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Die NATO ruft mit ihrem Strategischen Konzept endgültig die globale Großkonkurrenz aus

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26. Juni 2022, Madrid, Spanien: Demonstration gegen die NATO auf der Plaza de Cibeles in Madrid.
Im Juni 2022 war Madrid der Veranstaltungsort des NATO-Gipfels. Viele Menschen aus ganz Spanien und Europa reisten an, um an der Demonstration teilzunehmen. 26. Juni 2022, Madrid, Spanien: Demonstration gegen die NATO auf der Plaza de Cibeles in Madrid, IMAGO / ZUMA Wire

Es lässt sich wohl mit Fug und Recht sagen, dass die NATO mit der Verabschiedung ihres neuen Strategischen Konzeptes auf dem Madrider Gipfeltreffen Ende Juni 2022 endgültig die «Ära der Konkurrenz großer Mächte» (Ursula v.d. Leyen) ausgerufen hat. Während Russland im bis dato gültigen Konzept aus dem Jahr 2010 noch überwiegend in einem positiven Licht erschien und von China gleich überhaupt keine Rede war, hat sich der Wind schon seit einigen Jahren spürbar gedreht. Das nun verabschiedete Strategische Konzept stellt somit den vorläufigen Höhepunkt sich bereits seit Längerem abzeichnender Entwicklungen dar. Seit Jahren wird immer eindringlicher vor der Gefahr gewarnt, dass es zu einem Krieg zwischen den Großmächten, der NATO auf der einen und Russland und/oder China auf der anderen Seite kommen könnte – nach der Lektüre des neuen NATO-Konzeptes sollte allen klar sein, dass es sich hierbei keineswegs um Panikmache handelt. Besonders beunruhigend ist dabei vor allem die darin vorgenommene regionale wie funktionale Entgrenzung der besagten Großmachtkonkurrenz, ohne gleichzeitig irgendwelche Wege aufzuzeigen, wie aus der immer gefährlicher werdenden Krise wieder herausgekommen werden kann.

Großmachtkonkurrenz ...

Die Vorarbeiten für das neue Strategische Konzept begannen spätestens als es im November 2019 im Bündnis zwischen dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump und den europäischen Verbündeten, insbesondere mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der die NATO für «Hirntod» erklärt hatte, zu erheblichen Spannungen gekommen war. Daraufhin beauftragte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg eine zehnköpfige Expertengruppe unter Co-Vorsitz des ehemaligen Verteidigungsministers Thomas de Maizière damit, Eckpunkte für eine Revitalisierung des Bündnisses und ein künftiges Strategisches Konzept zu erarbeiten.

Jürgen Wagner, Politikwissenschaftler und Historiker, ist geschäftsführendes Mitglied der Tübinger Informationsstelle für Militarisierung (IMI) e.V.

Der von dieser Gruppe im November 2020 im Konsens verabschiedete Bericht «NATO 2030« kam dann auch mit der Kernaussage daher, das Bündnis müsse seine Position gegenüber Russland und nun auch China grundlegend ändern: «Die NATO muss ihr Strategisches Konzept von 2010 erneuern. […] Die NATO muss sich an die Erfordernisse herausfordernderer strategischer Rahmenbedingungen anpassen, die durch die Rückkehr systemischer Rivalitäten, einem unablässig aggressiven Russland, den Aufstieg Chinas und die wachsende Bedeutung neuer Technologien geprägt werden.» Dementsprechend wurde bereits in der Erklärung des letztjährigen NATO-Gipfels im Juni 2021 der Ton gegenüber Russland und China verschärft, was nun also auch im ranghöchsten Strategiedokument der Allianz aufgegriffen wurde.

Es gehört seit eh und je zum «guten» Ton in Strategiedokumenten, ökonomisch-machtpolitische Konflikte als Auseinandersetzungen zwischen «gut» und «böse» zu beschreiben – das neue Konzept der NATO macht hier keine Ausnahme: «Autoritäre Akteure stellen unsere Interessen, unsere Werte und unsere demokratische Lebensweise infrage. […] Diese Akteure stehen ebenfalls an vorderster Front der Anstrengungen, multilaterale Normen und Institutionen vorsätzlich zu untergraben und autoritäre Regierungsmodelle zu fördern» (Ziffer 7) Wer im Strategischen Konzept gleich im nächsten Absatz als Hauptgegner identifiziert wird, dürfte nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht weiter überraschen: «Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum.» (Ziffer 8) Wie bereits angedeutet, wird nun erstmals auch China im Strategischen Konzept prominent als ernste Bedrohung der Allianz ausgewiesen. Das Land sei eine «Herausforderung» und es strebe danach, «die regelbasierte internationale Ordnung zu untergraben». (Ziffer 13)

