Nachricht | Krieg / Frieden - Westasien - Ernährungssouveränität Westasien vor einer Versorgungskrise

Auswirkungen von Knappheit und steigenden Preisen für Lebensmittel durch Russlands Krieg in der Ukraine

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Auf einem Verkaufstresen liegen in Plastiktüten verpackte Fladenbrote. Vor dem Tresen steht eine lange Schlange Menschen bis zur Tür an.
In einer Bäckerei in Beirut stehen Menschen in einer langen Schlage für Brot an. Der Einmarsch Russlands in der Ukraine bedroht die weltweite Versorgung mit Weizen und anderen landwirtschaftlichen Produkten – ein großes Problem auch für viele Länder Westasiens, in denen Brot ein wichtiges Grundnahrungsmittel ist. (Foto vom April 2022) Foto: IMAGO / NurPhoto

Die russische Invasion in der Ukraine hat zu heftigen Turbulenzen auf dem Weltagrarmarkt geführt. Fast ein Drittel des weltweiten Exports von Weizen und Gerste und mehr als 70 Prozent des Sonnenblumenöls stammen aus Russland und der Ukraine. Zudem ist Russland international der führende Exporteur von Düngemitteln.

In Westasien sind vom Krieg in der Ukraine daher vor allem jene Länder betroffen, die in besonderem Maß auf ukrainische und russische Getreideimporte angewiesen sind. Hier besteht aufgrund unterbrochener Lieferketten sowie explodierender Preise für Energie und Lebensmittel unmittelbar die Gefahr einer Krise der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Alle Länder der Region verzeichneten einen massiven Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel. Den stärksten Anstieg gab es im Libanon (75-100 Prozent), gefolgt von Iran und Jemen (50-75 Prozent Anstieg). In den anderen Ländern stiegen die Preise um 25-50 Prozent. Insgesamt wird bis Ende 2022 eine Fortsetzung dieses Trends erwartet, mit einem Preisanstieg von 25-50 Prozent.

Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler und arbeitet als Übersetzer und Journalist. Er publiziert hauptsächlich zu Themen Westasiens und Nordafrikas und zur US-amerikanischen Außenpolitik.

Ernährungsunsicherheit und ihre Ursachen

In Syrien waren nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) bereits vor dem Krieg in der Ukraine 12,4 Millionen Menschen, das entspricht 60 Prozent der Bevölkerung, von Ernährungsunsicherheit betroffen, das heißt, die Durchschnittslöhne reichten nicht aus, um die monatlichen Kosten für Grundnahrungsmittel wie Brot, Reis, Linsen, Öl und Zucker zu decken. Besonders dramatisch ist die Situation im Nordwesten Syriens. In der von oppositionellen Kräften gehaltenen Enklave lebt ein großer Teil der Bevölkerung in überfüllten Lagern für Binnenvertriebene. Hier sind mehr als 4,1 Millionen Menschen (Stand: Februar 2022) auf humanitäre Hilfe angewiesen, die aus der Türkei über den Grenzübergang Bab al Hawa nach Syrien gelangt. Insbesondere in den von der Dschihadisten-Miliz Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) kontrollierten Gebieten werden aber Getreide/Mehl und andere Lebensmittel auch unmittelbar aus der Türkei importiert. Allerdings hängt die Türkei selbst von Lebensmittelimporten aus der Ukraine und Russland ab. 69, 7 Prozent der türkischen Importe von Sonnenblumenöl und 78 Prozent der Importe von Weizen stammen aus den beiden Ländern. Verschärft wird die Situation durch den Verfall der türkischen Lira, die im Juni 2020 als Zahlungsmittel in Nordwesten Syriens eingeführt wurde.

Auch im Jemen hat die Dynamik des Krieges eine bereits bestehende Versorgungskrise weiter verschärft. Weizen ist (nach Treibstoff) das zweitwichtigste Importgut des Landes, und die Hälfte aller Weizenimporte stammt aus der Ukraine und Russland. Hinzu kommt eine massive Abwertung des Jemen-Rial, was Importe verteuert und die Einkommen der Haushalte weiter verringert.

Der Libanon bezieht etwa 60 Prozent seiner Weizenimporte aus der Ukraine. Zudem wurden bei der Explosion am Beiruter Hafen vor zwei Jahren die größten Getreidesilos des Landes zerstört. Es gibt nun kaum noch Möglichkeiten Weizen zu lagern, und die Reserven reichen für maximal einen Monat. In dieser Situation erklärte Libanons geschäftsführender Wirtschaftsminister Amin Salam Ende Juli, dass die bestehenden Weizensubventionen beibehalten werden sollten. Das Land könne aus sozialer Sicht eine Aufhebung der Subventionen nicht verkraften. Die Situation wurde in den letzten Monaten zudem durch bürokratische Probleme verschärft. So verzögerte die libanesische Zentralbank im März die Eröffnung einer Kreditlinie für den Import von Weizen, da zwar ein Kabinettsbeschluss über die Gewährung des Kredits, aber kein Dekret für den Umtausch von libanesischen Pfund in US-Dollar vorlag. Zur Vermeidung weiterer Engpässe war der Libanon daher gezwungen, bei der Weltbank ein Darlehen in Höhe von 150 Mio. US-Dollar für die Lieferung von Weizen für sechs Monate aufzunehmen.

