC BY-SA 2.0, William John Gauthier, via Flickr

Die AKP-Regierung hatte die letzten Parlamentswahlen in der Türkei bewusst auf das Jahr 2018 vorverlegt. Sie fanden damals zusammen mit der Präsidentschaftswahl statt. So wollte die Regierung einerseits der sich absehbar verschärfenden Wirtschaftskrise zuvorkommen, andererseits war sie bestrebt, die erfolgreiche Eroberung des kurdischen Afrin im Nordwesten Syriens durch das türkische Militär politisch für sich zu verbuchen. Sie konnte damals die Wahlen für sich entscheiden. Seither hat die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten weiter zugenommen, unlängst hat sich im Zuge des Ukrainekriegs die schon länger anhaltende Wirtschaftskrise noch weiter zugespitzt. Nach offiziellen Angaben liegt die Inflationsrate in der Türkei bei nunmehr über 70 Prozent. Außenpolitisch tritt die türkische Regierung derweil selbstbewusst auf und blockiert die NATO-Beitrittswünsche Finnlands und Schwedens. Zugleich kündigte sie an, alle Vorbereitungen für eine erneute «Militäroperation» in Nordsyrien abgeschlossen zu haben.

Autoritäre Stabilisierung des Systems, aber fortgesetzte Krise der AKP

Die AKP hat in den letzten Jahren zudem Vorsorge getroffen, um trotz sinkender Zustimmung weiterhin an der Regierung zu bleiben. Dazu gehören zahlreiche repressive Maßnahmen, aber auch der Umbau des politischen Systems etwa durch Verfassungsänderungen, die eine exekutive Präsidentschaft einführten und das Parlament geschwächt haben. Hierzulande weniger bekannt ist die etwa zeitgleich geschaffene Möglichkeit, parteienübergreifende Wahllisten zu bilden. Ursprünglich wollte sie sich selbst so durch das Kooptieren von Parteien der politischen Rechten im Bündnis des Volkes (Cumhur İttifakı), den Status als stärkste Fraktion im Parlament sichern bzw. dort Partner zur Verfügung haben. Doch auch die kemalistische CHP nutzte die Möglichkeit, rechte Kleinparteien zu kooptieren, und hatte bei den letzten Wahlen das Bündnis der Nation (Millet İttifakı) gegründet. In der weit nach rechts verschobenen politischen Parteienlandschaft verfügt weder die AKP über die Möglichkeit instrumentell-taktischer Arrangements mit der HDP, noch hat dies die CHP. Die HDP bleibt als linke Partei mit organischen Beziehungen zur kurdischen Bewegung auf absehbare Zeit politisch isoliert. Als parlamentarische Mehrheitsbeschafferin kommt sie nicht infrage. Forderungen sozialer Bewegung finden derweil kaum Repräsentanz im Parlament. Zudem ist keineswegs gesichert, dass bei einem Wahlsieg der kulturell weit ins Konservative gerückten CHP die neue Regierung die zahlreichen Gesetzes- und Verfassungsänderungen wieder rückgängig machen würde.

In dieser Situation – gekennzeichnet von einer fortgesetzten Krise der AKP und einer autoritären Stabilisierung des politischen Systems – avancierten Fragen der Wirtschaftspolitik zu Hauptkonfliktpunkten der parlamentarischen Akteure. Während wichtige Teile der AKP, allen voran Präsident Erdoğan, seit Jahren die neoliberale Orthodoxie vor allem auf dem Gebiet der Geldpolitik infrage stellen, fordert die CHP als wichtigste bürgerliche Oppositionspartei ihrer Tendenz nach eine Rückkehr zu der strikten neoliberalen Ausrichtung der 2000er-Jahre. Die erste Position bedeutet die Stärkung der bereits vorhandenen Tendenz hin zu einer nationalistisch verbrämten Importsubstitution unter dem Schlagwort «national und lokal», die zweite ist auf eine vertiefte wirtschaftliche Integration in die Europäische Union bedacht. Die meisten Kapitalakteure positionieren sich derweil ihren komplexen Geschäftsinteressen folgend zwischen diesen beiden politischen Polen. Während die Strategien zur Bewältigung der Wirtschaftskrise im Machtblock kontrovers diskutiert werden, sind sie allesamt mit hohen Anpassungskosten verbunden, die in jedem Fall die türkische Bevölkerung zu tragen hätte. Obwohl ökonomische Fragen die breite Bevölkerung so stark berühren wie seit Jahrzehnten nicht mehr, könnte es sich für die beiden konkurrierenden Parteienbündnisse als schwierig erweisen, auf dem Feld der Wirtschaftspolitik Wahlen zu gewinnen. Auch die HDP tut sich mit der Formulierung von Alternativen schwer.

