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Michael Rothberg über die Zusammenhänge zwischen dem Holocaust, dem Kampf um die algerische Unabhängigkeit und dem 17. Oktober 1961

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Autor

Andreas Bohne,

Foto: David Wu, UCLA Alan D. Leve Center for Jewish Studies

Am 17. Oktober 1961, auf dem Höhepunkt des algerischen Unabhängigkeitskrieges, protestierten 30.000 algerische Anhänger der Nationalen Befreiungsfront (FLN) in Paris gegen eine von den französischen Behörden verhängte Ausgangssperre für «französische Muslime algerischer Herkunft». Der Polizeipräfekt Maurice Papon, der als Beamter des kollaborierenden Vichy-Regimes 20 Jahre zuvor für die Deportation der französischen Jüdinnen und Juden verantwortlich gewesen war (ein Verbrechen, für das er erst Jahrzehnte später zur Rechenschaft gezogen werden sollte), hatte zu der Ausgangssperre aufgerufen.

Michael Rothberg lehrt Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaft an der UCLA. Sein neuestes Buch ist: «The Implicated Subject: Beyond Victims and Perpetrators» (Stanford University Press, 2019).

Die gewaltsame Reaktion des Staates auf die Proteste kostete bis zu 200 Algerier*innen das Leben – einige Historiker*innen schätzen die Zahl weit höher ein. Eine Reihe von Opfern wurde in die Seine geworfen. Zehntausende Algerier*innen wurden zum Teil tagelang inhaftiert. Das Massaker verschwand anschließend für Jahrzehnte aus dem kollektiven Gedächtnis und wurde erst in den letzten Jahren durch Aktionen von Opferverbänden und Historiker*innen wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Emmanuel Macron war der erste französische Präsident, der im vergangenen Jahr an einer Gedenkveranstaltung teilnahm.

Sechzig Jahre später sind die Zusammenhänge zwischen der französischen Kolonialisierung und Unterdrückung in Algerien und der Mitschuld des Staates an den nationalsozialistischen Gräueltaten für Historiker*innen unübersehbar geworden. Um diese Zusammenhänge näher zu beleuchten, sprach Andreas Bohne von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Michael Rothberg, einem führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Holocaust-Erinnerung und Autor von «Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung» (Stanford University Press, 2009; Metropol-Verlag, 2021).

In den Diskussionen über Ihr Buch «Multidirektionale Erinnerung» in Deutschland geht es vor allem um den Zusammenhang zwischen Holocaust, (deutschen) Kolonialverbrechen und Rassismus. Ihre Kapitel zum 17. Oktober 1961 werden dagegen kaum wahrgenommen. Können Sie uns etwas mehr über die multidirektionalen Zusammenhänge zwischen der Dekolonisierung am Beispiel der algerischen Unabhängigkeit, dem Verbrechen des 17. Oktober 1961 und dem Holocaust erzählen?

Sie haben Recht, dass die Diskussionen über das multidirektionale Gedächtnis in Deutschland, zumindest die kritischen – sich nie mit den Abschnitten des Buches über die algerische Revolution beschäftigt haben. Und doch machen diese Abschnitte die Hälfte des Buches aus – und sind der Schlüssel zur Veranschaulichung dessen, was ich mit der Dynamik der multidirektionalen Erinnerung meine. Bevor ich mit dem Buch begann, wusste ich nichts über die Verbindungen zwischen antikolonialen Kämpfen wie in Algerien und der Entwicklung der Erinnerung an den Holocaust. Ich bin im Grunde genommen im Zuge meiner Recherchen über die Schriften der Auschwitz-Überlebenden Charlotte Delbo darauf gestoßen. Dann stieß ich auf den Film «Chronik eines Sommers» von Jean Rouch und Edgar Morin aus dem Jahr 1961, die ich beide ausführlich bespreche.

Es gibt einige Zusammenhänge, die hervorzuheben sind. Da ist zunächst die offensichtliche historische Nähe: Der algerische Unabhängigkeitskrieg wird gewöhnlich auf 1954 datiert - mit anderen Worten, er begann weniger als ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung Frankreichs durch die Nazis. Betrachtet man die Aufstände und Massaker an Algerier*innen, die ab Mai 1945 in Sétif und Guelma stattfanden, kann man eine noch stärkere zeitliche Kontinuität zwischen dem Weltkrieg und dem französisch-algerischen Krieg feststellen. Wichtiger als diese genauen Daten ist jedoch die Tatsache, dass es Millionen von Menschen gab, die beide Ereignisse miterlebt hatten – die also noch frische Erinnerungen an die Nazi-Besetzung während des Algerienkonflikts hatten.