… auf allen Ebenen …

Sorgen macht, wie gesagt, die inzwischen völlige geografische wie auch funktionale Entgrenzung der neuen Großmachtkonkurrenz, die aus Sicht der NATO mittlerweile tatsächlich auf allen erdenklichen Ebenen ausgetragen wird.  

Räumlich werden etwa die «Westbalkanstaaten und der Schwarzmeerraum» genannt, die von «strategischer Bedeutung» seien und «gegenüber böswilliger Einmischung und Zwang seitens Dritter» unterstützt werden müssten (Ziffer 45). Als weitere Regionen von «strategischem Interesse für das Bündnis» führt das Konzept auch den «Nahen Osten» sowie «Nordafrika» und die «Sahel-Region» auf. Dortige Konflikte könnten ein Einfallstor für Einflussgewinne der erklärten Gegner Russland und China sein, wird gewarnt: «Die südliche Nachbarschaft der NATO, insbesondere der Nahe Osten, Nordafrika und die Sahelregion, stehen Herausforderungen in den Bereichen Sicherheit, Demografie, Wirtschaft und Politik gegenüber, die sich gegenseitig bedingen. Diese werden durch die Auswirkungen des Klimawandels, schwache Institutionen, gesundheitliche Notlagen und Ernährungsunsicherheit noch verschlimmert. Diese Situation bildet einen fruchtbaren Boden für die Ausbreitung nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen einschließlich Terrororganisationen. Sie macht es darüber hinaus möglich, dass sich strategische Wettbewerber destabilisierend und mit Zwangsmaßnahmen einmischen können.» (Ziffer 11)

Die erstmalige Erwähnung einer weiteren Region in einem Strategischen Konzept der NATO kann sich nur gegen ein anderes Land richten: «Der indopazifische Raum ist für die NATO wichtig, da Entwicklungen in dieser Region unmittelbare Auswirkungen auf die euro-atlantische Sicherheit haben können. Wir werden den Dialog und die Zusammenarbeit mit neuen und bestehenden Partnern im indopazifischen Raum stärken, um regionenübergreifende Herausforderungen
anzugehen und gemeinsame sicherheitspolitische Interessen zu verfolgen.» (Ziffer 45)

Darüber hinaus werden auch sogenannte «hybride Bedrohungen» im «politischen, wirtschaftlichen, Energie- und Informationsbereich» genannt, die eigentlich unterhalb der Schwelle eines klassischen Krieges liegen. Aus Sicht der NATO könnten «Hybride Operationen» jedoch ebenso «schwerwiegend wie ein bewaffneter Angriff sein» und dazu führen, «dass der Nordatlantikrat Artikel 5 des Nordatlantikvertrags ausruft.» (Ziffer 27) Ferner gelte es den «Zugang zum Weltraum» (Ziffer16) und die Fähigkeit im «Cyberraum wirksam zu operieren» (Ziffer 24) zu gewährleisten.

… mit konkreten Kriegsvorbereitungen …

Jahrelang bestimmten Fragen, wie Militäreinsätze gegen kleine oder allenfalls mittlere Gegner gewonnen werden können, die Planungen der NATO – dies ist schon länger nicht mehr der Fall, wie nun auch im wichtigsten Dokument der Allianz bestätigt wird: «Wir werden einzeln und kollektiv das volle Spektrum an Streitkräften, Fähigkeiten, Plänen, Ressourcen, Mitteln und Infrastruktur liefern, das zur Abschreckung und Verteidigung benötigt wird, und zwar auch für hochintensive dimensionsübergreifende Kriegsführung gegen gleichwertige Wettbewerber, die Kernwaffen besitzen.» (Ziffer 22)