Eine große Einigkeit zwischen den konkurrierenden Lagern herrscht derweil in Bezug auf die kurdische Frage und die damit verbundene Außenpolitik: Demnach stellen die autonomen kurdischen Gebiete der Demokratischen Konföderation Nordsyrien/Rojava eine Bedrohung für die Sicherheit der Türkei dar. Uneinigkeit besteht unter den verschiedenen türkisch-nationalistischen Akteuren allerdings hinsichtlich der Frage, ob die Konföderation als eine mit als Washington, Damaskus oder Moskau verbündete Kraft zu betrachten ist. Der außenpolitische Diskurs wirkt dadurch pluraler, als er es im Grunde ist. Auch das trägt zur autoritären Stabilisierung des politischen Systems in der Türkei bei.

NATO-Erweiterung gegen Invasionserlaubnis?

Tatsächlich kann vor dem Hintergrund eines sehr weitreichenden nationalistischen Konsenses am besten punkten, wer ihn am effektivsten in außenpolitisches Handeln übersetzt. Das kann qua Amt nur die Regierung und damit die AKP. Die Invasion der Ukraine durch Russland bietet dazu einmal mehr viele Gelegenheiten. International findet derzeit vor allem das türkische Veto gegen einen NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands die größte Beachtung. Zunächst zeigte sich die AKP-Regierung mit dem Umgang der schwedischen Regierung mit der PKK unzufrieden, offenkundig will sie dort ein ähnlich strikt gehandhabtes Organisationsverbot wie in Deutschland durchsetzen.

Doch inwieweit eine Erlaubnis zum Einmarsch in Nordsyrien überhaupt mit der Frage der geplanten NATO-Erweiterung verknüpft ist, ist derweil unklarer, als es auf den ersten Blick erscheint. Mehrere Faktoren gilt es zu bedenken: Bei den vorhergehenden Invasionen Nordsyriens (2018 und 2019) verfügte die Türkei über keinerlei Druckmittel dieser Art. Sie fanden trotzdem statt. Allerdings wurden die USA damals von Donald Trump regiert, der angekündigt hatte, das US-Engagement in Syrien zurückzufahren. Ebenfalls zu bedenken ist, dass nicht nur die USA die Rolle einer De-facto-Garantiemacht der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien/Rojava wahrnehmen, sondern dies auch auf Russland zutrifft. Die Vorstellung, dass Russland im Gegenzug für deren Zustimmung zu einer weiteren NATO-Erweiterungsrunde der türkischen Regierung das Okay gibt für eine erneute Invasion Syriens, mutet reichlich absurd an.

Die politischen Ziele der angekündigten Militäroffensive der Türkei gleichen im Großen und Ganzen den Zielen der letzten Offensive von 2019: die Eroberung einer 30 Kilometer tiefen Zone entlang ihrer Südgrenze. Diese war dem türkischen Militär 2019 nur zum Teil gelungen. Unter dem Druck der Invasion hatte damals die Autonome Administration allerdings einer Übereinkunft mit Damaskus und Russland zugestimmt. Dieses sogenannte Sotschi-Abkommen ermöglichte es russischen und syrischen Regierungstruppen, an manchen Stellen bis an die türkische Grenze vorzurücken. So wurde damals die vollständige Eroberung der 30-Kilometer-Zone durch die türkischen Truppen und ihre islamistischen und dschihadistischen Bündnispartner abgewendet. Dennoch waren die Gebietsverluste erheblich und die ökonomischen Auswirkungen spürbar: Insbesondere die Gebiete nahe der türkischen Grenze sind landwirtschaftlich von Bedeutung, weiter im Süden beginnt die Wüste. Die anvisierte 30-Kilometer-Zone hätte damit unmittelbare Auswirkungen auf die Ernährungssouveränität Nordsyriens/Rojavas. Bereits die türkischen Eroberungen von 2018 und 2019 haben diese erheblich geschwächt. Je schwächer sie ist, desto mehr muss sich die Autonome Administration an ihre De-facto-Garantiemächte USA und Russland anlehnen und desto schlechter ist ihre Verhandlungsposition gegenüber Damaskus, wenn es darum geht, eine Nachkriegsordnung für Syrien auszuhandeln. Auch deshalb konnten sich Damaskus und die Autonome Administration in dieser Frage bislang nicht vertragseinig werden. Bei aller Gegnerschaft des syrischen Baath-Regimes zur Türkei: Es profitiert indirekt von einer Schwächung der Autonomen Administration durch die Türkei. Dennoch ist der Preis dafür eine direkte Okkupation grenznaher Regionen und damit nicht das Mittel der ersten Wahl. Für die Autonome Administration bedeutet die Zwangslage darüber hinaus, dass sie von den verschiedenen türkischen nationalistischen Strömungen noch einfacher als die Handlanger der USA oder Russlands dargestellt werden können oder von islamistischer Seite als Büttel des Baath-Regimes. Dies hilft der türkischen Regierung bei der innenpolitischen Legitimation weiterer Offensiven.

Mit der gezielten Ansiedlung von Geflüchteten aus Syrien in den okkupierten Gebieten versucht die AKP nicht nur, ein Stück weit der anti-migrantischen Stimmung in der Türkei nachzugeben. Sie dient auch dazu, einen demografischen Wandel in Nordsyrien herbeizuführen und damit eine kurdische Autonomie dauerhaft zu verhindern. Zudem flüchteten infolge der Offensiven von 2018 und 2019 erhebliche Teile der lokalen kurdischen Bevölkerung aus der Region, weil sie nicht unter den islamistischen und dschihadistischen Okkupationskräften leben wollen.