In den öffentlich artikulierten Erinnerungen dieser Menschen – vor allem Französinnen und Franzosen, die im Widerstand aktiv waren und sogar in Nazi-Lager deportiert wurden – lässt sich eine multidirektionale Dynamik erkennen, die den Holocaust und die Nazi-Besetzung mit dem Entkolonialisierungskrieg und dem Massaker vom 17. Oktober verbindet. Und warum? Weil sie einige gemeinsame Formen der Gewalt zwischen den ansonsten sehr unterschiedlichen Ereignissen erkannten: Die Franzosen trieben Algerier*innen zusammen und deportierten sie aus Frankreich, hielten zwei Millionen Algerier*innen in Lagern und folterten Hunderttausende. Es gibt berühmte Fälle von Menschen, die von der Gestapo gefoltert worden waren und die Folterungen durch den französischen Staat als Echo ihrer eigenen Erfahrungen empfanden. Dasselbe gilt für die Anwesenheit von Konzentrationslagern, von denen Delbo ebenfalls spricht.

Aus historischer Sicht sind der Völkermord der Nazis an den Juden und der brutale Versuch Frankreichs, sein Imperium aufrechtzuerhalten, natürlich nicht dasselbe – und tatsächlich hat niemand behauptet, dass sie identisch sind. Vielmehr sagten sie, dass die Ereignisse der 1950er und 1960er Jahre sie an die Geschehnisse unter den Nazis erinnerten.

Das zeigt sich schon in der frühen Berichterstattung linker Journalist*innen über das Massaker vom 17. Oktober 1961. Die Tausende von Algerier*innen, die in dieser Nacht verhaftet wurden, wurden in ähnlichen – manchmal sogar identischen – Einrichtungen festgehalten, wie die Juden beispielsweise nach der berüchtigten «Rafle du Vél d'Hiv» (der Razzia gegen «ausländische» Juden durch die französische Polizei im Juli 1942) festgehalten worden waren. Die Zeitung der Neuen Linken «France-Observateur» veröffentlichte ein Bild von inhaftierten Algerier*innen mit der Bildunterschrift «Erinnert Sie das nicht an etwas?» Die «Libération» veröffentlichte ebenfalls ein Bild von Algerier*innen, die von Paris zurück nach Algerien deportiert wurden, mit der Schlagzeile «Abflug von Orly zu Lagern in Algerien; Drancy in anderen Zeiten» - eine Anspielung auf das Lager, aus dem Juden von den Nazis nach Osten deportiert wurden.

Was mich an solchen Beispielen interessiert, ist nicht nur, dass sie eine Verbindung zwischen dem Holocaust und dem Algerienkrieg herstellen, sondern auch, was sie uns über die Dynamik der Erinnerung sagen. Besonders bedeutsam ist meiner Meinung nach, dass diese «multidirektionalen» Verbindungen um 1961 hergestellt wurden. In den Standardgeschichten der Holocaust-Erinnerung gilt das Jahr 1961 aufgrund der globalen Auswirkungen des Eichmann-Prozesses in Jerusalem als Wendepunkt. Dies ist der Moment, in dem die Erinnerung an den Holocaust in wirklich prominenter Weise und auf transnationaler Ebene öffentlich artikuliert wurde.

Bei der Arbeit an dem französisch-algerischen Material stellte ich fest, dass es noch eine andere Geschichte über die Entstehung der Holocaust-Erinnerung zu erzählen gab, eine, die sie in eine größere Dynamik mit der Entkolonialisierung einordnete – eine Geschichte, die, wie ich in dem Buch zeige, auch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in Schriften von Leuten wie Hannah Arendt und Aimé Césaire zurückverfolgt werden kann. Es ging nicht nur darum, dass die Verweise auf den Holocaust und die Nazi-Besatzung dazu dienten, die Aufmerksamkeit auf die algerischen Ereignisse zu lenken, sondern auch darum, dass die algerischen Ereignisse, zumindest in Frankreich, ein stärkeres öffentliches Gedenken an den Holocaust anregten.