Abseits der zwar nüchternen, nichtsdestotrotz aber überaus Besorgnis erregenden Feststellung, dass sich die NATO nun auf Großmachtkriege vorbereitet, ist hier vor allem der Plural «interessant», der nahelegt, dass in dieser Passage nicht nur Russland, sondern auch China gemeint ist. Gleichzeitig betont das Konzept den Anspruch, gegenüber diesen Gegnern eine militärische Überlegenheit zu erlangen, indem in neue Technologien investiert wird: «Aufstrebende und disruptive Technologien bergen sowohl Chancen als auch Risiken. Sie verändern das Wesen von Konflikten, gewinnen größere strategische Bedeutung und werden zu maßgeblichen Schauplätzen des weltweiten Wettbewerbs. Der [sic!] technologische Vorherrschaft bestimmt zunehmend den Erfolg auf dem Schlachtfeld.» (Ziffer 17)

Trotz seiner begrenzten Eigenmittel dient in diesem Zusammenhang vor allem das Sicherheits- und Investitionsprogramm (NATO Security Investment Programme, NSIP), dessen Budget, bei einem deutschen Anteil von rund 16,3 Prozent, im Zuge des NATO-Gipfels deutlich erhöht wurde, schreibt die Wirtschaftswoche: «Den Angaben zufolge soll der zivile und der militärische Haushalt von 2023 an jährlich um je 10 Prozent erhöht werden, der für das Sicherheits- und Investitionsprogramm NSIP sogar um 25 Prozent. Für die Periode von 2023 bis 2030 würden Nato-Berechnungen zufolge dann knapp 45 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Ohne die Erhöhung wären es nur um die 20 Milliarden Euro gewesen.»

Die Sicherstellung technologischer Überlegenheit ist aber vor allem Sache der Einzelstaaten und sie erfordert von ihnen erhebliche Investitionen, woran auch das NATO-Konzept erinnert. Pünktlich kurz vor Gipfelbeginn hatte die NATO neue Zahlen zu den Militärausgaben ihrer Mitgliedsstaaten veröffentlicht, die von 895 Mrd. Dollar (2015) auf 1190 Mrd. Dollar (2022) deutlich gestiegen sind. Dennoch gelte es hier weiter aufzusatteln, man müsse «sicherstellen, dass unsere Nationen die Verpflichtungen im Rahmen der Zusage zu Investitionen im Verteidigungsbereich (Defence Investment Pledge) vollständig erfüllen, sodass das gesamte Spektrum an benötigten Fähigkeiten bereitgestellt werden kann.» (Ziffer 48) Zum Vergleich, die aktuelle Military Balance weist für China Militärausgaben von 207 Mrd. Dollar (2021) und für Russland von 62 Mrd. Dollar (2021) aus.

… gegen China …

Unmissverständlich wird im Konzept zudem betont, dass nukleare Abrüstung zwar wünschenswert wäre, an sie aber auf absehbare Zeit nicht zu denken sei. Schließlich seien die «strategischen nuklearen Kräfte des Bündnisses», vor allem der USA, mit Abstrichen aber auch die Großbritanniens und Frankreichs, «der oberste Garant für die Sicherheit des Bündnisses.» (Ziffer 29) Und aus diesem Grund wird auch unmissverständlich an der Nuklearen Teilhabe festgehalten, bei der in fünf europäischen NATO-Ländern, darunter auch Deutschland, US-Atomwaffen lagern und im Ernstfall von lokalen Pilot*innen ins Ziel geflogen würden. Zwischenzeitlich war die Nukleare Teilhabe in Deutschland durchaus sehr umstritten – und auch wenn die kritischen Stimmen spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine weitgehend verstummt sind, betont das Konzept noch einmal zur Sicherheit: «Die nationalen Beiträge an Flugzeugen mit dualer Einsatzfähigkeit für den NATO-Auftrag der nuklearen Abschreckung bleiben bei dieser Anstrengung von zentraler Bedeutung.» (Ziffer 29) Ferner wird auf der einen Seite beklagt, die «Russische Föderation modernisiert ihre nuklearen Kräfte» (Ziffer 8). Geflissentlich unter den Tisch fällt aber, dass auch die USA derzeit die in Europa lagernden Atomwaffen auf den Typ B61-12 «modernisieren» und sie damit treffsicherer und durchschlagsfähiger – kurz: gefährlicher – machen.