Die aktuellen Entwicklungen rund um steigende Weizenpreise und Ernährungsunsicherheit verweisen jedoch auch auf eine strukturelle Problematik in der Region. So haben viele Länder Westasiens (und Nordafrikas) seit den 1980er Jahren ihre zuvor betriebene Politik der Selbstversorgung mit landwirtschaftlichen Produkten und staatlichen Subventionierungen des Agrarsektors zugunsten einer zunehmenden Orientierung auf den Weltmarkt aufgegeben. Diese bisweilen unter dem Label infitah (Öffnung) betriebene neoliberale Politik verschlechterte dramatisch die Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung in der Region. Viele Kleinbauern konnten mit den Billigimporten aus der industrialisierten Landwirtschaft nicht konkurrieren und waren gezwungen, ihre Anbauflächen aufzugeben. Die Landflucht führte zum Anwachsen des informellen Sektors und zur schnellen und unkontrollierten Ausdehnung von Siedlungen an der Peripherie der Großstädte. In der Folgezeit schlugen internationale Preissteigerungen aufgrund der zunehmenden Abhängigkeit von den Weltmärkten schnell auf die Binnenmärkte der Region durch. Trotz fortgesetzter staatlicher Subventionen für einige Grundnahrungsmittel kam es daher seit den 1980er Jahren immer wieder zu sogenannten «Brotaufständen».

Neue Revolten?

Bereits Anfang März demonstrierten mehrere hundert Menschen in der südirakischen Stadt Nasiriyah gegen explodierende Preise bei Mehl und Speiseöl. Die Stadt war schon 2019 ein Zentrum von Protesten gegen Korruption. Die Behörden reagierten mit einer Mischung aus Härte und Konzessionen: Demonstrant*innen wurden verhaftet, aber es wurden auch Zuschüsse und eine Senkung von Zöllen auf Grundnahrungsmittel zugesagt.

Zu Protesten kam es Mitte Mai auch im Iran, nachdem die Regierung von Präsident Raisi die Subventionen für den Import von Weizen gekürzt hatte, was zu einer weiteren Erhöhung der Lebensmittelpreise führte. Die Regierung kündigte als Sofortmaßnahme die Einführung von Notsubventionen an, wobei unklar ist, wie diese angesichts eines massiven Haushaltsdefizits finanziert werden sollen.

Auch wenn es keinen simplen «Automatismus» zwischen einer weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Ländern Westasiens und der Entstehung von Revolten und Widerstandsbewegungen gibt, könnten auch die Auswirkungen des russischen Kriegs gegen die Ukraine als Katalysator wirken. Bereits in den Demokratiebewegungen des sogenannten «arabischen Frühlings» ab 2010-2011 war es die Verbindung einer tiefen Frustration über die sozioökonomische Situation mit Forderungen nach politischer Freiheit und Reformen, die die Menschen auf die Straße gehen ließ. Wut und Enttäuschung sind seither nicht geringer geworden, denn die alten Strukturen bestehen weiterhin. Zugleich allerdings herrscht in allen Ländern Westasiens eine massive politische Repression, die in den letzten Jahren oftmals sogar verstärkt wurde. Im Augenblick ist die Situation widersprüchlich. Die Versorgungskrise trifft die meisten Länder der Region auf ähnliche Weise mit großer Härte, vor allem die ärmeren Teile der Bevölkerung. Dennoch sind die Proteste bisher lokal begrenzt. Damit es gelingt, diese Proteste – wie 2010-2011 – in einer die gesamte Region oder zumindest größere Teile von ihr umfassenden Bewegung miteinander zu vernetzen, bedarf es einer umfassenden Organisierung von unten. Es braucht aber auch verbindende politische Forderungen, die über den unerträglichen Status quo hinausweisen und in der Lage sind, in großem Maßstab zu mobilisieren. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise könnte dabei das Konzept der Ernährungssouveränität eine bedeutende Rolle spielen. Dieses Konzept bündelt eine Reihe von Forderungen: Förderung lokaler Produktion und Belieferung lokaler Märkte statt Abhängigkeit von internationalen Agrarkonzernen und Produktion von Cash Crops, menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen für Lebensmittelproduzent*innen statt Verdrängung in den informellen Sektor, Berücksichtigung ökologischer Aspekte durch Regulierung der Beziehung zwischen Landwirt*innen und natürlichen Ressourcen. Das Konzept der Ernährungssouveränität wendet sich damit unmittelbar gegen die neoliberalen Umstrukturierungen der letzten Jahrzehnte und setzt konsequent die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung und den Schutz der Umwelt über das Streben nach Profit und Macht.

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