Bemerkenswert an diesen multidirektionalen Verbindungen ist auch, dass sie Jahrzehnte vor dem Wissen entstanden, dass Maurice Papon, der für das Massaker von 1961 verantwortliche Polizeichef, ebenfalls ein Nazi-Kollaborateur war, der während der Besatzung Jüdinnen und Juden in den Tod deportierte. Als dies in den 1980er Jahren bekannt wurde, führte dies natürlich zu noch mehr multidirektionalen Verbindungen.

Ihr Buch behandelt den 17. Oktober nicht nur durch zeitgenössische Quellen wie Artikel, sondern auch durch Literatur. Was ist der Vorteil dieses Ansatzes?

Nun, ich bin Literaturkritiker. Ich glaube, dass literarische und andere kulturelle Quellen wichtige Einblicke in Geschichte, Politik und das kollektive Gedächtnis geben können. Natürlich unterscheiden sich literarische Quellen von Archivquellen, aber das heißt nicht, dass sie nicht auch Vorteile haben. Im Falle von Geschichten, die lange Zeit an den Rand gedrängt wurden, wie das Massaker vom 17. Oktober, bieten Literatur und Film oft Zugang zu Geschichten, die in den üblichen «wissenschaftlichen» oder «offiziellen» Quellen nicht zu finden sind.

Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass der 17. Oktober nach den ersten Wochen, in denen das Massaker in der Presse ausführlich behandelt wurde – einschließlich vieler der oben beschriebenen multidirektionalen Verweise – für zwei oder drei Jahrzehnte in Vergessenheit geriet. Doch 1963 veröffentlichte der afroamerikanische Schriftsteller William Gardner Smith den Roman «The Stone Face», in dem das Massaker auf der Grundlage von Augenzeugenberichten des Autors detailliert beschrieben wird. Interessant ist auch, dass der Roman nicht nur die Perspektiven des afroamerikanischen Protagonisten und der Algerier*innen in Paris, die er kennenlernt, zusammenführt, sondern auch eine jüdische Holocaust-Überlebende aus Polen, die die Liebe des Protagonisten ist, in den Vordergrund stellt. Es handelt sich um ein multidirektionales Werk, das lange vor der Rückkehr der Ereignisse in das öffentliche Bewusstsein und vor der Erstellung der offiziellen Geschichtsschreibung erschien.

In ähnlicher Weise wurde die Rückkehr der Ereignisse ins öffentliche Bewusstsein auch von prominenten kulturellen Werken wie Didier Daeninckxs Roman «Meurtres pour mémoire» von 1984 und Leila Sebbars Roman «La Seine était rouge» von 1999 oder Michael Hanekes Film «Caché» von 2005 begleitet – die ich alle in meinem Buch als multidirektional beschreibe.

Sie verwenden die Begriffe «Solidarität» und «Komplizenschaft», um die Komplexität der multidirektionalen Erinnerung zu erfassen. Welche Bedeutung hat diese Dichotomie für Ihre Analyse?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich Solidarität und Komplizenschaft wirklich als eine Dichotomie betrachte. Das ist eine der Lehren, die ich aus meinem jüngsten Buch «The Implicated Subject» gezogen habe.

Es stimmt, dass sinnvolle Solidarität in einem politischen Kampf nur mit bestimmten Menschen und gegen andere bestehen kann – es gibt also so etwas wie eine Dichotomie. Aber die Arten von Solidarität, die mich besonders interessieren, geben nicht vor, dass sie den Problemen der Komplizenschaft völlig entgehen können. Anstelle von «Komplizenschaft» spreche ich in meiner neueren Arbeit von «Implikation» und «implizierten Subjekten» und versuche, den Rahmen von «Opfern, Tätern und Zuschauern» zu ergänzen und zu verändern, der vor allem in den Holocaust-Studien nach wie vor vorherrscht.

Mein Konzept des «implizierten Subjekts» soll Menschen beschreiben, die Gewaltgeschichten und Strukturen der Ungleichheit ermöglichen, aufrechterhalten, von ihnen profitieren oder sie erben, ohne selbst direkte Täter*innen zu sein und ohne diese Geschichten und Strukturen initiiert oder kontrolliert zu haben. Ich ziehe Implikation der Komplizenschaft vor, weil es uns aus dem juristischen Bereich herausführt und weil ich glaube, dass es für Fragen der historischen Verantwortung besser funktioniert – man kann in Ereignisse verwickelt sein, die vor der eigenen Geburt stattfanden (man denke an junge Deutsche im Zusammenhang mit dem Holocaust), aber man kann nicht an diesen Ereignissen mitschuldig sein.