Diese NATO-Schieflage hat durchaus Methode: «Die Volksrepublik China erweitert ihre Kernwaffenbestände rapide und entwickelt immer fortschrittlichere Trägersysteme, ohne dabei die Transparenz zu erhöhen oder sich in gutem Glauben auf Rüstungskontrolle und Risikominderung einzulassen.» (Ziffer 18) Auch hier wird natürlich mit keinem Wort erwähnt, dass die USA ihr strategisches Nuklearwaffenarsenal derzeit mit denselben Zielen wie die taktischen in Europa lagernden Waffen «modernisieren» – und zwar für eine Summe von über 630 Mrd. Dollar in den kommen Jahren. Es spricht einiges für die Annahme, dass der Ausbau des chinesischen Atomwaffenarsenals eine Reaktion auf diese US-Maßnahmen darstellt, da ansonsten Pekings Zweitschlagfähigkeit zunehmend in Frage stehen würde (siehe IMI-Standpunkt 2022/002).

Weiter werde die NATO dafür Sorge tragen, den von China ausgehenden «systemischen Herausforderungen» zu begegnen. Was darunter genau zu verstehen ist, bleibt allerdings reichlich vage. Lediglich an einer Stelle wird das Konzept etwas konkreter: «Wir werden für unsere gemeinsamen Werte und die regelbasierte internationale Ordnung einschließlich der Freiheit der Schifffahrt eintreten.» (Ziffer 14) Hier geht es um überaus brisante Gebietsstreitigkeiten insbesondere im Südchinesischen Meer, wo China auf eine Reihe von Inseln und damit faktisch auch auf die Durchfahrtsrechte in der Region Anspruch erhebt. Der Westen lehnt diese Ansprüche unter Verweis auf das Seerechtsübereinkommen ab und verleiht seiner Rechtsauffassung durch immer häufigere Manöver zur Freiheit der Schifffahrt (Freedom of Navigation Operations, FONOPs) Nachdruck.

Diese FONOPS sind hochriskant, die Gefahr von Zusammenstößen und daraus resultierenden Eskalationsspiralen ist erheblich. Schon vor einiger Zeit warnte die Stiftung Wissenschaft und Politik: «Solche Fahrten bergen allerdings immer die Gefahr einer Gegenreaktion und können Anlass für Zwischenfälle auf See und in der Luft sein. […] Die durch amerikanische Schiffe seit Jahrzehnten regelmäßig durchgeführten ‹Freedom of Navigation›-Einsätze haben vor allem in den letzten Jahren im Zeichen sich anbahnender Großmachtrivalitäten im Indo-Pazifik den Beigeschmack amerikanischer Machtprojektion gegenüber China bekommen.»

Aus chinesischer Sicht überdehnen die westlichen Staaten das, was unter der Freiheit der Schiffahrt verstanden werden kann, mit ihren Militärmanövern erheblich. Deshalb handelt es sich bei derlei Übungen um ein Spiel mit dem Feuer, da China mit Maßnahmen reagiert, die das Risiko weiter erhöhen, warnt etwa der US-Politikprofessor Michael Klare: «Auf derart provozierende Manöver der US-Marine antwortet das chinesische Militär, die Volksbefreiungsarmee (PLA), in der Regel herausfordernd mit eigenen Schiffen und Flugzeugen. […] Häufig entsendet die chinesische Seite ein oder mehrere eigene Schiffe, die das amerikanische Schiff – um die Sache so höflich wie möglich zu gestalten – aus dem Gebiet herauseskortieren. Diese Begegnungen haben sich manchmal als äußerst gefährlich erwiesen, insbesondere wenn die Schiffe nahe genug aneinander gerieten, als dass es zu einem Kollisionsrisiko kam.»

Es ist unklar, ob FONOPs künftig nicht nur von diversen Einzelstaaten, sondern auch unter dem offiziellen Dach der NATO durchgeführt werden sollen – beunruhigend ist jedenfalls, dass etwa die folgende Passage im Strategischen Konzept dies durchaus nahelegen könnte: «Die maritime Sicherheit ist für unseren Frieden und unseren Wohlstand von entscheidender Bedeutung. Wir werden unser Dispositiv und unser Lagebild ausbauen, um gegen alle Bedrohungen in der Dimension See Abschreckungs- und Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen, die Freiheit der Schifffahrt zu wahren, Seehandelswege zu sichern und unsere Hauptverbindungsrouten zu schützen.» (Ziffer 23

Schon im Vorwort des Strategischen Konzeptes verdeutlicht die NATO, sie verstehe sich als «Bollwerk der regelbasierten internationalen Ordnung», die sie mit Klauen und Zähnen zu verteidigen gedenke. Es hat aber einen überaus faden Beigeschmack, wenn sich westliche Staaten – und nun womöglich auch die NATO als Ganzes – auf die Fahnen schreiben, mit ihren Manövern dem Seerechtsübereinkommen und damit der regelbasierten Ordnung Geltung zu verschaffen.