Bislang wurde die Autonomie Nordsyriens/Rojavas ratenweise abgewickelt. Die Raten an die Türkei, aber auch an Damaskus wurden dabei immer dann fällig, wenn die jeweilige internationale Konjunktur dies erlaubte. Im Falle eines weiteren türkischen Angriffs dürfte eine vollständige Eroberung Nordsyriens/Rojavas auch dieses Mal eher unwahrscheinlich sein. Die türkische Regierung hat die militärischen Offensiven in Syrien bislang bewusst territorial und zeitlich begrenzt gehalten und sie gestoppt, wenn sie ihr politisch zu riskant wurden. So konnte sie die Selbstverwaltung der Kurd*innen schwächen, aber zugleich den Konflikt mit den beiden Garantiemächten Russland und den USA nicht zu sehr eskalieren lassen.

Im Unterschied zur Trump-Regierung, die bereits Ende 2018 einen Truppenabzug aus Syrien ankündigte, gibt es solche Signale seitens der Biden-Administration nicht. Die (reduzierte) militärische Präsenz der USA in Ostsyrien steht bislang nicht zur Disposition. Im Kontext des gegenwärtigen Ukrainekriegs stellt sich vor allem die Frage, inwieweit sich die Türkei als NATO-Mitglied dieses Mal um eine Vermittlung der widerstreitenden russischen und US-amerikanischen Interessen bemüht. Nachdem die Invasion 2019, gebilligt von damaligen US-Präsidenten Trump, vor allem die russische Position in Nordsyrien stärkte, könnte das Pendel bei einer neuerlichen militärischen Intervention in eine andere Richtung ausschlagen. Russische Kräfte sind gegenwärtig in großem Umfang in der Ukraine gebunden. Die AKP könnte versuchen, westliche Unterstützung für die Invasion einzuwerben, indem sie ihren Angriff als etwas darstellt, das dabei helfen könnte, den Einfluss Russlands in der Region zurückdrängen. Ein solches Manöver würde auf der Annahme basieren, Russland könne gewillt sein, sich aus Syrien zurückzuziehen, um die dort stationierten Kräfte im Ukrainekrieg einzusetzen. Es ist allerdings fraglich, ob dies für den Ausgang des Ukrainekriegs ausschlaggebend wäre. Zuletzt hat die russische Regierung die Truppenpräsenz nahe der türkischen Grenze verstärkt.[1]

Zudem könnte Russland auf eine weitere Invasion mit Wirtschaftssanktionen gegenüber der Türkei regieren, genauso, wie es Energieexporte in einige europäischen Staaten bereits von sich heraus eingestellt hat. Man denke zudem an das «Tourismusembargo» von 2015. Bis heute beteiligt sich die Türkei trotz ihrer Waffenlieferungen an die Ukraine nicht an der westlichen Sanktionspolitik zur Bestrafung Russlands. Denn ihre ökonomischen Spielräume sind deutlich geringer. Die AKP muss aufpassen, dass die für sie nutzbringenden Effekte eines erneuten kriegerischen Angriffs in Nordsyrien nicht durch eine Verschärfung der Wirtschaftskrise zuhause zunichtegemacht werden. Inwieweit und in welcher Form die Türkei in der Lage ist, in Nordsyrien gegen westliche Interessen zu agieren, hängt wiederum entscheidend davon ab, welchen Charakter ihre Einbindung in die regionalen politischen und ökonomischen Strukturen der transatlantischen Ordnung hat. Über eine ausgearbeitete Strategie, wie diese Ordnung zu transformieren wäre, verfügt sie übrigens nicht. Hier blockieren sich die konkurrierenden Parteiblöcke gegenseitig und sind von feinen inneren Friktionslinien durchzogen.[2]

Würde die türkische Regierung Russland mehr entgegenkommen, um eine Invasionsgenehmigung für Nordsyrien zu erlangen, würde sie sich in einen direkten Konflikt mit westlichen Interessen begeben. Das Austarieren dieser konkurrierenden Interessen dürfte für die Türkei durch den Ukrainekrieg ungleich schwieriger geworden sein. Genau dies eröffnet aber auch eine Chance für die westlichen Staaten, die angekündigte Militäroffensive noch vor ihrem Beginn mit diplomatischen Mitteln zu stoppen. Eine Voraussetzung hierfür wäre unter anderem, die simplizistische geopolitische Vorstellung der Abhängigkeit Europas von der Türkei an seiner Ostflanke zu hinterfragen. Bislang verbaut diese den Weg hin zu alternativen diplomatischen Optionen, zu denen auch gehört, die Selbstverwaltungsrechte lokaler Bevölkerungen zu garantieren.


[1] Siehe Tasketin, Fehim: The stumbling blocks facing Turkey’s new operation plan in Syria, Al-Monitor, 30.5.2022.

[2] Kayserilioğlu, Alp: «Kartoffeln, Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan»? Hegemoniekämpfe in der Türkei, in re:volt magazine, 5.5.2022.