Darüber hinaus behaupte ich, dass viele Menschen «komplex verwickelt» sind – das heißt, sie haben Verbindungslinien zu Geschichten, in denen sie sowohl Opfer als auch Täter geworden sind. In diesem Zusammenhang bedeutet Solidarität die Schaffung von Bindungen zwischen Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen Beziehungen zu den betreffenden Themen. Nehmen wir zum Beispiel den strukturellen Rassismus: Wenn sich weiße Menschen an den Kämpfen gegen Rassismus beteiligen wollen, werden sie dies notwendigerweise aus einer Position der Verwicklung (oder «Komplizenschaft», wenn Sie so wollen) tun. Solidarität wird nur möglich sein, wenn diese Verwicklung bzw. Komplizenschaft anerkannt und aufgearbeitet wird. Solidarität und Komplizenschaft stellen also keine Dichotomie dar, sondern ein Spannungsfeld, in dem sich Politik notwendigerweise entfaltet.

Sie überschreiben Ihr Kapitel vom 17. Oktober 1961 « Ein Ort des Holocaustgedenkens?» mit einem Fragezeichen. Wie lautet die Antwort?

Ich habe das Fragezeichen gesetzt, weil mir klar ist, dass diese Behauptung in mehrfacher Hinsicht provokant ist.

Ich möchte auf keinen Fall behaupten, dass der 17. Oktober in erster Linie mit dem Holocaust zu tun hat. Wenn man bedenkt, wie lange die Erinnerung an das Massaker in Frankreich an den Rand gedrängt wurde, liegt es auf der Hand, dass der 17. Oktober zunächst als Ort der spätkolonialen Erinnerung etabliert werden muss – was in den letzten Jahren endlich geschehen ist, wie meine Kollegin Lia Brozgal in ihrem wunderbaren Buch «Absent the Archive» zeigt.

Außerdem würde ich nicht behaupten, dass es sich um einen zentralen Ort der Erinnerung an den Holocaust handelt, wie es beispielsweise Drancy in Frankreich ist. Und dennoch würde ich die Frage mit einem vorsichtigen «Ja» beantworten: Der 17. Oktober 1961 ist auch ein Ort der Erinnerung an den Holocaust. Ich sage das vor allem wegen der multidirektionalen Dynamik, die ich vorhin beschrieben habe: Für viele Menschen, die dieses Ereignis miterlebten, rief es Erinnerungen aus der nicht allzu fernen Vergangenheit der Nazi-Besatzung und des Völkermords wach. Zusammen mit dem größeren Kontext des algerischen Unabhängigkeitskrieges regte das Massaker vom 17. Oktober die Erinnerung an verschiedene Aspekte des Holocausts an, die zu diesem Zeitpunkt nicht regelmäßig öffentlich geäußert wurden.

Zweitens lehrt uns der 17. Oktober etwas über die Kontinuitäten zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt. Das ist in Deutschland umstritten, aber ich spreche hier von einer unwiderlegbaren empirischen Tatsache: Der Hauptverantwortliche für das Massaker von 1961 war auch ein Holocaust-Täter. Maurice Papons Karriere bewegte sich nahtlos zwischen der Beteiligung am nationalsozialistischen Völkermord und der Ausübung von Gewalt in kolonialen Kontexten, sowohl in Algerien als auch in Frankreich.

Mit dem Wissen, das wir im Nachhinein gewonnen haben, als Papon in den 1980er Jahren als Nazi-Kollaborateur «geoutet» wurde, haben wir die Möglichkeit, die Erinnerung an die Shoah zu korrigieren und zu erkennen, dass wir den Völkermord neben dem Kolonialismus erinnern können – und müssen. Eine solche Erinnerung erfordert keine «Gleichsetzung» dieser sehr unterschiedlichen Geschichten oder die Behauptung, der Holocaust sei ein «kolonialer Völkermord», was nicht mein Argument ist. Ein multidirektionales Gedächtnis ermöglicht das, was ich eine «differenzierte Solidarität» nenne – eine Solidarität, die nicht auf Identität, sondern auf der Anerkennung von Unterschieden zwischen unmittelbaren Ereignissen beruht.