Schließlich hat der Hauptakteur USA besagtes Abkommen bis heute nicht einmal ratifiziert, weil es der Durchsetzung von US-Interessen in anderen Weltgegenden im Wege steht. Und der diesbezüglich zweitumtriebigste westliche Staat, Großbritannien, verletzt – u.a. mit Unterstützung der USA und Deutschlands – zum Beispiel auf eklatante Weise die viel beschworene regelbasierte Ordnung, indem er sich weigert einen Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofs (IGH) umzusetzen, der das Land auffordert, die Chagos-Inseln, wo sich auch die für die Machtprojektion in den indo-Pazifik zentrale Militärbasis Diego Garcia befindet, an Mauritius zurückzugeben.

... als Bollwerk gegen Machtverschiebungen!

Bereits unter US-Präsident Barack Obama gab es Überlegungen, die NATO zu einer Art «Allianz der Demokratien» auszubauen. Auch im aktuellen Konzept finden sich Sätze, die in eine solche Richtung deuten: «Wir werden unsere Beziehungen zu Partnern intensivieren, die die Werte des Bündnisses teilen und wie das Bündnis ein Interesse daran haben, die regelbasierte internationale Ordnung zu wahren.» (Ziffer 44) Als mögliche Kandidaten werden hier immer wieder Länder wie Japan, Australien oder auch Süd-Korea gehandelt. Doch es zeigt sich immer deutlicher, dass sich mehr und mehr Länder dem «Bollwerk der regelbasierten internationalen Ordnung» nicht anschließen möchten. Zuletzt wurde dies beim kurz vor dem NATO-Gipfel erfolgten G7-Treffen in Elmau offensichtlich, als Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika dem Westen mehr oder minder offen die Gefolgschaft verweigerten.

Triebfeder der neuen Großmachtkonkurrenz sind die dramatischen Machtverschiebungen im internationalen System: Während der kaufkraftbereinigte Anteil Chinas am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut Statista von 2,27 Prozent (1980) auf 18,56 Prozent (2020) in die Höhe schnellte, schrumpfte der US-Anteil am BIP-Kuchen von 21,41 Prozent (1980) auf 15,98 Prozent (2020). Noch ausgeprägter fiel der Rückgang bei der Europäischen Union aus, die von 26,02 Prozent (1980) auf 14,90 Prozent (2020) abstürzte.

Vor diesem Hintergrund fordern die Aufsteiger – und hier eben am lautesten China – mehr Mitspracherechte, die ihnen aber vom Westen versagt bleiben. Er pocht weiterhin auf eine «regelbasierte Ordnung», in der der Westen bestimmt, wie diese Regeln auszusehen haben und vor allem, wer sie ungestraft brechen darf und wer eben nicht. Dies entspricht aber schlicht nicht mehr den machtpolitischen Realitäten – und wenn die NATO nun in ihrem Strategischen Konzept die «immer enger werdende strategische Partnerschaft zwischen der Volksrepublik China und der Russischen Föderation» beklagt und deren sich «gegenseitig verstärkende[n] Versuche, die regelbasierte internationale Ordnung zu unterhöhlen», so hat sie sich diese Entwicklung zu einem guten Stück auch selbst zuzuschreiben. (Ziffer 13)

Es gibt in diesem Ringen um Macht und Einfluss keine guten Akteure, nicht der Westen, nicht die NATO und auch nicht Deutschland – aber sicher auch nicht Russland und China. Es gibt aber völlig berechtigte Forderungen an die Bundesregierung, dass alles dafür getan wird, dass die Großmachtkonflikte nicht immer weiter außer Kontrolle geraten. Bisher hat sie dabei wie auch die NATO als Ganzes vollständig versagt und das neue Strategische Konzept gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. So ist im Strategischen Konzept viel darüber zu lesen, wie sich die NATO für die globale Großmachtkonkurrenz zu rüsten gedenkt – wie sie aus ihr herauskommen möchte, bleibt aber leider völlig im Dunkeln.