Sie selbst betonen, dass die französische Linke das Massaker marginalisiert hat. Worauf stützen Sie diese Behauptung?

Unmittelbar nach dem Massaker wurde in einigen Teilen der linken Presse viel darüber berichtet, aber bald verschwanden die Ereignisse für Jahrzehnte weitgehend aus der öffentlichen Diskussion. Dies geschah aus einer Vielzahl von Gründen, darunter die wenig überraschende Zurückhaltung des französischen Staates, über seine eigene Unterdrückung zu sprechen, die noch überraschendere Zurückhaltung der algerischen Regierung nach 1962, des Massakers zu gedenken, da sie sich auf den Aufbau eines neuen, unabhängigen Staates konzentrierte, und, ja, auch das Schweigen der französischen Linken in den dazwischenliegenden Jahren.

Für die Linke war einer der Faktoren die Tatsache, dass sich nur wenige Monate nach dem 17. Oktober ein weiteres schockierendes Beispiel von Polizeigewalt ereignete: die Ermordung von neun französischen Linken in der Metrostation Charonne während einer Antikriegsdemonstration. Die Opfer dieser Brutalität wurden zu Märtyrern und ihr Andenken überlebte das der viel zahlreicheren algerischen Opfer des 17. Oktober bei weitem.

Sie sind weder Algerier noch Franzose, aber Sie schreiben, dass der 17. Oktober eine «Quelle möglicher zukünftiger Versöhnung» sein könnte. Worauf stützen Sie diese Behauptung?

Ich bin in der Tat weder Algerier noch Franzose, und ich versuche nicht, für eine der beiden Gruppen zu sprechen – oder für irgendjemanden außer mir selbst.

Ich denke, Sie spielen auf meine Besprechung von Leila Sebbars «La Seine était rouge» an, einem Roman für junge Erwachsene, in dem es um die Weitergabe der Erinnerung – oder das Scheitern der Weitergabe der Erinnerung – an den 17. Oktober in einer französisch-algerischen Familie geht. In diesem letzten Abschnitt von Multidirektionale Erinnerung biete ich eine Interpretation von Sebbars Roman, die meiner Meinung nach die Konturen einer möglichen «Übereinstimmung» der Erinnerungen andeutet.

Versöhnung ist natürlich ein Schlüsselbegriff im Diskurs über die Aufarbeitung von Konflikten – was oft als Übergangsjustiz bezeichnet wird. Man denke nur an die verschiedenen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in Südafrika und Lateinamerika, um nur einige zu nennen. In vielen, wenn nicht allen dieser Situationen besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Versöhnung, nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit und manchmal sogar nach Rache.

Versöhnung ist sicherlich ein Wert, den ich für Gesellschaften verstehen kann, die durch Gewalt zerrissen wurden, wie es in jenen Jahren in Frankreich und Algerien der Fall war, aber ich persönlich halte sie für eine Hoffnung für die Zukunft, die erst nach der Erlangung einer gewissen Art von Gerechtigkeit entstehen kann. Der Verzicht auf Gerechtigkeit im Interesse einer verfrühten Versöhnung ist in Übergangssituationen üblich, kann aber leicht dazu führen, dass die Ungerechtigkeit in der Zeit nach dem Konflikt fortbesteht, wie das Beispiel Südafrika deutlich zeigt.

Was die Ereignisse des 17. Oktober 1961 betrifft, so kann ich nicht genau sagen, wie Gerechtigkeit oder Versöhnung aussehen sollten. Zumindest im Bereich der Erinnerung werden die Forderungen der Gerechtigkeit – und die Möglichkeiten der Versöhnung – eine gründlichere Vergangenheitsaufarbeitung erfordern, als sie bisher stattgefunden hat. Das ist eine Lektion, die Frankreich von Deutschland lernen könnte. Aber diese Aufarbeitung, so habe ich versucht vorzuschlagen, sollte als multidirektional konzipiert werden, da das Ereignis durch die Figur des Papon koloniale Gewalt und den Holocaust miteinander verknüpft – und das ist eine Lektion, die Deutschland von dieser französisch-algerischen Geschichte lernen könnte.